Alchemie: Die göttliche Philosophie

Die Alchemie will die Natur verstehen lernen und sie so zur Vollendung bringen. Ihre Geschichte und ihr Einfluß reichen vom alten Ägypten bis in unsere Tage.

Der Alchemist versucht, die Natur zu verfeinern und zu vollenden.

Der Alchemist versucht, die Natur zu verfeinern und zu vollenden.

Vernetztes Denken und Ganzheitlichkeit sind Forderungen, die wir heute wieder an die Wissenschaft stellen. Im Grunde meinen wir damit, daß die moderne Wissenschaft wieder zurückfinden muß zur wahren Alchemie. Denn diese umfaßte Religion, Kunst und Wissenschaft; sie war in der Tat allumfassend. Bonus von Ferrara nannte im 14. Jahrhundert die Alchemie den „Schlüssel zu allen guten Dingen, die Kunst aller Künste, die Wissenschaft aller Wissenschaften." Laut Paracelsus ist ihr Ziel die ‚Vollendung der Natur‘.

Man sagt, die Alchemie gehe auf den ägyptischen, gottgleichen Weisen Hermes Trismegistos zurück, den dreimal größten Hermes, weshalb man sie auch oft als Hermetische Philosophie bezeichnet.

Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die Alchemie die akzeptierte Methode der Naturerkenntnis. Erst mit dem 19. Jahrhundert beginnt ihr Niedergang. Ihre Wurzeln liegen in der ägyptischen Mysterientradition (alchemistisch wird daraus Sulphur = Seele), der griechischen Philosophie (Merkur = Geist) und den technischmetallurgischen Kenntnissen der Handwerker und Schmiede (Sal = Salz).Allein aus dem letztgenannten Zweig erwuchs die moderne Chemie.

Schon 1758 schrieb Antoine Pernety über die Unterschiede der wahren hermetischen Alchemie und der falschen vulgären Chemie: „Die Alchemie ist eine Wissenschaft und die Kunst ein Pulver herzustellen, das unedle Metalle in Gold verwandelt und als universelles Heilmittel gegen alle natürlichen Übel des Menschen, der Tiere und der Pflanzen wirkt. Die wahre Alchemie besteht darin, Metalle zu veredeln und die Gesundheit zu erhalten. Die falsche zerstört beides. Die erste benutzt die Mittel der Natur und ahmt ihre Operationen nach. Die zweite arbeitet mit fehlerhaften Prinzipien und benutzt als Mittel Unterdrücker und Zerstörer der Natur."

Der Alchemist betrachtet die Natur als seine Lehrmeisterin und sein Vorbild, nach deren Gesetzen er die Metalle zur Vollendung bringen will. Für den modernen Chemiker ist die Natur ein Steinbruch, dessen Rohstoffe beliebig verwertbar und ausbeutbar sind. Die Alchemie arbeitet mit der Natur, die Chemie unterdrückt sie. So schreibt denn auch Helmut Gebelein in seinem Buch ‚Alchemie‘: „Die Zergliederung der Körper in immer kleinere Teilchen liegt nicht im Interesse der Alchemisten. Ihr synthetisch ausgerichtetes Interesse richtet sich auf die Vervollkommnung der Stoffe. Gold, als das vollkommenste Metall, besteht zu gleichen Teilen aus den drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur (Körper-Seele-Geist). Deshalb, und nicht wegen seines materiellen Wertes, schätzen die Alchemisten dieses Metall so hoch ein."

Daß das Ganze mehr ist als seine Einzelteile, versuchte ein anonymer Alchemiker der analytischen Chemie schon vor einigen hundert Jahren klar zu machen: „Sie geben den Chemikern Wein und bekommen Tannin, Alkohol und Wasser zu gleichen Teilen zurück. Was fehlt? Der Geschmack, das heißt gerade das, was den Wein ausmacht, also alles. – Da sie drei Substanzen aus dem Wein herausgeholt haben, meine Herren Chemiker, sagen sie: Der Wein besteht aus diesen drei Substanzen. Machen Sie Wein daraus oder ich sage Ihnen: Es sind drei Substanzen, die Sie aus Wein erhalten haben, mehr nicht."

Die moderne Chemie ignoriert das Immaterielle in der Natur und vernachlässigt über dem Quantitativen das Qualitative. Deshalb lächelt diese Tochter noch heute mitleidig über ihre Mutter, die Alchemie, und vergißt, daß wohl kaum über 1'000 Jahre lang die kenntnisreichsten und herausragendsten Männer wie Francis Bacon, Spinoza, Leibniz, Galilei und viele andere an die Alchemie geglaubt hätten, wenn ihre Wurzeln nicht im Grund der Naturgesetze verankert gewesen wären.

Alchemiker wie Fulcanelli, Alexander von Bernus oder Frater Albertus lehrten, daß der Selbstfindungsprozeß und die Laborarbeit nicht zu trennen seien. Je reiner die Seele, desto größer der Erfolg im Labor. Fulcanelli teilte die Alchemie in drei verschiedene Bereiche ein: Spagyrik, Archimie und hermetische Philosophie.

Der Begriff Spagyrik wird Paracelsus zugeschrieben; heute weiß man jedoch, daß ihn der Neuplatoniker Plotin bereits im 3 .Jahrhundert n. Chr. benutzt hatte. Die Spagyrik umfaßt vor allem das Wissen über die Herstellung von Heilmitteln, aber auch die Kenntnisse über Keramik und die Herstellung von Glas, Farbpigmenten und Branntwein; kurz: die chemisch-technischen Kenntnisse.

Jene Spagyriker, die sich auf die Bearbeitung mineralischer Stoffe beschränkten, also auf die Vervollkommnung und Transmutation der Metalle, betrieben nach Fulcanelli Archimie. Spagyrik und Archimie sind also exoterische Wissenschaften. Sie sind die Vorläufer der modernen Chemie.

Die wahre Alchemie, oder hermetische Philosophie, ist eine esoterische Wissenschaft, deren Geheimwissen nur mündlich vom Meister an den Schüler weitergegeben wurde.

Griechische Wurzeln der Alchemie

Pythagoras (570 - 496 v. Chr.) wird von den Alchemisten oft als einer ihrer bedeutendsten Ahnherren genannt. In Theben soll er in alle Mysterien, Künste und das Wissen der ägyptischen Priesterweisen eingeweiht worden sein, was man als Hinweis auf sein hermetisches Wissen nimmt. Denn die Priester aus Memphis und Theben galten als Eingeweihte der ‚Göttlichen Kunst‘ (semitisch ‚Al/El‘ = Gott). Sie waren zugleich Wissenschaftler, da man der Ansicht war, daß nur der spirituelle und geistig geschulte Mensch in die Lehren der Wissenschaft eingeweiht werden dürfe. In ihren Tempeln standen Laboratorien, wo sie alchemistische Versuche vorführten, zum Beweis, daß sich im hermetischen Gefäß dasselbe abspielt, was Gott durch seine Schöpfung geschaffen hat.

Pythagoras nun gilt als Erfinder des Begriffs Philosophie und des Geldes. Er lehrte die Wiedergeburt und führte eine Kosmologie ein, worin die Zahl das Wesen aller Dinge ist.: „Alles, was man erkennen kann, läßt sich auf eine Zahl zurückführen." Damit meinte Pythagoras nicht nur die quantitativen Verhältnisse, sondern auch Qualitäten und Eigenschaften, die er mit den einzelnen Zahlen in Verbindung brachte. Er lehrte zudem die ‚Sphärenmusik‘, nach der Tonschwingungen und Planetenbahnen in bestimmbaren Zahlenverhältnissen zueinander stehen. In seiner Tradition standen Kopernikus oder Giordano Bruno und Galileo Galilei, die beide als Hermetiker von der Kirche verfolgt wurden (Bruno nannte die Hermetik die ‚vormalige, wahre Philosophie‘).