'Schwierige' Kinder auf der Alm: Gras statt Drogen!

Was geschieht, wenn Hans-guck-in-die-Luft, der Zappelphilipp und Pippi Langstrumpf zusammen auf der Alm Ferien machen? – Manche sagen, ein kleines Wunder.

Auf dieser Alp fällt das Wort „Scheiße“ ziemlich häufig. Und das liegt nicht an den Kühen. Nein, diejenigen, die den Weg auf die Alp gefunden haben, wissen, wie es ist, wenn es einem dreckig geht. Es sind sogenannt „Schwierige“, solche, mit denen Eltern, Geschwister und Lehrer an die Grenzen kommen. Es sind solche, die rumzappeln oder aber viel zu langsam sind für diese schnelle Welt, es sind solche, die ganz vieles nicht vertragen oder zu viel Gewicht mit sich rumtragen. Es sind solche, die jeden Tag eine Tablette einwerfen, damit sie für ihre Umwelt überhaupt erträglich sind.

Hoch über dem Schweizer Diemtigtal im Berner Oberland liegt das „Allmetli“, ein Ort, wo im Sommer und Herbst Kinder physisch und psychisch gesunden können.

Und dann kommen sie auf die Alp und dort ist vieles erst einmal ganz anders. Kein TV und keine Games, kein Zucker und kein Brot, kein Strom. Dafür viel Grün und frische Luft, Gemüse und Früchte, Beeren und Nüsse, der weite Himmel und ein Trampolin. Und dann ist da noch Ursula, eine „55-jährige Junggebliebene“, die Kinder und ihre Eltern seit bald zwanzig Jahren durch solche erlebnisreiche Wochen hindurch begleitet und die keine Angst hat, auch nicht vor den Schwierigen, wie Philipp, der am ersten Tag in sein Tagebuch geschrieben hat: „Ich bin wütend, frustriert, enttäuscht. Ich möchte diese Scheißhütte anzünden und die andern Kinder einzeln erwürgen.“

Bei den Eltern ist das oft anders. Viele haben eine Odyssee durch Ämter und Arztpraxen hinter sich, haben schon Dutzende Male gehört, was sie alles falsch machen, und sie haben Angst. Angst um ihr Kind, was ihm alles geschehen könnte, Angst, dass man ihnen ihr Kind irgendwann doch noch wegnimmt, Angst vor ihrem Kind, weil es auch schon vorgekommen ist, dass es mit einem Messer auf die Eltern losgegangen ist. Die Alp ist oft ein letzter Versuch, der Strohhalm im sturmgepeitschten Ozean.

Packen wir’s an?

Die meisten Gäste sind zwischen sieben und dreizehn Jahre alt, denn spätestens in der Schule sind sie „aus dem Rahmen gefallen“. In der Regel kommen sie in den Schulferien in Begleitung der Eltern und bleiben erst mal rund 24 Stunden zur Beobachtung. In dieser Zeit schaut Ursula gut hin: Wie verhalten sich die Kids? Wie steht’s um ihre Frustrationstoleranz? Wie bewegen sie sich und wie atmen sie? Wie sieht’s aus mit Schlaf- und Essgewohnheiten? Wie kommuniziert die Familie unter sich? Da kommt dann bereits einiges ans Licht: „Die meisten Kinder, die hierher kommen, können nicht durch die Nase atmen, die müssen erst einmal richtig atmen lernen“, sagt Ursula. Da helfen dann beispielsweise rhythmische Übungen auf dem Trampolin, Spiel und Sport in der Morgensonne. Ein kinesiologischer Test hilft zu erkennen, welche Nahrungsmittel und Medikamente Probleme bereiten. Und dann wird nicht lange gefackelt, wer aufs „Allmetli" kommt, muss mit anpacken. Da erschrecken dann manchmal nicht nur die Kids, sondern auch die Eltern. Wie, ein „Ämtliplan“1 ? „Na ja“, antwortet dann Ursula, „ohne Holz gibt’s kein Feuer und ohne Feuer keine Suppe – und außerdem wollen wir schließlich etwas erreichen, oder? Also, packen wir’s an?“

Mitgegangen, mitgehangen

Oftmals geht es nicht „nur“ um das Kind, sondern ist die ganze Familie in die Probleme verstrickt. In vielen Familien ist Mediensucht oder Medikamentenmissbrauch ein Thema. Da gab es zum Beispiel einen Vater, dem verschrieb der Hausarzt gegen die hartnäckigen Verdauungsprobleme Psychopharmaka. Bald mochte der Vater nicht mehr ohne Medikamente sein. Weil seine Verdauung besser war, konnte er ohne Stress arbeiten und machte weniger Fehler. Mit den Nebenwirkungen wie Übergewicht oder sexueller Unlust arrangierte er sich. Das Kind nahm Concerta, litt an Appetitlosigkeit, magerte bis auf die Knochen ab, entwickelte viele Ticks und war oft depressiv. Wohnort und Schule wurden mehrmals gewechselt. Die Mutter resignierte nach mehreren Suizid-Androhungen des Mädchens und überließ das Mädchen immer öfter den Nachbarn. Bald griff sie selbst täglich zu Beruhigungspillen und Alkohol.

„Manche dieser Kinder sind tatsächlich kleine Psychoterroristen und verfügen über beeindruckende schauspielerische Fähigkeiten“, erklärt Ursula. Sie haben herausgefunden, dass ihr Verhalten Aufmerksamkeit provoziert und ihnen Macht gibt. Einige haben entdeckt, dass man einen anderen Menschen in Grund und Boden schreien kann, wenn man nur lange und laut genug rumbrüllt. Wenn die Nachbarn dann die Polizei oder die Kinderschutzbehörde einschalten, wird es dank zusätzlicher Aufmerksamkeit noch viel spannender für die Kinder. Ihre Eltern aber bringt das oft in Teufels Küche.

Ursula und ihre Helfer sind jedoch ein schlechtes Publikum. So erging es auch dem zwölfjährigen Xavier: „Ich probiere Lars und Koni zu überzeugen wegzulaufen. Sie sind schon zwei Wochen hier. Lars erzählt mir, er wollte das auch. Ursula hat gesagt, er soll nur alles packen und gehen. Einfach so. Es wäre ok! Da ging es Lars wie mir gestern mit der Umarmung. Er hatte ein Donner-Wätter-Komeedi2 erwartet und nichts passierte. Er wollte gar nicht mehr fort, als er wusste, er ist selbst verantwortlich und kann gehen.“ Oder Enrica, zehn Jahre alt, die sich auf ihrem Bett aus Wolldecken und einem Partytisch eine Hütte gebaut und in ihr Ferientagebuch geschrieben hatte: „Das Problem kommt sicher heute Abend und ich muss alles wieder wegräumen. Oh… ich ärgere mich jetzt schon. Ich werde so bockig sein wie zu Hause. 18.00 Uhr: Oh… Ursula hat meine Höhle gesehen und nur gefragt, ob ich denn so schlafen kann.“3

Auch ein großes Thema, das rund die Hälfte der Kinder, die auf die Alp in die Therapie kommen, betrifft, ist eine „grenzenlose“ Erziehung, die von den Kindern entweder gar keine Verantwortung verlangt oder aber eine Verantwortung, die sie nicht tragen können. So kann es schon mal vorkommen, dass Ursula einer Mutter ins Gewissen reden muss: „Weshalb soll Ihr Zweitklässler entscheiden, an welchem Wochenende man die Großmutter im Ausland besuchen geht oder welcher DVD-Player angeschafft werden soll? Er soll besser lernen, seine Legos wegzuräumen.“ Das Versorgerprogramm der Eltern ist eine Mischung aus Verwahrlosung und Verwöhnen und hat bei den Kindern oftmals zur Folge, dass sie respektlos und geradezu „mutter-“ beziehungsweise „vatertaub“ werden – also nur das hören, was sie hören wollen.

Zum Alltag auf dem Allmetli gehört es deshalb, Leitplanken für die ganze Familie zu setzen und Spielregeln zu definieren. Das sind mitunter ganz simple Dinge wie eine minimale Mittagsruhe von einer halben Stunde einzuhalten und sich während dieser Zeit ruhig mit einem Buch zu beschäftigen, zu schlafen oder einen Spaziergang zu machen. Und alle haben ihren Job: Treppe putzen, Kompost rausbringen, den Brunnen reinigen, Holz holen, Grassaft machen oder im Greenhouse helfen und so weiter. In der Regel lernen die Kinder schnell dazu und machen dann gerne mit. So Philipp: „Ich mache Kleinholz und morgen bin ich der Wassermann. Das ist sehr wichtig! Ich freue mich.“

Ursula arbeitet nach den Grundlagen der Individualpsychologie, die besagen, „dass sich jeder Mensch als nützlich erleben will auf Erden“. So genießen die Kinder Anerkennung nach guten Tagen. Es stärkt ihr oft kaum vorhandenes Selbstvertrauen. „Anerkennung kennen diese Kinder meist gar nicht“, erklärt Ursula. „Sie sind immer nur die Bösen und werden getadelt.“ Nach den ersten Trainingstagen gehen die Eltern nach Hause. Die Kinder bleiben dann zwischen zehn Tagen und maximal drei Wochen zum Üben.

Quellenangaben

  • 1 "Ämtliplan" ist Schweizerdeutsch für "Plan der kleinen Pflichten".
  • 2 Schweizerdeutsch. Bedeutet so viel wie "Schimpftirade".
  • 3 Ungekürzte Ferientagebücher findet man im Internet unter: www. allmetli.ch