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28.05.2020

Balkanisierung des Irak

Ein politischer Vordenker präsentiert eine mögliche US-Lösung für das Besatzungsgebiet am Golf: Aufteilung und Krieg wie in Jugoslawien.
28.05.2020

Von Michel Collon
Sie haben die Lösung gefunden! Den Irak in drei Ministaaten zerlegen und diese dann gegeneinander aufhetzen. Kommt einem das nicht bekannt vor? Allerdings! So etwas geschieht nicht zum ersten Mal ...

Am 25. November 2003 brachte die New York Times einen Kommentar von Leslie Gelb, einem einflußreichen Mann, der bis vor kurzem Vorsitzender des gewichtigen Council of Foreign Affairs war, einer Ideenwerkstatt, die Vertreter der CIA, des Außenministeriums und der US-Konzerne zusammenbringt. Gelbs Plan: Irak durch drei Ministaaten ersetzen: »Kurden im Norden, Sunniten im Zentrum und Schiiten im Süden.« Das Ziel? »Das meiste Geld und die meisten Truppen dort einsetzen, wo sie schnell am meisten Gutes tun - bei den Kurden und bei den Schiiten. Die Vereinigten Staaten könnten die meisten ihrer Truppen aus dem sogenannten sunnitischen Dreieck nördlich und westlich von Bagdad abziehen. (…) Dann könnten die US-Beamten abwarten, bis die unruhigen und dominanten Sunniten ohne Erdöl oder Erdöleinnahmen ihre Ansprüche mäßigen oder die Konsequenzen tragen.« Kurz gesagt, den mittleren Staat um Bagdad aushungern, weil die Sunniten immer die Spitze des Widerstands gegen den US-Imperialismus gebildet haben. Gelb möchte den Irak zerschlagen, indem der Norden (mit kurdischer Mehrheit) und der Süden (mit schiitischer Mehrheit) in »selbstregierende Regionen mit Grenzen, die so weit wie möglich nach ethnischen Linien gezogen sind«, umgestaltet werden.

Die Methode hat in Jugoslawien zu Bürgerkrieg und Blutbad geführt, weil in den verschiedenen Regionen dieses Landes alle bedeutenden Minderheiten vertreten waren und eine Teilung ohne die zwangsweise Verlagerung von Bevölkerungsgruppen nicht möglich war. Berlin und später Washington haben heimlich rassistische Extremisten, die sich nach den Zeiten des Zweiten Weltkrieges zurücksehnten, finanziert und bewaffnet. Internationaler Währungsfonds und Weltbank haben Jugoslawien in den Bankrott getrieben, um es zur Unterwerfung unter den Neoliberalismus zu bewegen, der nach dem Fall der Berliner Mauer triumphierte. Dies machte den Bürgerkrieg nahezu unausweichlich. All dies wurde geflissentlich vor der Öffentlichkeit verschleiert. Genau so, wie man nun vor der Öffentlichkeit die Tatsache verschleiert, daß alle Völker des ehemaligen Jugoslawien in Elend und Arbeitslosigkeit gestürzt wurden, so schlimm wie noch nie zuvor. Inzwischen haben multinationale Konzerne die Kontrolle über die Reichtümer des Landes übernommen.

Auch im Irak leben die drei großen Bevölkerungsgruppen nicht »jede in ihrer eigenen Region«, sie leben meist untereinander vermischt. Im übrigen weiß Gelb ganz genau, daß eine Neuauflage dieser Strategie im Irak erneut aller Wahrscheinlichkeit nach zu ernsten »ethnischen« Konflikten und vielleicht sogar zu Bürgerkrieg führen würde. Zynisch verkündet er, daß der Staat im Zentrum des Irak »größere im Zentrum verbliebene Minderheiten, insbesondere die großen kurdischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen in Bagdad, bestrafen könnte. Diese Minderheiten müssen die Zeit und die Mittel haben, um sich zu organisieren und ihre Vereinbarungen aushandeln oder entweder in den Norden oder den Süden gehen.« Auf diese Weise würden Millionen Menschen gezwungen werden, die Gebiete zu verlassen, in denen sie immer gelebt haben, aber Gelb findet das nicht störend, wenn es den USA ermöglicht, ihre Kolonialherrschaft abzusichern.

Ist der jugoslawische Präzedenzfall nicht Warnung genug? Die Wahrheit ist, daß der Bürgerkrieg in Jugoslawien für Gelb ein großer Erfolg war, weil er es möglich machte, ein Land zu zerschlagen, das sich den multinationalen Konzernen widersetzte. Tatsächlich bezieht sich Gelb offen auf »einen hoffnungsvollen Präzedenzfall … Jugoslawien«. Wirklich merkwürdig! Hieß es nicht, die Vereinigten Staaten hätten dort eingegriffen, um »ethnische Säuberungen« zu verhindern? Keineswegs, räumt er ein: »Ethnisch reine« Staaten sind in Ordnung, wenn sie den Plänen Washingtons dienen.

Während Gelb »ethnisch reine Staaten« (er spricht auch von »natürlichen Staaten«!) propagiert, kritisiert er Tito dafür, daß dieser »höchst disparate ethnische Gruppen« in einem vereinten Jugoslawien zusammengefaßt hat. Gelb behauptet, daß der Irak aus denselben Gründen »ein künstlicher Staat« ist. Gelb greift auf alte Theorien der extremen Rechten zurück. Seine Theorie der »ethnisch reinen Staaten« ist tatsächlich identisch mit derjenigen Hitlers: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Es ist auch eine Theorie, die von den Zionisten übernommen wurde, die von einem »von Arabern gesäuberten« Israel träumen. In Jugoslawien war dies die Theorie der westlichen Schützlinge, des Kroaten Franjo Tudjman und des Bosniers Moslem Alia Izetbegovic. Es war auch die Theorie des rechten serbischen Führers Radovan Karadzic. Es ist schon seltsam, daß die USA Theorien propagieren, gegen die sie einst zu kämpfen vorgaben!

Die Gefahr dieser falschen Theorie reicht weit über den Irak und Jugoslawien hinaus. Die meisten heute auf unserem Planeten existierenden Staaten sind »multinational«. Und vernünftige Leute empfinden diese Mischung der Kulturen als Bereicherung. Wenn man Theorien von »ethnisch reinen Staaten« zuläßt, haben die USA einen Vorwand, jedes »multinationale« Land, das Widerstand leistet, zu zerschlagen.

Tatsächlich läßt Washington seine Absicht erkennen, das internationale Recht und die Souveränität der Staaten mehr und mehr mit Füßen zu treten. Die USA schicken sich an, weltweit das zu tun, was sie in Jugoslawien und Afghanistan begonnen haben und was eine Mehrheit der westlichen Linken hat geschehen lassen, und zwar mit den übelsten Begründungen. Es ist an der Zeit, die Bilanz der verhängnisvollen Allianz dieser Linken mit den Vereinigten Staaten in Sachen Jugoslawien und Afghanistan zu ziehen. Wenn man sich dem globalen Krieg, das heißt der Rekolonisierung der Welt, widersetzen will, dann ist es Zeit, der Verteidigung der Souveränität der Länder der »dritten Welt« zu Hilfe zu kommen, d. h. eines Prinzips, auf dem die UN-Charta beruht. Diese Wendung zum Besseren fand im Jahre 1945 statt, und die USA sind darauf aus, sie zunichte zu machen.

* Der Autor Michel Collon ist Journalist und Balkanexperte

(Übersetzung: Klaus von Raussendorff)
Quelle: http://www.jungewelt.de/2004/01-10/008.php


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