Russland: Der Selbstbedienungsladen wird geschlossen

Der russische Bär ringt mit der Schlange des Großkapitals um die Vorherrschaft im größten Land der Welt. Handelt es sich jedoch wirklich um einen Kampf zwischen ‚reaktionären Bürokraten' und ‚liberalen Demokraten', wie es uns die Massenmedien weis machen wollen? Und was hat das alles mit dem wachsenden Antisemitismus in Rußland zu tun?

High Noon im Wilden Osten: Am 25. Oktober 2003 verhafteten Agenten des russischen Inlandgeheimdienstes FSB Michail Chodorkowski, mit geschätzten neun Milliarden Dollar Privatvermögen reichster Mann Rußlands. - Gleitet Rußland in eine Diktatur der Bürokraten ab? Wird der Antisemitismus in Rußland nun staatlich sanktioniert? - Solche Fragen werden in westlichen Medien häufig gestellt, seit im Moskauer Gefängnis ‚Matrosenruhe' der reichste Häftling der Welt einsitzt. Chodorkowski, dem einzigen Sohn einer jüdischen Arbeiterfamilie, werden unter anderem Untreue, Betrug, Unterschlagung und Steuerhinterziehung zur Last gelegt, die den Staat angeblich um eine Milliarde Dollar prellten.

Spiegel 45 / 2003

Im Machtkampf zwischen Rußlands Präsident und seinen Oligarchen lieben es die westlichen Medien, zu polarisieren.

Der Sturz Chodorkowskis löste in westlichen - vor allem in amerikanischen - Wirtschaftskreisen einen Schock aus, hatte der Russe doch noch zehn Tage vor seiner Verhaftung in Washington für eine Teilfusion zwischen den US-Erdölmultis ExxonMobil oder ChevronTexaco und der größten russischen Erdölgesellschaft Jukos/Sibneft geworben, deren Chef Chodorkowski war.

Die Finanzpresse des Westens orakelte schnell vom ‚Ende der Marktwirtschaft' und malte das drohende Menetekel einer ‚Rückkehr zur staatlichen Kommandowirtschaft' an die Wand. Der Spiegel schrieb gar, mit dem Tag der Verhaftung Chodorkowskis sei der Kapitalismus in Rußland zum zweiten Mal gestorben. - Oder ist Putin vielmehr der Beschützer des russischen Volksvermögens, damit dieses nicht länger von einigen Erzkapitalisten ausgeplündert werden kann, wie andere Stimmen behaupten?

Auch in Rußland herrschen nun nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Planwirtschaft die Vorzüge des Freien Marktes. Doch was haben seine Segnungen dem russischen Volk seit der Wende von 1989 gebracht? Nichts. Jeder vierte Russe lebt unter der Armutsgrenze: 39 Millionen Menschen mußten Ende 2000 mit weniger als 43 Dollar pro Monat auskommen.

Heute, im Jahre zwölf nach dem Ende der Sowjetunion, lebt die Bevölkerung auf dem Land durchschnittlich von monatlich 49 Euro; in der Stadt sind es 200 Euro. Die Lebenserwartung liegt unter jener im russischen Zarenreich: Männer werden im Schnitt nicht älter als 59 Jahre.

Boris Jelzin: von fremden Interessen gekauft

Dies ist um so erstaunlicher, als Rußland eines der an Bodenschätzen reichsten Länder der Erde ist und in den vergangenen Jahren viele Rohstoffe ins Ausland exportiert hat. Boris Jelzin, der Michael Gorbatschow als russisches Staatsoberhaupt ablöste, gilt als der große Reformator Rußlands. Unter seiner Ägide wurde die Privatisierung der Wirtschaft eingeleitet, blühte der Raubtierkapitalismus, denn Jelzin und sein Clan waren durch und durch korrupt.

Mit getricksten Auktionen überließ er den russischen Oligarchen die saftigsten Stücke der russischen Wirtschaft für ein Butterbrot. 1995 verscherbelte Jelzin den Jukos-Konzern beispielsweise für 300 Millionen Dollar, obwohl der eigentliche Wert bei 40 Milliarden lag. Die Geldbarone finanzierten Jelzin im Gegenzug die Wiederwahl.

Wichtige Banken und einflußreiche Medien (TV-Sender und Zeitungen) wurden 1988/89 beinahe kostenlos an die späteren ‚Oligarchen' übertragen, beispielsweise an Boris Beresowski und Wladimir Gussinski. Mit ihren Medien skandierten sie ununterbrochen Werbeslogans für Privatisierung und Globalisierung.

Wenig später gingen praktisch die gesamten Öl-, Kohle-, Gas- und Diamantenreserven in Privatbesitz über. "Jelzin gewann mit Unterstützung der Oligarchen die Wahlen und wandte sich vom Geheimdienst weg, hin zu den Oligarchen, die fortan die Politik bestimmen und die Bodenschätze des Landes nun frei ausplündern konnten." (Die Welt, 24.9. 2003)

Ende September 1993 wehrte sich das russische Parlament gegen diese Ausbeutung und rief die Bevölkerung dazu auf, dem "Privatisierungs-Handlanger" Jelzin die Gefolgschaft zu verweigern. Am Morgen des 4. Oktobers 1993 erteilte Boris Jelzin dann den Befehl, das russische Parlament mit Granaten zu beschießen. Viele Demonstranten starben. Vor dem Sturm auf das Parlament flog US-Vizepräsident Al Gore eigens nach Moskau, um sich von Boris Jelzin versichern zu lassen, daß die Privatisierung unter allen Umständen weitergehen werde - was sie auch tat.

Die Allianz mit den Oligarchen verschaffte dem korrupten Jelzin ein Riesenvermögen. Insider munkelten gar, daß er und die Oligarchen die Dollar-Milliarden sogenannter ‚Rußland-Hilfe' des Internationalen Währungsfonds auf private Konten ins Ausland umgeleitet hätten.

Boris Beresowski: vom Mathematiklehrer zum Milliardär

Die prominenteste Figur der Oligarchen war zu Jelzins Zeiten Boris Beresowski, der es bis zum stellvertretenden Chef des russischen Sicherheitsrates und Tschetschenien-Beauftragten brachte. Letzteres Amt offenbarte übrigens, nach welchem Strickmuster Beresowski seine Spielchen spielte: Ihm nahestehende Personen erklären, Beresowski provoziere vorgängig eine politische Konfliktsituation, um dann als Retter in der Not auftreten und eine passende Lösung präsentieren zu können. So finanzierte Beresowski beispielsweise die tschetschenischen Rebellen, knüpfte Kontakte zu den Taliban oder konspiriert heute mit den Kommunisten gegen Rußlands Präsident Putin.

Das kann der schwerreiche Beresowski gefahrlos tun (nach eigenen Angaben verfügt er über drei Milliarden Dollar Investitionsgelder), da er sicher im Londoner Exil sitzt. Die britische Regierung gewährt ihm Asyl, da er in Rußland seit Jahren per internationalen Haftbefehl wegen Veruntreuung gesucht wird. Der Erzkapitalist Beresowski und die Kommunisten sind auf den ersten Augenschein ungleiche Bettgenossen. Doch Beresowski ist jede Hilfe recht, um Putin aus dem Amt zu drängen. "Real gesehen war der viel ältere Jelzin ein Mann der Zukunft", sagte Beresowski nach der Verhaftung Chodorkowskis im Spiegel-Gespräch (45/2003), "der relativ junge Putin ist ein Mann der Vergangenheit. Jelzin war ein überzeugter Liberaler, er glaubte, daß ein sich selbst organisierendes System effektiver ist als ein zentral gegängeltes. Putin ist ein überzeugter Reaktionär."

Mit diesen Worten stoßen wir auf des Pudels Kern: Der sich seit der Verhaftung Chodorkowskis zuspitzende Machtkampf zwischen Putin und den Oligarchen geht letztlich darum, ob der Profit aus Rußlands Rohstoffen weiterhin bloß wenigen Privatleuten zugute kommen darf, oder ob der Staat sich seinen Anteil am Gewinn sichern soll. So schreibt denn Die Welt in ihrer Ausgabe vom 24. September 2003, daß die Kreise um Putin eine neue links-populistische Ideologie entwickelt hätten, die nicht auf westlichen liberalen, sondern auf traditionell-russischen Werten basiere: "Es soll ein neuer Typ des ‚ehrlichen Business' entstehen. Privatwirtschaft soll gefördert werden, aber unter strenger Kontrolle des Staates; strategische Industriezweige sollen sich künftig nicht mehr in den Händen einzelner Personen befinden."

Der Ende Oktober 2003 erfolgte Rücktritt von Alexander Woloschin, dem Kreml-Stabschef, setzte ein wichtiges Zeichen für diese Neuorientierung in der russischen Wirtschaftspolitik. Woloschin, der drittstärkste Mann im Staat, war ein Relikt aus Jelzins Zeiten und bis zuletzt ein vehementer Fürsprecher der Oligarchen.

Die Zeiten stehen schlecht für Beresowski und seine Oligarchen-Clique. Beresowski will zwar in Putins Politik die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges ähnlich der Revolution von 1917 erblicken, als die Bolschewiken Privateigentum enteigneten; doch er hatte keinerlei Skrupel, sich bei der ‚Enteignung des Staats- oder Volksvermögens' - euphemisch ‚Privatisierung' genannt - in kürzester Zeit mehr als nur eine goldene Nase zu verdienen. Der Sohn eines Moskauer Rabbiners stieg vom mittellosen Mathematik-Professor zum Generaldirektor eines Autokonzerns auf und kaufte sich mit den Privatisierungsgewinnen bei Banken, Fluglinien und Ölgeschäften ein. Zudem übte Beresowski mit seinem Fernsehsender ORT großen Einfluß auf die öffentliche Meinung aus.

Noch im ersten Jahr von Putins Amtszeit wurde ORT jedoch verstaatlicht und Beresowski mußte sich Ende 2000 ins Ausland absetzen. Was der russische Präsident von dem Oligarchen hielt, machte Putins Sprecher deutlich: "Beresowski ist ein Bakterium, das in einem zerfallenden Körper haust, aber stirbt, wenn der Körper sich erholt und gesundet." (Jewish Telegraph Agency, 2.4. 2000)

Größter Rohstoffdiebstahl überhaupt

Beresowskis Flucht kommentierte Professor Rudi Dornbusch, Berater der Federal Reserve Bank of New York, mit den lakonischen Worten: "Beresowski hat zuviel Geld gestohlen." Doch nicht nur Beresowski alleine: Ein Bericht, den das in Washington ansässige Center for International Policy am 3. Februar 2003 veröffentlichte, befaßt sich eingehend mit der Rolle der russischen Oligarchen.

"Schmutziges Geld" habe "in den letzten Jahren Hunderte von Milliarden Dollar aus Rußland herausgeschafft. Rußland hat den wohl größten Rohstoff-Diebstahl erlitten, der sich jemals in einer kurzen Zeit ereignet hat. Der während den 90er Jahren entstandene Schaden beläuft sich auf 200 bis 500 Milliarden Dollar." Der Bericht zeigt auf, wie sich Privatleute an den russischen Bodenschätzen bereicherten, beispielsweise am ‚schwarzen Gold': "Einige Oligarchen kauften das russische Öl im Inland für zehn Dollar pro metrische Tonne ein und verkauften es zum ungefähr gleichen Preis an ihre eigenen Strohfirmen im Ausland. Erst dann verkauften sie das Öl für 120 Dollar pro Tonne an fremde Käufer. In vielen Fällen verblieben die gesamten Einkünfte aus solchen Exporten auf ausländischen Bankkonten. Rußland hat nichts davon erhalten." - Das ist Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe.

Putins Kampf - ein Wahlversprechen

Das ist einer der Gründe, weshalb Wladimir Putin gegen die Oligarchen vorgeht, deren Kopf heute der inhaftierte Michail Chodorkowski ist. Der russische Präsident hatte dies seinem Volk schon im Wahlkampf vor bald vier Jahren versprochen. Falls er als Präsident gewählt werde, sagte Putin in einem Radiointerview, "wird diese Klasse der Oligarchen zu existieren aufhören. Solange wir keine gleichen Bedingungen für alle schaffen", erklärte er weiter, "werden wir das Land nicht aus seiner jetzigen Misere herausziehen können."

Zur Jahrtausendwende kontrollierten sieben Financiers die Wirtschaft Rußlands. Diese Oligarchen wurden im Volksmund ‚Die Großen Sieben' genannt. Sechs von ihnen waren Juden, weshalb die tschetschenischen Rebellen den damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin als "treuen Diener des zionistischen Kapitals" bezeichneten.

Dies bestätigt Boris Mironow, der ehemalige Pressesekretär von Boris Jelzin. Im Januar 2002 erklärte der Insider aus der Jelzin-Ära während einer Moskauer Konferenz öffentlich, an Schlüsselstellen sitzende Zionisten hätten unter Jelzin dafür gesorgt, daß sich Oligarchen wie Beresowski Macht und Reichtum aneignen konnten. "Ihre Aktivitäten haben dem neuen Rußland zehn Jahre an wirtschaftlichen Katastrophen eingebracht."

Außerdem, so führte Mironow weiter aus, sei das Wort ‚Globalisierung' im späten 19. Jahrhundert entstanden und habe damals das zionistische Streben nach Weltherrschaft gemeint.