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Als Ramon ins All geschossen wurde

Viele Israeli verschließen die Augen vor dem palästinensischen Leiden. Ein Erfahrungsbericht.

Von Gideon Levy Zur selben Zeit, als der erste israelische Astronaut ins All aufbrach, versuchten Zehntausende Palästinenser - darunter Kranke, Alte u. Kinder - von ihren Dörfern in die nächste Stadt zu gelangen. Und zur selben Zeit, als Ramons Raumfahrzeug seine Erdumlaufbahn erreichte, kämpften sich diese Menschen durch Regen u. Matsch u. versuchten, die Dreckbarrieren zu überwinden, die ihre Dörfer abriegeln. Sie taten dies, weil sie zur Arbeit mußten, zum Arzt, zum Einkaufen. Schwer zu sagen, welche Gedanken diesen Palästinensern durch den Kopf gingen, als sie von Israels hochtrabendem Erfolg erfuhren. Vielleicht fanden einige ja bittern Trost in jenen Zeilen in Emile Habibis Roman 'Der Optimist' ('The Optimist'), als Said al Nahas al Mishtaal, der Held, sagt: "Und jetzt ist uns der Mond also näher als der Feigenbaum, dessen Früchte dieses Jahr lange zum Reifen brauchen, in unserm trauernden Dorf". br Die israelischen Medien waren fleißig dabei, den nationalen Karneval, der diesen Start begleitete, zum allgemeinen Wahnsinn hochzupeitschen: ("Fliege, Ramon, durchstoße du die Himmel", "Ein großer Schritt für Israel", "Den Himmel berühren"), daher hatten sie - wie üblich - keine Zeit, die Qualen der Menschen zu erwähnen, die nichts weiter wollen, als sich hier auf Erden ein wenig zu bewegen. Das Festival, das den Abflug von Oberst Ilan Ramons ins All begleitete, verdeutlicht einmal mehr u. auf akute Weise jenen Kontrast zwischen falscher Ausgelassenheit einerseits u. der grausamen Realität, vor der die meisten Israelis ihre Augen verschließen. Mehr denn je ignorieren die Israelis das palästinensische Leid - ein Leid, das mittlerweile unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Hier (in Israel) nimmt man Palästinenser nur wahr, wenn sie herkommen, um den Tod zu säen. Die einzigen Palästinenser, über die man noch spricht, sind die Selbstmordattentäter. Und die einzigen (palästinensischen) Kinder, die noch erwähnt werden, sind die "Terrorkinder". Nicht über die in Armut lebenden Kinder spricht man, auch nicht über die Waisen, nicht über diejenigen, deren Elternhäuser vor ihren Augen abgerissen werden, auch nicht über die Kinder, deren Väter mitten in der Nacht unter demütigenden Umständen verhaftet werden, Väter, die ohne Gerichtsverhandlung in Haft sitzen - manchmal monate-, manchmal jahrelang - eh sie zurückkehren. Die meisten Zeitungen u. elektronischen Medien erwähnen die Ausgangssperren nicht einmal mehr, ebensowenig die Belagerungen oder die Armut, das Leid. Auch in den Wahlkampagnen ist dies kein Thema. Und nur eine Autostunde von diesem Leid entfernt, können viele Israelis ein ganz normales Leben führen - ein Leben, das während der letzten beiden Jahre kaum Störungen erfahren hat. Aber selbst diejenigen Israelis, die Leid erfuhren - und deren Zahl nimmt zu -, konzentrieren sich nur auf ihr eigenes Leid. In Tel Aviv sind die Cafés u. Restaurants voll mit Menschen, während Dschenin stirbt; das israelische Fernsehen ist voller Unterhaltungssendungen. Aus diesem Grund gilt es auch einige Fakten in Erinnerung zu rufen: Allein während der letzten beiden Wochen wurden 26 Palästinenser getötet - etwas ganz Alltägliches im Grunde. Lediglich 7 der Getöteten trugen Waffen (laut palästinensischer Menschenrechtsorganisation). Bei 10 der Toten handelt es sich um Kinder bzw. Jugendliche. Die Häuserdemolierungen haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Inzwischen reißt man auch schon die Häuser von Terroristen ab, die ihre Tat vor einem oder gar zwei Jahren begangen haben. Immer mehr Familien verlieren ihr Dach über dem Kopf. Kaum ein Tag, an dem keine unschuldigen Zivilisten getötet werden, kaum eine Nacht ohne Zerstörung u. Vernichtung. Allein seit letztem September wurden fast 2000 Palästinenser verhaftet, u. die Zahl derer, die in 'Administrativgewahrsam' sitzen, hat die 1000-Marke überschritten. Letzte Woche besuchten Ärzte von 'Physicians for Human Rights' (Ärzte für Menschenrechte) Kafr al Lubed. Dabei sahen sich diese israelischen Ärzte mit einer schockierenden medizinischen Versorgungslage konfrontiert - Folge der Ausgangssperren sowie der katastrophalen ökonomischen Situation. Schwere Krankheiten können dort überhaupt nicht mehr behandelt bzw. diagnostiziert werden - die Menschen können sich schließlich nicht ungehindert bewegen bzw. haben kein Geld. Die Kinder u. Kleinkinder zeigen Symptome von Unterernährung. Aber das alles brennt sich keineswegs ins Bewußtsein der israelischen Öffentlichkeit ein, denn einerseits wird darüber kaum berichtet, und andererseits interessiert es auch niemanden. Kurz vor Tu Bishvat - dem jüdischen 'Tag des Baumes', den wir gestern begingen -, veröffentlichte das palästinensische Landwirtschaftsministerium eine Statistik bzgl. der Baum- und Landzerstörungen durch die Israelische Armee während der jetzigen Intifada. Danach wurden bisher mehr als eine Dreiviertelmillion Bäume abgeholzt u. mehr als 53'000 Dunams (etwa 5'300 Hektar) Land eingeebnet. Selbst wenn diese Zahlen etwas übertrieben sein sollten, ein kurzer Trip durch die 'Gebiete' genügt, um sich vom Ausmaß der Zerstörungen zu überzeugen. Während also unsere israelischen Kinder am Feiertag Baumsetzlinge pflanzen, sind ihre älteren Brüder dabei, immer noch mehr Bäume abzuholzen - das meiste Olivenbäume bzw. Bäume mit Zitrusfrüchten - die ganze Existenzgrundlage ihrer Besitzer. Ich frage mich: Verschwenden diejenigen, die diese Bäume abholzen, einen Gedanken an die Pflanzaktionen am Tu Bishvat? Nichts spricht dafür, daß sich an dieser Situation in naher Zukunft etwas ändern könnte - ganz im Gegenteil. Es existiert keine kritische Öffentlichkeit - überhaupt keine - und angesichts des zu erwartenden Wahlausgangs muß von Israels Seite aus mit noch härteren Maßnahmen gerechnet werden. Die Palästinenser werden ihre Terroranschläge intensivieren, die Israelis werden ihre Schikanen intensivieren - so daß es, auf Dauer gesehen, selbst einem Astronauten mit blau-weißer Fahne nicht mehr gelingen dürfte, von den blutigen Folgen abzulenken. Quelle: Ha'aretz / ZNet 19.01.2003 Übersetzt von: Andrea Noll Originalartikel: "As Ramon was launched into Space" Nachtrag: Der israelische Oberst Ilan Ramon kam mit weiteren sechs Astronauten ums Leben, als die Us-Raumfähre Colombia am 1.Februar 2003 beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinanderbrach und abstürzte.