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Es trifft immer das Volk

Der Irak wollte den Krieg im letzten Moment durch weitreichende Angebote verhindern, die alle Forderungen der USA erfüllt hätten. Doch darauf konnte die US-Regierung nicht eingehen - wie sonst hätten sich amerikanische Konzerne praktisch die ganze Wirtschaft des Iraks einverleiben können?

Der Krieg im Irak wäre gar nicht notwendig gewesen. Kurz vor Kriegsausbruch soll nämlich Saddam Hussein der Bush-Administration weitreichende Zugeständnisse angeboten haben. Dies berichtete die New York Times Anfang November 2003. Über den libanesisch-amerikanischen Geschäftsmann Imad Hage als Mittelsmann habe das eingeschüchterte irakische Regime der US-Regierung weitreichende Waffenkontrollen angeboten. Der Auslandschef des irakischen Geheimdienstes sagte gar: "Die USA können 2'000 FBI-Agenten schicken, die suchen dürfen, wo immer sie wollen." Des weiteren war der Irak bereit, einen der Rädelsführer des ersten Anschlags auf das World Trade Center im Jahre 1993 an die USA auszuliefern. Sogar freie Wahlen wurden in Aussicht gestellt.
Doch die Amerikaner stellten sich taub. Die Botschaft der CIA an Imad Hage soll gelautet haben: "Sag ihnen, wir sehen uns in Bagdad!" Präsidentensprecher Scott McCleallan wollte sich im übrigen nicht dazu äußern, ob George W. Bush von den Bemühen Bagdads wußte, in letzter Minute eine Invasion zu vermeiden.

Illegaler Ausverkauf des irakischen Volkseigentums

Viele amerikanischen Konzernmultis sind froh, daß Präsident Bush das irakische Volk mit militärischer Gewalt ‚befreite'. Paul Bremer, der oberste Zivilverwalter im Irak, ‚befreite' das von der Diktatur ‚befreite' irakische Volk gleich auch noch von den Bürden seines staatlichen Vermögens. Denn was uns in den Medien als ‚Wiederaufbau' des Irak präsentiert wird, ist in Wahrheit tatsächlich die grenzenlose Freiheit - für den westlichen Raubtierkapitalismus. Dank Bremers Wirtschaftsreformen werden ehemals staatliche Betriebe hemmungslos an ausländische Privatkonzerne verscherbelt, ganz ähnlich, wie es in Rußland nach der Wende geschah. Doch im Irak verstößt dies klar gegen internationales Recht: Das Haager Abkommen von 1907 schreibt vor, daß eine Besatzungsmacht "die Gesetze, die im Land in Kraft sind" zu respektieren habe, "außer, wo dies absolut unmöglich ist". Laut irakischer Verfassung ist die Privatisierung maßgeblicher staatlicher Aktiva gesetzeswidrig, und Ausländern ist es verboten, irakische Firmen zu besitzen.

Es gibt keinen plausiblen Grund, weshalb es der Zivilverwaltung der Koalition "absolut unmöglich" gewesen sein soll, sich an diese Gesetze zu halten. Trotzdem setzte Paul Bremer am 19. September 2003 die berüchtigte ‚Order 39' in Kraft, mit der die Privatisierung von 200 irakischen Staatsunternehmen verkündet wurde. Die Order verfügt, daß ausländische Firmen bis zu hundert Prozent an irakischen Banken, Minen und Fabriken halten können, und daß es diesen Firmen künftig auch erlaubt ist, ihre ganzen Profite außer Landes zu schaffen - Rußlands Oligarchen lassen grüssen… Im Kodex der US-Army (Law of Land Warfare) steht ganz klar: "Der Besatzer hat nicht das Recht, (nicht-militärischen) Besitz zu veräußern oder unqualifiziert zu nutzen." Ebenso deutlich ist das zitierte Hager Abkommen: "Besatzungsmächte sind ausschließlich als Verwalter und Nießbraucher von öffentlichen Gebäuden, Immobilien, Wäldern und agrikulturellen Liegenschaften, die dem feindlichen Staat gehören und im besetzten Land liegen, zu betrachten. Die Besatzungsmacht hat das Kapital dieser Besitztümer zu sichern, sowie diese in Übereinstimmung mit den Regeln des Nießbrauchs zu verwalten." Verwalten - nicht verhökern. Das weiß auch der britische Generalbundesanwalt Lord Goldsmith. Er warnte Tony Blair schon in einem durchgesickerten Memo vom 26. März 2003, daß "eine Auferlegung weitreichender strukturelleer Wirtschaftsreformen nicht durch das internationale Recht autorisiert wäre".

Deshalb sind eine wachsende Zahl internationaler Rechtsexperten der Meinung, daß eine künftige irakische Regierung das Recht hätte, die widerrechtlich von US-Konzernen wie Halliburton oder Bechtel übernommenen irakischen Wirtschaftszweige wieder zu renationalisieren - außer es gelingt den Amerikanern, eine Marionettenregierung einzusetzen, welche die illegalen Privatisierungen per Unterschrift im Nachhinein legalisieren wird. Dick Cheney hätte da sicher nichts dagegen: Der amerikanische Vizepräsident war vor seinem Amtsantritt Chef von Halliburton und verdient noch heute mehr Geld mit Halliburton-Honoraren als mit dem Salär seines derzeitigen politischen Amtes.

Radioaktive Verseuchung durch die US-Army
Die als ‚Wiederaufbau' getarnte Privatisierungswelle hat im Irak zu Massenentlassungen vor allem im Bereich des öffentlichen Sektors geführt. Im November 2003 lag die Arbeitslosigkeit bei 70 Prozent. In den nächsten Jahren werden die Iraker leider noch weit größere Probleme bekommen: Im Gegensatz zum ersten Golfkrieg von 1991 verschoß die US-Armee Geschosse mit einem Mantel aus abgereichertem Uran nicht nur auf militärisches Gerät außerhalb der Städte, sondern auch mitten in dicht besiedelte Gebiete hinein. Setzten die Amerikaner 1991 etwa 300 Tonnen Uranmunition ein (vor allem westlich von Basra), so gehen Schätzungen davon aus, daß in den letzten Monaten tausend bis zweitausend Tonnen solch radioaktiver Geschosse zum Einsatz kamen. "Bereits 1991 hatten diese abgereicherte Uran verheerende Folgen", erklärt Dr. Souad Naji Al-Azzawi, eine Umweltingenieurin an der Universität von Bagdad. Die Zahlen von Leukämieerkrankungen oder Mißbildungen bei Neugeborenen sind enorm gestiegen. Unsere Ärzte sind mit einer größeren Zahl von Krebserkrankungen konfrontiert, die immer aggressivere Formen annehmen. Nach den jüngsten Uranwaffeneinsätzen werden wir dasselbe nicht nur in Basra, sondern auch in Bagdad und anderen irakischen Städten erleben."
Im Jahrzehnt nach dem ersten Golfkrieg verzehnfachten sich die Mißbildungen an Neugeborenen im Irak. Noch stärker stieg die Krebsrate an: 1988 starben im Südirak 34 Menschen an Krebs. 1998 - sieben Jahre nach dem Ende des Golfkrieges - waren es 450 Menschen, im Jahr 2001 gar 603.
Am 8. Juli 2003 veröffentlichte das amerikanische Nuclear Policy Research Institute einen Bericht über die Gefahren von abgereicherter Uranmunition. Die Experten halten darin fest, daß das Pentagon seinen eigenen Forschungen widerspricht, wenn es die Schädlichkeit von Uranmunition herunterspielt und fordern ein sofortiges Verbot dieser Munition: "Das Pentagon kann dein Einsatz von abgereichertem Uran durch nichts rechtfertigen, wenn die Wissenschaft auf ein erhöhtes Risiko von Kinderkrebs, Geburtsfehlern und gesundheitlichen Langzeitschäden hinweist."

Frauen baden es aus

Dieser Forderung kann die Bagdader Umweltingenieurin Al-Azzawi nur beipflichten. Nicht verstehen kann sie indes, weshalb Laura Bush vor einigen Wochen ihren Mann überschwenglich gelobt hatte: Von der Politik des US-Präsidenten hätten nämlich vor allem die Frauen im Irak und in Afghanistan profitiert. In einem Interview Mitte November 2003 sagte sie: "George W. Bush und seine Frau sollten einmal in den Irak kommen, dann würden sie vielleicht aufhören, weitere Lügen zu verbreiten. Die Situation wird zunehmend schlechter. Die irakischen Frauen wurden um fünfzig Jahre zurückgeworfen: Mit der US-Besatzung kamen islamische fundamentalistische Gruppen, schiitische wie sunnitische. Sie stellen im 25köpfigen Übergangsrat ihre Vertreter. Sie breiten ihre Macht überall in Bagdad und in anderen Städten aus. Frauen können nicht mehr alleine auf die Straße oder zur Arbeit gehen. Weil zunehmend mehr Mädchen entführt werden, schicken Eltern ihre Töchter nicht mehr in die Schule. Wir Frauen können nicht mehr anziehen, was wir wollen, sondern werden gezwungen, Schleier zu tragen. Vor dem Krieg waren wir frei, uns zu kleiden, wie wir wollten. Diese Freiheit haben wir verloren. Die Gesellschaft wird zunehmend von Fundamentalisten bestimmt."
Diesen religiösen Fundamentalisten war der Diktator Saddam immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Er säkularisierte nämlich die irakische Gesellschaft und sorgte unter anderem dafür, daß alle Mädchen eine Schulbildung genossen und auch studieren konnten. Familien, die sich weigerten, ihre Töchter zur Schule zu schicken, ließ Saddam Strom und Wasser abstellen, bis sie zur Vernunft kamen. "Aus diesem Grund wurde Saddam von vielen irakischen Frauen verehrt. Viele dienten in rein weiblichen Militärbrigaden", erklärt die amerikanische Irakspezialistin Nita Renfrew. Die Behauptung von Präsident Bush und seinen neokonservativen Kriegstreibern, daß Saddam Hussein einer der engsten Verbündeten von Bin Ladens Al Kaida gewesen sei, darf deshalb hinterfragt werden - schließlich klafften ihre gesellschaftlichen Visionen doch weit auseinander.

ben