Die Geopolitik des neuen Kalten Krieges

Die von den USA geplante Raketenabwehr in Europa dient nicht dem Schutz vor Schurkenstaaten und Terroristen. Amerika strebt damit die atomare Vorherrschaft an, welche es Washington ermöglichen würde, der ganzen Welt seinen Willen aufzuzwingen. Doch Russland will dies nicht hinnehmen und rüstet auf.

Diesen Frühling kündigte die Regierung in Washington an, in Polen und Tschechien Abwehrraketen und ein ausgeklügeltes Radarsystem installieren zu wollen. Der Druck, die Ukraine in die NATO zu locken, wurde verstärkt und das Beitrittsgesuch Georgiens zur NATO beschleunigt behandelt. 

US-Präsident Bush in Heiligendamm: „Diese Raketenabwehr ist nicht gegen Rußland gerichtet.“

Anfang Mai räumte auch die georgische Regierung ein, man ziehe in Betracht, ebenfalls amerikanische Abwehrraketen stationieren zu lassen. Der Leiter der amerikanischen Raketenabwehrbehörde, Generalleutnant Henry Obering, erklärte, Washington suche nach einem Land im Kaukasus, um von dort „aus dem Iran abgeschossene Raketen verfolgen zu können“. Anfang Mai erklärte der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, General Juri Balujewski, gegenüber der Nachrichtenagentur RIA Novosti, daß Rußland als erste Antwort auf die provokativen amerikanischen Raketenverteidigungspläne den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa aussetzen werde.

Besagter KSE-Vertrag wurde 1990 kurz vor der Auflösung des Warschauer Paktes zwischen den damaligen 22 Mitgliedern der NATO und den Staaten des Warschauer Paktes geschlossen. Dieser sollte der erste Schritt zur Beendigung des Gleichgewichtes der gegenseitigen Abschreckung aus dem Kalten Krieg darstellen.
Und hier ist er nun, der neue Kalte Krieg. Er hat schon seit langem b egon nen, aber abgesehen von einer Handvoll Insider im Kreml haben es nur wenige bemerkt. Seit Putins offenen Worten an der Münchner Sicherheitskonferenz („Wehrkundetagung“) vom Februar 2007 hat die Welt schockiert zur Kenntnis genommen, daß wir mitten in einem neuen Kalten Krieg stecken, und auf dem Spiel steht nichts geringeres als die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten.

Rußlands Präsident Putin zieht sich trotzdem warm an und bereitet sich vor.

Putin sprach in München von Washingtons Vision einer „monopolaren Welt mit einem einzigen Zentrum der Macht, der Stärke und der Entscheidungsfindung“. Er nannte es „die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.“

Dann kam der russische Präsident auf den Punkt: „Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophierte (überspannt, überzogen) Anwendung von Gewalt –militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, eine Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinanderfolgender Konflikte auf der Welt auslöst.“ Er erklärte auch: „Wir sehen eine immer stärkere Nichtbeachtung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch – bestimmte Normen, ja eigentlich fast das gesamte Rechtssystem eines Staates, vor allem natürlich das der Vereinigten Staaten, haben die Grenzen des Völkerrechtes in allen Sphären überschritten… Nun, wem gefällt das schon? Wer ist glücklich damit?“

Später in seinem Vortrag führte Putin aus, auf welche Militärpolitik er vor allem reagiert: ‚Weltraumwaffen‘. „Wir werden keine neuen destabilisierenden hochtechnologischen Waffenarten zulassen, ganz zu schweigen von Maßnahmen zur Erschließung neuer Sphären der Konfrontation, vor allem im Kosmos. ‚Star Wars‘ ist bekanntermaßen längst keine Utopie mehr, sondern Realität. Die Militarisierung des Weltraums kann, nach Auffassung Rußlands, für die Weltgemeinschaft unvorhersehbare Folgen provozieren – nämlich den Beginn einer Kernwaffenära [d.h. ein neues atomares Wettrüsten, Anm. des Autors].“

Was will Putin damit sagen? Wir wissen mittlerweile, daß die USA unter dem Vorwand des Schutzes gegen einen möglichen Atom-Lenkwaffenangriff durch einen ‚Schurkenstaat‘ wie Nordkorea oder den Iran bekanntgegeben haben, in Polen und der Tschechischen Republik ein enormes Raketenabwehrsystem errichten zu wollen.

Raketenabwehr? In Polen? Was läuft hier eigentlich ab?

Am 29. Januar 2007 verkündete der amerikanische Armeebrigadegeneral Patrick J. O’Reilly, der Vizedirektor der Behörde für Raketenabwehr des US-Verteidigungsministeriums, die amerikanischen Pläne zur Stationierung von Abfangraketen in Europa bis zum Jahr 2011. Laut Pentagon sei es der Zweck dieser Abwehrraketen, Einrichtungen der USA sowie der NATO vor feindlichen Bedrohungen aus dem Nahen Osten (und nicht aus Rußland) zu schützen. Nach Putins Rede anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz veröffentlichte das amerikanische Außenministerium eine formelle Erklärung, in welcher zum Ausdruck gebracht wurde, wie sehr man über die wiederholten, scharfen Kommentare aus Moskau zum vorgesehenen System bestürzt sei.

Seit 1999 sieht die amerikanische Politik den Aufbau eines aktiven Raketenabwehrsystems vor, trotz des Endes des Kalten Krieges und der nun fehlenden Bedrohung durch sowjetische Interkontinentalraketen oder anderer Raketenabschußsysteme. Die Raketenabwehr war eine der zwanghaften Vorstellungen des früheren amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld.

USA wollen Möglichkeit des atomaren Erstschlags

Es zeigt sich immer mehr, daß hinter Washingtons scheinbar irrationalen und willkürlichen einseitigen militärischen Entscheidungen eine weitaus größere, umfassendere Strategie steckt. Für das Pentagon und die einflußreichen Kreise der US-Politik – völlig ungeachtet der Parteizugehörigkeit – hat der Kalte Krieg mit Rußland gar nie aufgehört, sondern ist einfach im Verborgenen weitergegangen. Die Präsidenten G. H. W. Bush, Bill Clinton und George W. Bush sahen das alle so.

Eine Raketenabwehr errichten zu müssen, schien einleuchtend, wenn die USA durch eine winzige Schar islamistischer Terroristen angegriffen werden konnten, die mit Teppichmessern ein Passagierflugzeug in ihre Gewalt brachten. Das Problem ist nur, daß die Abwehrraketen nicht auf schurkische Terroristenorganisationen wie Bin Ladens Al Kaida oder Staaten wie Nordkorea oder Iran gerichtet sind – denn von diesen geht keinerlei Bedrohung eines verheerenden Nuklearschlages gegen das Territorium der Vereinigten Staaten aus. Die amerikanischen Marine- und Luftwaffenbomber sind heute in voller Alarmbereitschaft, um den Iran wenn nötig sogar mit Atomwaffen ins Steinzeitalter zurückzubomben, sollte auch nur der Verdacht aufkommen, er würde versuchen, eine eigene Atomwaffentechnologie zu entwickeln. Doch Staaten wie der Iran besitzen gar nicht die Fähigkeit, die US-amerikanische Verteidigung zusammenbrechen zu lassen, ohne selbst die mehrfache nukleare Auslöschung befürchten zu müssen.

Die Pläne für die Raketenabwehr wurden in den 1980er Jahren entwickelt, als Ronald Reagan ein solches System vorschlug. Mit erdumkreisenden Satelliten und Radarstationen, Horchposten und Abfangraketen, die über den ganzen Erdball verteilt wären, sollten Nuklearraketen entdeckt und abgefangen werden können, noch bevor sie das beabsichtigte Ziel erreicht hätten.

Kritiker nannten diese Pläne „Star Wars“ („Krieg der Sterne“). Das amerikanische Verteidigungsministerium gab jedoch seit 1980 über 130 Milliarden Dollars für ein solches System aus. George W. Bush stockte diesen Betrag zu Beginn des Jahres 2002 großzügig auf, nämlich auf 11 Milliarden Dollars pro Jahr – doppelt soviel wie zur Zeit der Clinton-Regierung. Und für die folgenden fünf Jahre wurden weitere 53 Milliarden Dollars budgetiert.

In München deutete Putin an, was Washington verschwieg – nämlich daß die amerikanische Raketenstrategie nicht Abwehr-, sondern Angriffszwecken dient. Das Potential, die Supermacht mit der eindrucksvollsten Kriegsmaschinerie der Welt mit einem Schutzschild zur Abwehr eines begrenzten Angriffes auszurüsten, ist direkt auf Rußland gerichtet, das die einzige andere Atommacht ist, die auch nur annähernd die Kapazität besitzt, einen glaubwürdigen atomaren Gegenschlag durchzuführen.

Wenn Amerika imstande wäre, sich vor einem möglichen russischen Gegenschlag auf einen atomaren Erstangriff der USA abzuschirmen, würden die Vereinigten Staaten einfach der ganzen Welt ihre Bedingungen aufzwingen, nicht nur Rußland. Damit hätten die USA erreicht, was in der Militärsprache die atomare Vorherrschaft genannt wird. Das ist die wahre Bedeutung von Putins ungewöhnlicher Rede. Er ist nicht paranoid, sondern einfach sehr realistisch. 

Seit dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 ist nun klargeworden, daß die amerikanische Regierung ihr Streben nach der atomaren Vorherrschaft niemals auch nur für einen Augenblick aufgegeben hat. Für Washington und die amerikanische Elite hat der Kalte Krieg nie ein Ende gefunden; sie haben einfach vergessen, es uns mitzuteilen.

Das Bestreben, die globale Kontrolle über die Ölreserven und Energiepipelines zu erhalten sowie in ganz Europa und Asien Militärstützpunkte zu errichten; der Versuch, die atomare U-Boot-Flotte zu modernisieren und zu vergrößern; die strategisch plazierten B-52-Bomber: all das ergibt nur einen Sinn, wenn man es durch die Linse des unnachgiebigen Strebens nach der amerikanischen atomaren Vorherrschaft betrachtet.