Den größten Mut haben die Demütigen

Obwohl man den aufgeblasenen, eitlen Pfau nicht mag, scheint die Demut heute mit einem Makel behaftet. Es fällt uns viel leichter, jemandem den Kopf zu waschen als dessen Füße. Dabei läge dem wahrhaft Demütigen die ganze Welt zu Füßen.

Manche sagen: „Demut ist mein ganzer Stolz.“ Andere wiederum spötteln: „Wer sich zu tief bückt, zeigt schließlich seinen Hintern.“ Woran eigentlich erkennen wir einen demütigen Menschen? Und wichtiger: Wann wissen wir, dass wir selbst demütig sind? Haben wir überhaupt den Mut zur Demut? Im Zeitalter der Selbstvermarktung scheint Demut so fehl am Platz wie ein Bettelmönch im Frankfurter Finanzdistrikt. Was ist Demut? Sich in Sack und Asche kleiden? Den Blick unterwürfig gesenkt halten? Ungerechtigkeit still erdulden und auch bei anderen tolerieren?

Oder darf man als demütiger Mensch einen Porsche fahren und dicken Goldschmuck tragen? Immerhin soll Jesus ja gesagt haben, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher in den Himmel komme. Bei näherem Hinsehen erweist sich dies als fatale Fehlübersetzung: Zu Jesu Lebzeiten war „Nadelöhr“ der Name einer bestimmten Fußgängerpforte in der Stadtmauer von Jerusalem, wie sie üblicherweise neben den großen Toren eingelassen waren, durch welche Händlerkarren, Reiter und eben auch Kamele in die Stadt strömten. Ein Kamel durch jenes „Nadelöhr“ zu bugsieren war also bestimmt schwierig, aber nicht unmöglich. Genauso braucht man umso mehr innere Stärke, je größer der materielle Reichtum ist. Sonst schwingt sich der Knecht zum Herrn auf und man verfällt dem Mammon. Manch ein begüterter Mensch beweist indes tagtäglich, dass Geld auch für gute Zwecke eingesetzt werden kann. Mangelnder Reichtum ist daher noch lange kein Indiz für Demut. Dasselbe ist es mit der äußeren Erscheinung.

Demut kommt je nach Fall

Manchmal kommen wir inneren Werten leichter auf die Spur, wenn wir uns damit auseinandersetzen, was sie nicht sind. Das ist wie bei Fehlern. Wer macht sie schon gern?! Dabei sind Fehler hervorragende Lehrmeister – sofern wir sie nicht immerzu wiederholen. Sonst rennen wir bloß ständig mit dem Kopf gegen die Wand. Das lässt uns nur leiden, und Schmerzmittel helfen auch nicht. Haben wir also den Mut, Fehler zu machen, da wir uns freudig ins Leben stürzen! Eine solch bejahende Haltung bringt uns sogar näher zur Demut, weil wir uns selbst und unsere Probleme nicht immer so wahnsinnig wichtig nehmen. Außerdem wäre es doch ziemlich arrogant zu meinen, ohne Fehl zu sein. Wer stolz ist, hat Mühe, Fehler einzugestehen. Diese Halsstarrigkeit verhindert aber nicht nur inneres Wachstum, sie zieht uns auch emotional runter, weil wir nämlich ganz tief in uns drin sehr wohl wissen, dass nicht alles zum Besten steht. So fühlen wir uns schlecht mit uns selbst, haben vielleicht sogar Schuldgefühle und kaschieren dies dann womöglich mit Härte und Arroganz.

Wenn wir aber unsere Dummheiten bekennen und die Verantwortung dafür übernehmen, fühlen wir uns bald leichter und freier. Doch solange wir die Schuld bei anderen suchen und uns vor den Konsequenzen unseres Verhaltens drücken wollen, kann Vergebung nicht die unsere sein. Und selbst wenn wir zu unseren Fehlern stehen, stehen wir uns häufig selbst im Weg, weil wir uns dafür verurteilen. Hand aufs Herz: Fällt es nicht schwerer, sich selber zu vergeben als anderen? Der irische Lebemann und Dichter Oscar Wilde goss diese Erkenntnis in den Satz: „Der höchste Augenblick eines Menschen – daran hege ich nicht den geringsten Zweifel – ist der, wenn er im Staube niederkniet, sich an die Brust schlägt und alle Sünden seines Lebens bekennt.“

Vergebung, diese köstliche Frucht der Freiheit, ist also in mancherlei Hinsicht ein Kind der Demut. Doch wir können sie erst kosten, wenn wir auch eine andere Tugend in unserem Leben willkommen heißen: die Ehrlichkeit. Sie erzieht uns zur Natürlichkeit, weil sie nicht zulässt, dass wir etwas vorgaukeln, was wir nicht sind. Lassen wir uns also nicht durch die Angst vor möglichen Fehlern einschüchtern, sondern nehmen uns zu Herzen, was die deutsche Schriftstellerin Julie Burow vor eineinhalb Jahrhunderten schrieb: „Demut, die herrlichste aller Tugenden, wird nicht selten erst errungen durch – einen Fehler.“

Das Gegenteil von Demut ist Hochmut. Diesen hohlen Angeber kennen die meisten von uns ziemlich gut, nicht wahr? Sogar dann, wenn Einbildung nicht unsere einzige Ausbildung ist. „Die erste Voraussetzung, den Hochmut zu meistern, besteht darin, dass man erkennt, wie er sich äußert. Denn viele Menschen halten den Hochmut für Demut und umgekehrt“, mahnte der bulgarische Philosoph und Pädagoge Omraam Mikhael Aivanhov seine Zu­­hörer. „Wenn sie einen Menschen sehen, der sich gegenüber den Mächtigen dieser Welt unterwürfig verhält, weil er sich neben ihnen arm, unwissend und schwach fühlt, dann sagen sie, er sei demütig. Aber wenn sie auf einen Menschen treffen, der das Reich Gottes verwirklichen will, rufen sie: ‚Welch ein Hochmut!‘ Nein, sie irren sich. Der Erste ist nicht demütig. Er verneigt sich vor dem Reichen und Mächtigen aus Schwäche oder aus den Erfordernissen heraus; er kann nicht anders handeln. Aber gebt ihm ein bisschen Reichtum und Macht, und ihr werdet sehen, ob er demütig ist!“

„Ich dien“

Dienstunwilligkeit trägt viele Gesichter. Sie äußert sich beispielsweise auch darin, dass ehrenamtliche Organisationen wie Samaritervereine oder die Milizfeuerwehr und sogar politische Parteien zunehmend Mühe haben, Nachwuchs zu rekrutieren. Das Dienen steht heute ebenso wenig im Kurs wie die Demut. Kein Wunder, haben die beiden Begriffe doch dieselbe etymologische Wurzel. Demut geht auf das Altdeutsche diomuoti zurück, was so viel wie „dienstwillig“ oder eine „dienende Gesinnung“ bedeutet.

Je höher ein Baum in den Himmel wachsen will, desto tiefer müssen seine Wurzeln im Erdreich verankert sein. Und wer befehlen will, muss erst lernen zu gehorchen. Ein wahrer König soll der erste Diener seines Volkes sein, so sagt man. Der Wahlspruch des Prinzen von Wales lautet denn auch „Ich dien“. Diese simplen Worte unter einer mit drei Straußenfedern ge­­schmückten Krone zieren noch heute jede 2-Pence-Münze in Großbritannien. Laotse, der Begründer des Taoismus, lehrte vor zweieinhalb Jahrtausenden: „Ich habe drei Schätze, die ich hüte und hege: Der eine ist die Liebe, der zweite ist die Genügsamkeit, der dritte ist die Demut. Nur der Liebende ist mutig, nur der Genügsame ist großzügig, nur der Demütige ist fähig zu herrschen.“ Und Konfuzius, der andere große Weise Chinas, nannte Demut gar „die Grundlage aller Tugenden“.