Nahostkonflikt: Mitgefangen, mitgehangen!

2017 feierte Israel seine eigene Größe und den militärischen Triumph im Sechstagekrieg. Doch damit hatte die Besetzung palästinensischen Gebietes begonnen – ein Drama, welches seither auch das israelische Volk vergiftet. Das könnte letztlich zum Untergang des Zionistenstaates führen.

In einem freien Staat kann jeder denken, was er will, und sagen, was er denkt.

Spinoza, jüdischer Philosoph des 17. Jh.

Wie Wüstenfüchse unsichtbar nachts über den Sand huschen, überquerten israelische Kampfjets an jenem Morgen unentdeckt den Sinai. Bevor die ägyptischen Offiziere ihren Kaffee austrinken konnten, ließen die Tiefflieger ihre Bomben auf die noch am Boden ruhenden Stahlvögel ihrer Feinde fallen. Drei Stunden später war der einstige Stolz der ägyptischen Luftwaffe ein Haufen rauchender Schrott. Am Abend des nächsten Tages hatten die Israelis 416 arabische Flugzeuge zerstört und die absolute Lufthoheit in der ganzen Region errungen. Und obwohl sich der noch junge Judenstaat einer übermächtigen arabischen Streitmacht mit einer Viertelmillion Soldaten gegenübersah, entschied das kleine Israel seinen Überlebenskampf nach nur sechs Tagen für sich. Der aus den kriegshungrigen Nachbarländern Ägypten, Syrien und Jordanien erschollene Schlachtruf "Zerstört Israel" verlor sich wie ein einsamer Vogelschrei in der heißen Wüste. Nicht nur die Juden in der Diaspora, wohl auch die gesamte Christenheit jubelte: Nach zweieinhalbtausend Jahren hatte David endlich wieder Goliath besiegt.

Denn sie wissen nicht, was sie tun: Das Schicksal von Palästinensern und Israelis ist untrennbar miteinander verbunden.

Denn sie wissen nicht, was sie tun: Das Schicksal von Palästinensern und Israelis ist untrennbar miteinander verbunden.

Was am 5. Juni 1967 mit dem Überfall auf die Luftwaffe Ägyptens begann, endete am 10. Juni 1967 mit der israelischen Kontrolle über die syrischen Golan-Höhen, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland und Ostjerusalem. Praktisch über Nacht kontrollierte die israelische Regierung statt der angestammten 20'000 Quadratkilometer ein Territorium dreifacher Größe. Das ist nun fünfzig Jahre her und wurde 2017 entsprechend gefeiert. Schließlich hat der Sechstagekrieg Israel zu dem gemacht, was es heute ist.

Doch der vielleicht wichtigste militärische Triumph der Juden seit König David könnte für Israel auf lange Sicht zum Pyrrhussieg werden. Denn seither sondert ein Spaltpilz inmitten Israels seine giftigen Sporen ab und teilt seine Bürger in Humanisten und Nationalisten, in säkulare Demokraten und religiöse Fanatiker. Vielleicht kommt es sogar zum Ende des Zionistenstaates, wie wir ihn heute kennen. So warnte der ehemalige israelische Regierungschef Ehud Barak unlängst vor einer "jüdischen Apartheid" und fundamentalistischen Juden, welche die Zukunft Israels bedrohen.

Vor einem Jahrhundert, am 2. November 1917, unterzeichnete der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour eine Deklaration, worin sich Großbritannien mit dem zionistischen Ziel einverstanden erklärte, in Palästina eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg und als Reaktion auf die Schoah trugen diese Anstrengungen schließlich Früchte: Der Staat Israel konnte 1948 gegründet werden. Der Schock über die Gräuel des Holocaust saß tief im Bewusstsein der damaligen Siegermächte. Die Juden waren in den Augen der Weltöffentlichkeit das Opfervolk schlechthin. Das unvorstellbare kollektive Leid verlieh ihnen zudem die moralische Autorität, wann immer Menschenrechte mit Füßen getreten werden, die Stimme zu erheben. Israel beansprucht seinerseits, für alle Juden zu sprechen. Gleichzeitig lebt es der Welt vor, wie schnell sich Opfer zu Tätern, Unterdrückte zu Unterdrückern wandeln können. Dank dem Sieg im Sechstagekrieg mutierte Israel zu einer oft grausamen Besatzungsmacht: Viele zusätzliche Gebiete waren erobert, nun wollte man sie auch besiedeln. Dass in der Folge 300'000 Palästinenser aus den Besatzungszonen flohen oder vertrieben wurden, blendet das offizielle Israel bis heute aus. Es benutzt nicht einmal den Begriff "Palästinenser"; man spricht konsequent nur von "Arabern".

Der Dreizehnte Stamm

Diese Negierung eines ganzen Volkes ist jedoch schon viel älter. Vor 120 Jahren notierte Theodor Herzl in seinem Tagebuch über den ersten Zionistischen Weltkongress vom 29. bis 31. August 1897: "In Basel habe ich den Judenstaat gegründet." Viele Zionisten machten sich daraufhin den Slogan „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" zu eigen und begannen mit der bis heute andauernden Besiedlung Palästinas. Wobei dieser Wahlspruch gleich in zweifacher Hinsicht eine Lüge ist. Erstens gab es in diesem "Land ohne Volk" durchaus eine indigene Bevölkerung und zweitens haben die meisten modernen Juden gar keinen historischen Bezug zum "Heiligen Land".

Mit der zionistischen Staatsgründung und lange vor dem Sechstagekrieg wurden bereits 700'000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Diese ethnische Säuberung haben sie den Israelis bis heute nicht vergeben und fordern noch immer ein Recht auf Rückkehr. Jedes Jahr, am Tag nach der israelischen Unabhängigkeitsfeier, gedenken die Palästinenser ihrerseits der Nakba2 – ein Begriff, den die israelischen Behörden im Schulunterricht verboten haben.

Die Zionisten (und mit ihnen die meisten Juden) behaupten, sie hätten bloß das Land ihrer Vorväter wieder in Besitz genommen. Es ist indes eine geschichtlich gut belegte Tatsache, dass über neunzig Prozent der Juden von heute keinerlei ethnische Verbindungen mit den ursprünglichen Hebräern haben – und damit auch keinen historischen Anspruch auf Palästina. Sie sind nämlich aschkenasische Juden und damit Nachfahren eines hunnischen Turkvolks: Die Khasaren kontrollierten auf dem Höhepunkt ihrer Macht das Land zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer und nahmen um das Jahr 740 das Judentum als Staatsreligion an. Wie aus diesen kriegerischen Nomaden die Aschkenasim des östlichen Judentums wurden, kann man in diversen wissenschaftlichen Büchern nachlesen, unter anderem in einem Standardwerk der Geschichtsschreibung: die elfbändige Geschichte der Juden, verfasst vom deutschjüdischen Professor Heinrich Graetz (1817– 1891). Auch Arthur Koestler, der bekannte jüdische Schriftsteller, publizierte 1976 zu diesem Thema ein Sachbuch mit dem Titel Der Dreizehnte Stamm (mehr dazu in der ZeitenSchrift-Druckausgabe Nr. 10).

"Wurzeln und siedeln"

Im besetzten Westjordanland (die "Westbank") stehen rund 750'000 jüdische Siedler mehr als einer Million vertriebener Palästinenser gegenüber. Sie sind die Speerspitze einer ebenso rücksichtslosen wie schleichenden Landnahme. Wohl deshalb verwendet das offizielle Israel für die Westbank lieber die biblische Gebietsbezeichnung "Judäa und Samaria". Dort sind bis jetzt mehr als dreieinhalbtausend Siedlerhäuser gebaut worden, mehrere Tausend Wohnungseinheiten sollen künftig noch bewilligt werden. Deshalb will die Netanjahu-Regierung mit dem sogenannten "Enteignungsgesetz" die Möglichkeit schaffen, dass der Staat die Enteignung von palästinensischem Boden gestatten kann, wo Siedlungen und Außenposten „in gutem Glauben" oder auf behördliche Anweisung hin errichtet worden sind.

Der wegen angeblicher Bestechlichkeit arg gebeutelte israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lässt sich im eigenen Land gern als "Erbauer der Siedlungen" feiern: Keine Regierung habe mehr für die Siedler getan als die seine. Und er gelobt, keine einzige Siedlung mehr zu "entwurzeln".3 Ende August 2017 verkündete der Regierungschef am 50. Jahrestag der "Befreiung" des Westjordanlands: "Wir sind hier, um zu bleiben, auf immer!" Damit meint Netanyahu explizit die Siedlungen in den besetzten Gebieten: "Wir werden Samaria schützen. […] Wir werden unsere Wurzeln tiefer in die Erde senken, wir werden bauen, stärken und siedeln." Aus gutem Grund hat es der jüdische Staat denn auch bis heute versäumt, seine Staatsgrenzen festzulegen. Das würde die ständig neue zionistische Landnahme und die illegale Aneignung palästinensischen Bodens nämlich verhindern. – Kein Wunder, werden die israelischen "Friedensbemühungen" regelmäßig von palästinensischen Terroristen mit Anschlägen und Raketen sabotiert

Bei so viel zionistischer Chuzpe platzt nun aber auch immer mehr Juden der Kragen. Als Antwort auf Netanjahus Rede machte der ARD-Filmemacher Richard C. Schneider in sarkastischen Worten seinem Frust Luft: "Endlich spricht Netanjahu die Wahrheit. Es ist eine wahre Wohltat. Jetzt weiß jeder, woran er ist. Israel wird weiter siedeln, überall dort, wo das biblische Israel einstmals war. Das heißt natürlich, dass man eines Tages auch die Gegend um Damaskus erobern muss, auch das war ja mal Israel. Jetzt also erst mal siedeln. Gegen den Willen der Welt, gegen den Willen der Gojim4 . Aber was haben die Gojim schon zu sagen? Das sind eh alles Antisemiten, nicht wahr, Mr. Netanjahu? Also. Was interessieren uns im Jahr 2017 die Gojim? Und was die Araber? Gar die Palästinenser. […] Es gäbe also die Möglichkeit, sie zu vertreiben. Wohin ist egal, aber wahrscheinlich am besten nach Jordanien. Oder man nimmt ihnen so lange Land weg, bis sie freiwillig gehen. Wehe, wenn sie es wagen würden, eine dritte Intifada loszutreten, was ihnen das bringt, wissen sie aus der Vergangenheit. Sie können auch nach Den Haag gehen, Israel wegen Menschenrechtsverbrechen anklagen. Doch das funktioniert ja nicht, Israel ist doch schließlich die ‚einzige Demokratie‘ im Nahen Osten und hat die ‚moralischste Armee der Welt‘ – das werden die gojischen Richter schon noch begreifen."5

Quellenangaben

  • 1 In unserem sehr umfangreichen Artikel in der ZS 80 über die wahren Hintergründe des 1. Weltkriegs erfahren Sie auch, welch wichtige Rolle hierbei die von einem Rothschild mitgeplante Gründung des künftigen Judenstaats gespielt hatte: Der infame Erste Weltkrieg
  • 2 Das arabische Wort „Nakba“ bedeutet dasselbe wie das jüdische Wort „Schoah“ für den Holocaust, nämlich „Katastrophe/Unglück“.
  • 3 2005 hatte Israel trotz heftiger Tumulte der betroffenen 10‘000 Siedler den Gazastreifen von jüdischen Siedlungen geräumt. Die verbliebenen zwei Millionen Palästinenser leben eingepfercht in einem Ghetto, das nur wenig größer ist als ein Viertel von Berlin.
  • 4 hebräisches Wort für „Nichtjuden“
  • 5 Tachles Zeitung, 1. September 2017