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Ghettos für Palästinenser

Mit einer ‚Berliner Mauer' zwingen die Israelis viele Palästinenser, praktisch im Ghetto zu leben.

von Isabelle Humphries

Palestina MauerJERUSALEM, den 20. April 2003. Zum erstenmal besuchte ich die Mauer der Westbank im letzten August. Ich besuchte damals die Stadt Qalqilya u. mehrere Dörfer in der Umgebung, unter anderem Jayyous. Ich war an dem Tag aber nicht die Einzige. Und seither sind hunderte westliche Journalisten und - noch wichtiger - sehr viele Vertreter ausländischer Botschaften hingefahren, um die Mauer zu besichtigen. Und ich behaupte, Leute wie ich, die die Mauer sahen, verfassten daraufhin unzählige Berichte zum Thema.

In den westlichen Medien wurde mit Sicherheit jede Menge über die Mauer informiert bzw. schockierende Fotos dieser hässlichen Unterdrückungs-Mauer gezeigt. Hinter verschlossenen Türen wird wohl noch weit mehr geschrieben worden sein - dessen bin ich mir sicher. Die Mauer ist kein Geheimnis. Selbst wer noch nie in Qalqilya oder Jayyous war, kennt ihre Geschichte aus der Zeitung - oder von dieser Website. Die Menschen Qalqilyas sind in ein Gefängnis gesperrt. Es gibt nur einen Ausgang, u. nur wenige besitzen Genehmigung, sich außerhalb Arbeit zu suchen. Die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche ist weg, u. die Menschen wurden von lebensnotwendigem Wasser abgeschnitten. Palästinensern ist es nicht erlaubt, nach Wasser zu graben. Israel kann unilateral beschließen, wo es seine Grenzen zieht - ohne Verhandlungen u. ohne dass man dagegen vor Gericht klagen kann.

Als wir - ich u. die vielen anderen Ausländer - im letzten Jahr die Bauern von Jayyous besuchten, war es sehr heiß, mitten im Sommer. Der Ort liegt 5 1/2 Kilometer von der 1967ger-Grenze entfernt. Die Menschen von Jayyous verloren 75 Prozent ihres landwirtschaftlich genutzten Landes, ebenso 7 ihrer artesischen Brunnen. Alles wurde konfisziert, um die sogenannte "Sicherheits-Mauer" zu bauen. Ein Bauer schenkte mir damals eine Orange - vielleicht seine letzte Ernte. Er erklärte mir, was hier vor sich ging. Einige Flächen des von ihm bebauten Landes wurden zuvor dank eines Entwicklungsprojekts - das von der französischen Regierung finanziert wurde -, bewässert. Die Franzosen hätten jemanden geschickt. Als er den jüngsten Landraub der Israelis an palästinensischem Land sah, sei der Vertreter der Franzosen äußerst entsetzt gewesen, so der Bauer. Wieder so ein Bruch der 4. Genfer Konvention, begangen durch Israel.

Nach all den Besuchern aus sovielen Ländern u. den Versprechungen des sogenannten "Fahrplans" - was hat sich seit meinem letzten Mauer-Besuch vor 7 Monaten geändert? Hat sich etwas verändert? Als ich letzte Woche hierherkam, musste ich definitiv einige Veränderungen feststellen. Die Israelis haben seit dem letztenmal noch mehr Land weggenommen. Und was ist aus dem verbliebenen Land geworden? "Sie haben unsere Bauern mit Hunden angegriffen, wenn wir auf unser Land wollten", teilt mir Fayez Salim mit, er ist der Bürgermeister von Jayyous. "Und auch das verbliebene Land ist größtenteils vertrocknet, da wir jetzt kein Wasser zur Bewässerung mehr haben". In Qalqilya erzählt mir Bürgermeister Marouf Zahran, dass mehr als 600 der dortigen Ladenbesitzer die Stadtverwaltung von der bevorstehenden Schließung ihrer Geschäfte informiert hätten. Er schätzt, dass etwa 3 000 seiner 41 600 Einwohner gezwungen sein werden, die Stadt aus wirtschaftlicher Not zu verlassen. Qalqilya ist jene (Palästinenser-) Stadt, die der 1967ger-Grenze am nächsten liegt. Die Stadt war abhängig von ihren israelischen Kunden. Tel Aviv liegt ja nur 12 km entfernt, ebenso die Küste. Sowohl israelische Juden als auch Palästinenser strömten früher über die 'Grüne Linie' nach Qalqilya. Die Stadt liegt im wasserreichsten Gebiet der gesamten Westbank. Obst u. Gemüse aus Qalqilya wurden sogar ins Ausland geliefert. Inzwischen sind die Menschen froh, wenn sie sich selbst u. ihre Familien vom verbleibenden Land ernähren können. Die israelische Okkupation macht die Wirtschaft von Westbank u. Gaza komplett abhängig vom reicheren Okkupator.

Aber inzwischen sind die Grenzen ja dicht. Die Palästinenser können weder ihre eigene Wirtschaft aufrechterhalten, noch sich als Billigarbeiter an die Israelis verdingen. So wurde Qalqilya zur Geisterstadt. Auf der westlichen Seite steht die Mauer schon komplett. Auf östlicher Seite wird noch daran gebaut. Was ich Israel gerne fragen möchte: "Entschuldigung, aber habt ihr nicht gesagt, die Mauer würde nur eine Sicherheitsgrenze zwischen Israel und der Westbank?" "Die Israelis haben uns versprochen, wir könnten weiter auf unser Land", sagt Bürgermeister Zahran, "aber darauf warten wir jetzt seit 9 Monaten". Aber nicht nur Qalqilya ist zum Getto mutiert. Die 32 Ortschaften der Region wurden durch Zäune in insgesamt drei Zonen unterteilt. Die Dörfler können sich nicht mehr gegenseitig besuchen, noch nicht einmal nach Qalqilya zum Arzt können sie.

Nicht nur Bauern wurden von ihrem Land abgetrennt, auch ganze Familien hat man auseinandergerissen. "Wer eine Genehmigung hatte, musste sich entscheiden, auf welcher Seite er ab jetzt leben will. Und das sind noch die Glücklichen. Viele (Familien) hat man auseinandergerissen ohne die Wahlmöglichkeit, auf der ein oder anderen Seite zu sein", so Nidal Jalood, von der Stadtverwaltung Qalqilyas. Er zeigt zu den (jüdischen) Siedlungen hinüber: "Das da ist Alfei Menashe mit seinen roten Dächern - die größte Siedlung in der Gegend", sagt er. "Und diese dort etwas weiter, da hat der (frühere israelische Premier) Barak sein Haus. Früher flog er jeden Morgen mit seinem Hubschrauber über uns hinweg nach Jerusalem". Mr. Jalood hat mich an einen Ort mitgenommen, wo israelische Bulldozer gerade dabei sind, Gräben für die nächste Mauer/Zaun/Barriere auszuheben. Familien aus den Dörfern nutzen die kurzfristige Gelegenheit, um über das Schlammfeld nach Qalqilya zu gelangen. "Sie tun uns heute einen Gefallen", sagt ein Mann, aber er lächelt nicht dabei. "Das Tor steht für den Bulldozer offen, also lassen sie uns zu Fuß durch. Normalerweise muss ich mehrere Kilometer Umweg gehen, bevor ich hineinkomme". Neben ihm geht seine Frau, sie kämpft mit einem schreienden, kranken Baby. Die beiden wollen ins Krankenhaus, aber da sie aus den Dörfern kommen, dürfen sie natürlich keinen PKW benutzen. "Es ist unser Schicksal", sagt eine andere Frau. Sie muss ihre Röcke hochheben, um durch den 2-Meter-Graben zu kommen. Schon bald wird er zur 'Mauer' aufgefüllt sein. Ihr kleines Kind fällt auf dem unsicheren Untergrund. "Was für eine Schande!" ruft Mr. Jalood. Er kann nicht mitansehen, wie die Frauen sich erniedrigen müssen, um durch Schlamm u. Schmutz hinüberzustolpern.

Graffiti an der Wand einer Dorfschule, an der ich vorbeifahre: 'Es ist nicht legal, die Mauer neben unserer Schule zu bauen!' Und: 'Gebt uns unsere Freiheit!'. 'Legal' - gemäß wem 'legal'? Die Vorgänge in Palästina und Irak stellen das gesamte Konzept internationalen Rechts u. die Existenz bzw. Authorität eines unabhängigen Schiedsrichters infrage - das alles scheint leider sehr weit weg. "Soetwas wie soziale Sicherheit kennen wir nicht", sagt Mr. Jalood, "unsere soziale Sicherheit war unser Land". Land hat hier nichts mit Nostalgie, mit Rückwärtsgewandtheit von Kommunen, zu tun. Für Westbank-Palästinenser hängt die ganze Zukunft, ja ihr Leben, am Land. "Wenn du dein Land verlierst, verlierst du deinen Verstand. Es macht dich verrückt", so Salim, der Bürgermeister von Jayyous. Ein anderer Mann aus Jayyous, er ist Aufseher auf dem Bau, erzählt mir, er habe 600 Dunam (etwa 60 Hektar) verloren - sein ganzes Land. Oliven, Orangen u. andere Früchte wachsen darauf. Aber im Grunde hat er nichts 'verloren' - es wurde ihm gestohlen. Auch der Bürgermeister bildet bei diesem Leid keine Ausnahme. Von seinen 400 Olivenbäumen sind ihm noch etwa 40 geblieben. Er hat 5 Söhne u. 2 Töchter, insgesamt 18 Personen zählt seine Sippe. "Wie kann ich sie jetzt noch unterstützen?" Zu seinen Aufgaben als Bürgermeister zählt, denjenigen den Strom zu kappen, die ihre Elektrizitätsrechnung nicht begleichen können. Vor kurzem musste er seiner eigenen Tochter den Strom abstellen - man denke sich den Horror -, sie und ihr Mann konnten die Rechnung nicht mehr bezahlen. Aus dem Fenster seiner Amtsstube sieht man sehr gut hinüber auf israelisches Gebiet. Das Fenster gibt zudem den Blick frei auf jenes Land, das kürzlich von Jayyous wegkonfisziert wurde. "Wir brauchen Frieden, und warum können wir keine Gleichheit bekommen? Niemand will sterben, auch ich nicht, aber wir werden nicht fliehen wie 1948. Wo könnten wir schon hin? Nach Jordanien? In den Irak?" Er lacht mit bitterer Ironie. "Die jüngere Generation weiß, was damals geschehen ist. Sie sagen, sie werden bleiben. Wir fürchten den Transfer, aber wir weigern uns zu gehen".

Soviele internationale Besucher sind hiergewesen - Amerikaner, Italiener, Franzosen, UN-Delegationen - dennoch ist nichts passiert. Wer wollte da noch dem Bauern Omar widersprechen (der mehr als die Hälfte seines Lands verloren hat): "Die Zionisten arbeiten inzwischen wieder mit den Briten zusammen. Sehen Sie sich nur Irak an! Sehen Sie sich doch mein Ackerland an!" Glaubt jemand noch an den berühmten 'Fahrplan'? Kann jemand Omar guten Gewissens davon überzeugen, dass die internationale Gemeinschaft keineswegs gemeinsame Sache mit den Zionisten macht oder ihnen zumindest sanktionslos erlaubt, illegale Akte wie Landraub oder Populationstransfer zu begehen? Können Sie Omar oder dem Bürgermeister von Jayyous in die Augen sehen u. sagen, die internationale Gemeinschaft setzt sich für eine gerechte Lösung hier vor Ort ein? Ich kann es nicht. Es macht auch keinen Sinn, wenn Sie einfach nur den Atem anhalten u. hoffen, zu einer zweiten 'Nakbah' (Katastrophe) werde es nicht kommen. Die Katastrophe hat ja längst begonnen - hier, vor unseren Augen.

Die Autorin Isabelle Humphries lebte während der Al-Aqsa-Intifada zwischen Nazareth u. Jerusalem. Sie führt eine wissenschaftliche Untersuchung zur Situation palästinensischer Flüchtlinge jenseits der 'Grünen Linie' durch. Sie können Frau Humphries kontaktieren unter: innazareth@yahoo.co.uk

Quelle: Electronic Intifada / ZNet 30.04.2003

Übersetzt von: Andrea Noll