Die Kuh ohne Hörner

Eigentlich will der Bauer ja nichts Böses, wenn er den Kühen die Hörner absägen läßt. Einige Allgäuer Landwirte spürten jedoch, daß es Verstümmelung ist, was da als harmlos abgetan wird. Analysen des Blutes und der Milch von enthornten Kühen geben ihnen recht.

Es war die Sache mit Gerta, die auf Martin Bienerth einen tiefen Eindruck machte. Obwohl es der 1. August 1989 war, hatte es morgens auf der Graubündner Alp naß geschneit. „Gegen halb neun Uhr stallten wir die Kühe aus, der Schnee war naß und blieb nicht liegen. Ich putzte noch notdürftig die Ställe und zog mich winterfest an. Dann eilte ich den Kühen hinterher, die schon außer Sichtweite waren. Die meisten von ihnen zogen erwartungsgemäß Richtung Grava, doch einige waren am Hang ob der Ebene zu sehen. Dort war der Schnee liegen geblieben und ich wurde unruhig,“ erzählt der diplomierte Ingenieur Agronom aus dem Allgäu, der schon viele Sommer mit Kuhherden auf Schweizer Alpen verbracht hatte. „Mit äußerster Spannung und ewiger Geduld, um ja kein Tier zu plötzlichen Bewegungen zu veranlassen, konnte ich drei Kühe durch den Schnee am Hang halbrutschend nach unten begleiten, wo es ungefährlicher war.“

„Unten suchte ich die zwei Kühe, deren Rutschspuren ich gesehen hatte und fand nur eine verletzte Kuh. Gerta stand benommen da, umringt von zwei Stallgefährtinnen, freßunlustig mit hängendem Kopf. Viele Falten zwischen Ohren und Augen zeigten mir ihre Schmerzen. Das rechte Horn war zusammen mit dem Knochen abgebrochen, hing jedoch am Kopf, und es blutete stark.“ 

Kuh mit Hörnern

Von Auge zu Auge, von Herz zu Herz.

Am nächsten Tag kam Robert, der Bauer, dem Gerta gehörte, mit einer Tüte voller Gipsbinden auf die Alp. „Daß ein Bauer versuchte, ein Horn seiner Kuh zu retten, war für mich ein erstaunliches Erlebnis, hatte ich doch eine zunehmende Tendenz bei vielen Kollegen erfahren, die ihre Kälber enthornten.“ Martin Bienerth hatte starke Zweifel, daß Roberts Vorhaben gelingen könnte. Durch die ständige Erschütterung beim Laufen würde der Knochen nicht anwachsen können, dachte er. Beim Weiden im Gebüsch würde die Kuh immer wieder mit ihren Hörnern irgendwo hängen bleiben, oder das Anwachsen würde durch Gerangel mit anderen Kühen vor, im und nach dem Stall behindert. Außerdem würde es Gerta beim Heilungsprozeß sicherlich jucken, so daß sie sich mit den Hörnern an Grasböschungen oder Bäumen kratzen würde. Doch Martin Bienerth sollte eines Besseren belehrt werden: „Den ganzen restlichen Sommer beobachtete ich Gerta und ihr eingegipstes Horn. Gerta vermied das Gebüsch, ging Rangeleien aus dem Weg und hielt beim Einstallen ihren Kopf schief mit dem kranken Horn nach oben. Über einen Monat lang konnte ich beobachten, daß sich das Horn noch bewegte, also immer noch nicht festgewachsen war. Nach dem Alpabtrieb erzählte mit Robert, daß Gerta wieder zwei feste Hörner hätte, nachdem er ihr die Gipsbinden abgenommen hatte.“

Der Laufstall ist schuld

Einer Kuh ist es also offensichtlich nicht egal, ob sie Hörner hat oder nicht. Ihr Horn ist kein gefühl- und ‚lebloser’ Teil ihres Körpers, den man genauso schmerzlos abschneiden könnte wie der Mensch sein Haar. Das zeigt auch der Fakt, daß die Hörner spürbar warm und wärmer werden, wenn eine Kuh kräftig und behaglich wiederkäut.

Achtzig Prozent aller Kühe gehen heute jedoch hornlos durch ihr meist kurzes Leben, das nur noch fünf bis sechs Jahre dauert statt wie früher über zehn. Sind die Bauern, die ihre Kühe enthornen, also sadistische Tierquäler?

Ganz und gar nicht. Fatalerweise hat die Enthornung der Kühe nämlich ursprünglich tierfreundliche Gründe. Statt die Kühe dicht an dicht angebunden im Stall zu halten, wollte man ihnen mehr Freiraum verschaffen – so, wie ihn der Mensch eben schätzt. Ob’s der Kuh auch wirklich lieber ist, sich ihren hierarchischen Platz jeden Abend neu auf der Liegewiese im Laufstall erkämpfen zu müssen, daran dachte der Mensch, der ein soziales Wesen ist, nicht. Die Kuh jedoch ist nicht sozial. Sie ist ein Herdentier. Für sie herrscht Hierarchie. Eine Rangordnung, die eingehalten werden muß.

Mag sein, daß einige Bauern plötzlich ihre Tierliebe entdeckten, weil sich zeigte, daß ein Laufstall im Kosten-Nutzen-Verhältnis billiger ausfällt als ein konventioneller. Man konnte mehr Kuh pro Quadratmeter unterbringen, und auch die Einrichtung war preiswerter. Das einzige, was die Harmonie jetzt noch störte, waren die Hörner. Zu viele Kühe auf eigentlich zu wenig Raum, der keinerlei Strukturen aufwies, um die Hierarchie oder den angestammten Platz zu gewährleisten, führten zu Rangeleien und Kämpfen. Also mußten die Hörner ab. Nicht daß die hornlosen Kühe ihre hierarchische Stellung nicht verteidigen würden. Die Verletzungen sind jetzt einfach innerlich, wenn Schädel auf Schädel kracht, und das Blut, das dabei fließen mag, sieht man nicht mehr.

Im Allgäu manifestierte sich vor einigen Jahren erstmals der Widerstand – oder sollte man sagen: geschärftes Bewußtsein? Da gab es Bauern, die sich mehr Gedanken als üblich über ihre Kühe machten, wie beispielsweise Michael Köhnken1 : „Die Kühe dienen uns, indem sie uns Milch, Fleisch und vor allem ihren Dünger schenken. Indem wir diesen Dienst annehmen, sind wir aufgefordert, einen Ausgleich zu schaffen. Dies können wir nur durch einen liebevollen Umgang – indem wir dafür Sorge tragen, daß die Kuh alles hat, was sie braucht. Handeln wir in diesem Sinne, wenn wir ihnen die Hörner nehmen?“ Anders gesagt: Ist ein Stall, der die Verstümmelung seiner Bewohner erfordert, wirklich tierfreundlich? Doch bislang hatte man sich einfach keine Gedanken darüber gemacht, ob denn diese Hornzapfen, die da auf dem Kopf der Kuh wuchsen, irgendeinen Sinn und Zweck haben könnten. Nur gottesfürchtige Bauern wie Jakl Köhler dachten anders: „Wir gehen davon aus, daß sich unser Herrgott bei der Schöpfung der Tiere schon Gedanken gemacht hat. Das sollte sich jeder überlegen, bevor er unserem Schöpfer ins Handwerk pfuscht.“

Die Allgäuer Bauern beließen es aber nicht bei philosophischen Betrachtungen, sondern begannen, die Kuh, ihre Milch, ihr Blut und ihren Urin zu studieren. Waren die Hörner nur Schmuck, oder dienten sie einem tieferen Zweck? Und wenn ja – wie würde sich ihr Fehlen auf die Produkte der Kuh und ihr eigenes Sein auswirken?

Wozu sollen Hörner gut sein?

„Die Natur macht nichts vergeblich“ sprach der griechische Philosoph Aristoteles vor gut 2'300 Jahren. Also muß wohl auch das Horn zu irgend etwas nütze sein. Da ist es wohl kein Zufall, daß die Hörner des Kalbs just in dem Augenblick zu sprießen beginnen, da es im Alter von zwei bis drei Wochen erstmals feine Gräser und Kräuter knabbert. Vielleicht lohnt hier einmal ein kurzer Blick auf die Evolution der Tiere, wie ihn der Allgäuer Bauer Helmut Hoffmann im Büchlein Die Kuh und ihre Hörner2 gewagt hat. Er macht sich darin Gedanken über den Zusammenhang vom Wiederkäuen und Hörnern, bzw. Geweihen: „Erst die Giraffen bilden einen ausgesprochenen Wiederkäuermagen aus. Sie versuchen auch als erstes, Stirnbeinaufsätze zu bilden. (…) Was bei der Giraffe gleichsam in einem Versuch stehenblieb, ist bei den Hirschen vollendet: das Geweih. Die Hirsche haben einen vollkommenen Wiederkäuermagen. Aber als Verdauungstier machen sie auch einen Schritt zurück. Sie sind Nerven-Sinnestiere. Sie sind ganz wach nach außen, ihnen fehlt die Schwere des Rindes. Das Geweih wird abgeworfen und jedes Jahr neu gebildet. (…) Als nächstes betrachten wir die Antilopen. Bei ihnen näherte sich der Schöpfer dem reinen Wiederkäuertypus. (…) Keine dieser Arten konnte zum Haustier werden. Sie haben zwar alle Stirnbeinaufsätze und Hörner, aber das Stirnbein ist noch nicht zu einer Ausdehnung gekommen wie beim Rind. Auch sind die Hornzapfen trotz zum Teil wundervoller Hörner noch nicht hohl. Ausgenommen bei den Gemsen, den einzigen europäischen Antilopen. Sie bilden den Übergang zu den Ziegen und zu den Schafen. Bei beiden ist der Wiederkäuertypus zu einer großen Vollendung gekommen. Nur das Stirnbein hat noch nicht die Vollendung wie bei den Rindern, der letzten Stufe der Verdauungstiere. (…)

Nun sind wir aufgestiegen zum idealen Wiederkäuertypus, dem Rind, wie es sich in unseren Hausrind-Rassen verkörpert, die alle vom Auerochsen abstammen: (…) Die Kuh hat bemerkenswert stark ausgebildete Stirnhöhlen, die sich, je älter sie werden, bis in die Spitzen des Hornzapfens fortsetzen. Die Stirnhöhlen einer Kuh mit zwei bis drei Kälbern reichen erst gut bis zur Hälfte des Hornzapfens. Dieser Hornzapfen ist nun mit dem Horn überzogen. Zwischen Hornzapfen und Kopf findet eine starke Durchblutung statt. Außerdem ist es stark mit Nerven durchsetzt. Schon bei der Bildung des Hornzapfens verdichtet sich die Haut, durch starke Fältelung des Unterhautgewebes bildet sich das Horn. Das wirkt so stark krümmend, daß der Hornzapfen nicht auswachsen kann zum Geweih, wie beim Hirsch.

In diesem Horn wirken starke Rückhaltekräfte. Wenn die Kuh nun wiederkäut, wenn sie den Panseninhalt aufstößt, kommen auch Gase mit hoch. Diese vermischen sich mit der Luft, die ausgeatmet wird und dringen in die Stirnhöhlen hinein bis in die Hornzapfen. Dadurch hat die Kuh nach außen hin ein verhältnismäßig dumpfes Bewußtsein. Das Gehirn ist wie umnebelt. Auch Kräfte, die vom Inneren der Kuh ausstrahlen, werden durch die Hörner aufgehalten und ins Innere wie von einem Spiegel zurückgestrahlt. Die Hörner nehmen dadurch wahr, was in der Verdauung geschieht. Die Gase und die Kräfte und alles, was in den Hörner wahrgenommen wird,3 wird in den Verdauungstrakt zurückgestrahlt.“

Der Hautarzt Lüder Jachens aus Stiefenhofen sieht in den Hörnern der Kuh eine Art ‚Saugorgan’ für das Licht aus dem Kosmos. „Durch die Hörner erstreckt das Licht seine Wirkungen in den tierischen Organismus bis in den Verdauungstrakt; hier wirkt es, bildlich gesprochen, als ‚Gärtner’ beim Aufrechterhalten der weisheitsvollen Ordnung der Mikroorganismen, die nötig sind für die Verdauung von Zellulose.“

Und Helmut Hoffmann merkt an: „Alle Kräfte, die von den Hörnern ins Innere zurückgestrahlt werden, es beginnt schon im Pansen, geben der Kuh die Kraft, aus Kohlehydraten (Zellulose) mit Hilfe von Bakterien Eiweiß zu bilden.“
Je rohfaserreicher das Futter ist, desto größere Hörner haben die Tiere.

Je stärker also die Stoffwechselfähigkeit ausgebildet sein muß, desto stärker und mächtiger sind die Hörner oder das Geweih. Extrembeispiele sind das Zebu-Rind, das sich in der kargen Steppe des afrikanischen Tschad ernährt, oder der nordische Elch mit seinen gigantischen Geweihschaufeln, der täglich bis zu zwei Zentner schwer verdauliche Blätter, Moose und Gräser aufnimmt. Auch beim Rind finden sich diese Unterschiede: Rassen in den Niederungen an der Nordsee, wo viel leicht verdauliches Grünfutter fast während der ganzen Jahreszeit zur Verfügung steht, haben nur kleine Hörner, während das schottische Hochlandrind, das schwer verdauliches, karges Futter frißt, sehr auslandende Hörner trägt.

„Wenn wir nun der Kuh die Hörner wegnehmen“, schreibt Bauer Helmut Hoffmann, „sie samt dem Hornzapfen entfernen, hat sie eine eingeschränkte Wahrnehmung von ihrer Verdauung. Folglich können ihre Produkte, Milch und Mist, die sie eigentlich der Erde und dem Menschen schenken will, keine gute Qualität mehr haben. Die Erde wird unfruchtbar und der Mensch krank.“

Der Hautarzt Lüder Jachens beobachtet nicht nur in seiner Praxis eine stetige Zunahme von Kuhmilchallergien. „Warum kann ein Glas Milch beispielsweise bei manchen Kindern eine bestehende Neurodermitis innerhalb von Stunden bis Tagen drastisch verschlechtern? Neurodermitis, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und speziell auch die Unverträglichkeit von Kuhmilch bis hin zur Allergie auf Kuhmilchproteine haben in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg in allen hochindustrialisierten Ländern außerordentlich zugenommen.“ Der Arzt ist überzeugt, daß neben einem allgemein geschwächten Immunsystem und einer Schwächung der Verdauungskräfte bei vielen Menschen auch die Verschlechterung der Milchqualität dabei eine Rolle spielt. Nicht nur ist die Milch enthornter Kühe mangels Lichtaufnahme und geordneter Verdauung zu „schwer“, zu „mastig“ und „nicht genügend durchlichtet“, auch anderswie verhindert die moderne Landwirtschaft, daß die Milch für den Menschen noch das ist, was sie im Altertum war, als man das Paradies als „Land wo Milch und Honig fließen“ definierte – nämlich durch:

  • moderne Zuchtbemühungen zur Maximierung der Milchleistung;
  • Versorgung mit eiweiß- und energiereichem Kraftfutter;
  • häufige Grasschnitte, erster Schnitt vor der Blüten- oder Samenbildung;
  • Überdüngung der Wiesen und Weiden;
  • Beeinträchtigung einer natürlichen Bakterienbesiedlung der Kuhmilch durch die Kühlung der Milch direkt nach dem Melken.

Quellenangaben

  • 1 Siehe Broschüre Die Kuh und ihre Hörner, Arbeitskreis Hörner tragende Kühe, Bio-Ring Allgäu.
  • 2 Siehe Broschüre Die Kuh und ihre Hörner, Arbeitskreis Hörner tragende Kühe, Bio-Ring Allgäu.
  • 3 Hervorhebung durch die Redaktion