Infantile Jugend: Teenager, die ewigen Babys?

„Die Jugendlichen, die heute in meine Praxis kommen, sehen aus wie Teenager, haben aber emotional und sozial den Reifegrad eines sechzehn Monate alten Kleinkinds. Die glauben, dass sie alles und jeden steuern können, und leben rein lustorientiert. Sie stellen sich auf niemand anderen ein, sondern erwarten, dass man sich auf sie einstellt“, sagt der deutsche Humanmediziner und Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Wie kam es so weit? Und was sind die Konsequenzen für die Gesellschaft der Zukunft? Vor allem: Wie können wir gegensteuern?

Teenager, die für immer Kleinkind bleiben.

Dass zwischen Jung und Alt manchmal die Wogen hochgehen, ist nicht neu. Schon Sokrates soll sich über ihre schlechten Manieren, den mangelnden Respekt gegenüber Erwachsenen und ihre Faulheit im Arbeitsleben aufgeregt haben. Schaut man, was diesbezüglich heute in den Medien geschrieben steht, hat sich offenbar seit der Antike nichts geändert. – Tatsächlich? Noch nie wurden so viele Kinder bereits in der Primarschule zur Therapie geschickt wie heute, noch nie bekamen so viele Kinder Psychopharmaka verabreicht, um ihren Alltag bewältigen zu können. Immer mehr Jugendliche gelten nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit als nicht ausbildungsreif und finden keine Arbeit. So zeigte der Berufsbildungsbericht der deutschen Bundesregierung bereits 2010, dass rund jeder zweite Jugendliche arbeitsunfähig ist. Und von Maturanden und Studierenden heißt es mittlerweile, sie beherrschten die einfachsten Regeln des menschlichen Miteinanders nicht mehr und ihre Rechtschreibung sei miserabel. Diesen Befunden liegt wohl mehr zugrunde als ein bloßer Generationenkonflikt. Doch wer ist schuld an der Misere? Scheitern die Kinder an den hohen Anforderungen von Gesellschaft und Schule? Oder werden die Kinder einfach immer dümmer?

Teenager, die Kleinkinder bleiben

Die Kinder sind weder mit den Lerninhalten überfordert, noch sind sie auf den Kopf gefallen, sagt der deutsche Humanmediziner und Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Er warnt seit Jahren vor der sich anbahnenden Katastrophe einer Generation, die nur noch nach dem Lustprinzip funktioniert und den Anforderungen des Lebens weder intellektuell noch sozial gewachsen ist. Mit seinen Aussagen, die auf fast dreißigjähriger Praxis-erfahrung beruhen, hat er sich auch viel Kritik eingeheimst. Die Ursache für den massiven Anstieg an sprachlichen und motorischen Handicaps bereits in den Kindergärten, für Unruhe und Lernschwierigkeiten in der Schule und für den eklatanten Mangel an sogenannten „soft skills“ wie Umgangsformen, Sinn für Pünktlichkeit, Frustrationstoleranz, Arbeitshaltung oder dem Erkennen von Strukturen und Abläufen ortet Winterhoff bei einer Entwicklungsstörung im Bereich der Psyche. „Die Jugendlichen, die heute in meine Praxis kommen, sehen aus wie Teenager, haben aber emotional und sozial den Reifegrad eines sechzehn Monate alten Kleinkinds. Die glauben, dass sie alles und jeden steuern können und leben rein lustorientiert. Sie stellen sich auf niemand anderen ein, sondern erwarten, dass man sich auf sie einstellt“, sagt Winterhoff in einem Interview. Und: „Wenn wir eine Gesellschaft werden wollen mit Menschen, die als Erwachsene leben wie Kinder, also nur lustbetont und den Eltern auf der Tasche liegend, dann sind wir auf dem besten Weg. Wenn wir aber Menschen haben wollen, die Verantwortung für sich und andere übernehmen können, dann sollten wir dringend Gegensteuer geben.“ Diese Entwicklung umzukehren ist durchaus noch möglich. Denn die Kinder, um die es hier geht – und das sind mittlerweile rund siebzig Prozent der Kinder einer Grundschulklasse – sind nicht krank. Sie sind lediglich entwicklungsverzögert, oder anders gesagt, nicht ihrem Alter entsprechend gereift; doch sie können diesen Rückstand aufholen. Das klappt umso schneller, je jünger sie noch sind.

Aber wie kommt es, dass sich so viele Kinder psychisch nicht mehr weiterentwickeln? Um es gleich vorwegzunehmen: Schuld sind die Erwachsenen. Man kann sich die Entwicklung der menschlichen Psyche vorstellen wie eine Pyramide, die Stufe für Stufe erklommen werden muss. Der Schlüssel für das Erreichen jeder dieser Stufen heißt Beziehung. „Die emotionale und soziale Psyche als Voraussetzung, dass aus dem Kind als erwachsener Mensch ein selbstständig denkendes und frei agierendes soziales Wesen wird, kann sich nur am Gegenüber bilden, und zwar auf der Grundlage einer Beziehung.“ Damit ein Kind reifen und wachsen kann, braucht es ein erwachsenes Gegenüber, das es spiegelt und ihm Vorbild ist. Exakt da liegt der Hase im Pfeffer.

Die Leuchtstreifen-Frage

Beginnen wir bei den Eltern. Es ist nicht so, dass diese ihre Erziehungsaufgabe nicht ernst neh- men oder sich zu we-nig Zeit für ihre Kinder nehmen würden. Doch ist Erziehung heute geprägt von einer großen Verunsicherung. El-tern wollen auf keinen Fall einen Fehler machen. Man werfe in der Buchhandlung mal einen Blick auf das Regal mit der Ratgeberliteratur zum Thema Erziehung. Kinder sind wertvoller denn je, denn die meisten haben ja nur noch eins oder zwei. Also wollen wir sie besonders gut behandeln. Und begehen dabei einen fatalen Fauxpas. Zum einen sollen sich Kinder frei entfalten können. Freiheit, so der Tenor, ist grenzenlos. Wer dem entgegensetzt, dass sich Freiheit innerhalb sinnvoller Grenzen am besten entfalten könne, wird zum Ketzer. Dass es mit dem Setzen von Grenzen so eine Sache ist, wissen alle, die Kinder haben. Dass das Zusammenleben jedoch bedeutend einfacher funktioniert, wenn gewisse Regeln gelten, wissen aber auch alle. Das andere „böse“ Wort lautet Hierarchie. Man darf heutzutage kaum noch sagen, dass es im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen eine natürliche Hierarchie gibt. Also erziehen wir unsere Kinder partnerschaftlich.

Das kann Probleme geben, wie das folgende Beispiel zeigt: Kürzlich habe ich meinen jüngsten Sohn und seine Kindergartenfreunde in den Kindergarten begleitet. Nun war es so, dass einer seinen Leuchtstreifen zu Hause vergessen hatte und zurückging, um ihn zu holen. Wir anderen warteten. Ziemlich lange. Irgendwann kam der Junge angesprungen, er hätte den Streifen noch nicht gefunden, wir sollten doch schon einmal ein Stück vorgehen und weiter vorne warten. Und er rannte wieder nach Hause. Mittlerweile war es aber so spät geworden, dass ich die Kinder alleine losschickte, damit sie es noch pünktlich in den Kindergarten schafften, und mich meinerseits auf den Weg machte, um nachzuschauen, was denn mit dem anderen Jungen passiert war. Ich klingelte also an der Haustür. Der Junge öffnete, daneben stand sein Vater. Auf meine Frage, ob der Junge denn jetzt nicht mehr in den Kindergarten komme, antwortete der Vater, sie seien immer noch am Verhandeln. Seit ungefähr zwanzig Minuten. Ich bemerkte auf dem Boden einen anderen Leuchtstreifen und schlug vor, doch diesen zu nehmen. Nein, meinte der Vater, damit sei der Bub nicht einverstanden. Nun, wir haben es dann doch noch, mit Verspätung, in den Kindergarten ge­­­schafft. (Wo der Leuchtstreifen still am Haken hing.) Doch erhalte ich manchmal immer noch einen Anruf, mein Sohn solle doch schon einmal alleine losgehen, der Junge habe wieder einmal eine Krise …