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Befreit den Irak!?

Seit Jahrhunderten hatte der Westen immer wieder mit fadenscheinigen Argumenten versucht, den Nahen Osten zu ‚befreien'. Jedesmal endete es schließlich in einer Niederlage. Präsident Bush täte gut daran, endlich aus der Geschichte zu lernen.

Von Robert Fisk, 'The Independent' 07.03.2003

IrakAm 8. März 1917 gab Generalleutnant Stanley Maude eine "Proklamation an das Volk des Wilayat Bagdad" heraus. Zuvor war Maudes britisch- indische Armee, die 'Army of the Tigres', in den Irak einmarschiert u. hatte diesen besetzt. Von Basra aus hatte man das Land erstürmt - angeblich, um das Volk von seinen Diktatoren zu "befreien". "Nicht als Eroberer, nicht als Feinde kommen unsere Armeen in eure Städte und Ländereien, vielmehr als Befreier", so die Briten.
"Volk von Bagdad, denkt daran, dass ihr seit nunmehr 26 Generationen unter einer fremden Tyrannei leidet, deren beständiges Ziel es ist, die arabischen Häuser gegeneinander aufzuwiegeln, um von euren Zwistigkeiten zu profitieren. Großbritannien und seinen Verbündeten ist diese Politik zuwider, denn wo Feindschaft und Mißwirtschaft regieren, kann weder Friede noch Wohlstand gedeihen".

General Maude war der Tommy Franks* jener Zeit und seine obige Proklamation (nicht ohne Ironie, angesichts Präsident Bushs ganz ähnlich lautender nicht minder verlogener Bekundung) sollte dem Ziel dienen, den Irakis die ausländische Okkupation schmackhaft zu machen. Währenddessen würde sich Großbritannien das Öl des Landes sichern. General Maudes leitender Politoffizier, Sir Percy Cox, rief die arabischen Führer des Irak - ihre Namen sind nicht bekannt -, dazu auf, sich an der neuen Regierung zu beteiligen, das heißt, mit den britischen Amtsträgern in der Regierung zusammenzuarbeiten.
Viel ist dabei die Rede von Befreiung u. Freiheit, von vergangener und künftiger Glorie - aber die größte Ironie: Cox verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, das Volk des Irak werde zur Einheit finden. Der britische Kommandeur kabelt nach London durch, "die lokalen Bedingungen sind so, dass wir nur kompetente britische Offiziere in verantwortlicher Position brauchen können, denn (nur sie) (...) können mit den Menschen des Landes umgehen. Bevor es möglich ist, eine echte arabische Fassade (!) aufzubauen, scheint es nötig, ein sehr gründliches Fundament für Recht und Ordnung zu schaffen". David Fromkin beschreibt in seinem Werk 'A Peace to End all Peace' (Ein Friede, um allen Frieden zu beenden) - dieses Buch sei der künftigen US-Besatzungsarmee im Irak dringlichst ans Herz gelegt -, wie die Antipathie zwischen der sunnitischen Minderheit und der schiitischer Mehrheit im Irak sowie die Rivalitäten zwischen den einzelnen Clans und Stämmen es "erschwerten, eine einzige Einheitsregierung zu formen, die gleichzeitig repräsentativ, effektiv und allgemein akzeptiert sein sollte." Whitehall versagte zudem, so der kaustische Fromkin, "als es nötig war, die großzügigen Versprechungen, die man Teilen der lokalen Einwohnerschaft gemacht hatte, bis ins praktische Detail durchzudenken". Selbst mit den Kurden gab es Schwierigkeiten. Die Briten konnten sich nicht entscheiden, ob diese nun in den neuen Staat Irak integriert werden sollten oder doch einen eigenen unabhängigen Staat Kurdistan bekommen sollten.

Die Franzosen bestanden zunächst auf Mosul, im Norden des Irak, gaben diesen Anspruch jedoch auf, nachdem man ihnen dafür - wieder eine dieser Ironien - einen großen Anteil an der neugegründeten 'Turkish Petroleum Company' (Türkische Petroleumsgesellschaft) zugesichert hatte. Die Briten hatten die Gesellschaft konfisziert und als 'Iraq Petroleum Company' wiederauferstehen lassen.

Wie viele Male seither ist der Westen derart dreist in den Nahen/ Mittleren Osten einmarschiert? Man denke nur an General Sir Edward Allenby, wie der wenige Monate nach General Maudes Irak-"Befreiungsaktion" Palästina "befreite". Auch die Franzosen ließen sich nicht lumpen und "befreiten" einige Jahre darauf Libanon und Syrien. Dabei metzelten sie die syrischen Streitkräfte, die sich loyal gegenüber König Faisal verhielten, einfach nieder. Die syrischen Truppen hatten den Fehler gemacht, die Haltung zu vertreten, eine französische Okkupation sei keine erstrebenswerte Zukunftsperspektive. Wie kommt es, so frage ich mich oft, dass wir anscheinend nicht fähig sind, aus unserer Geschichte zu lernen? Warum wiederholen wir ständig die gleichen großen Versprechungen, die hohlen Lügen (im Falle von General Maudes Irak-Proklamation praktisch Wort für Wort)? Übrigens: Eine Kopie der Originalproklamation wurde letzte Woche bei einer britischen Auktion in Swindon versteigert. Und ich verwette die Summe von 1400 Pfund Sterling, die das Schriftstück gekostet hat, dass die Amerikaner demnächst mit fast der identischen Proklamation aufwarten werden - gerichtet an das "befreite" Volk des Irak.

Werfen wir einen Blick auf Artikel 22 der Covenant des Völkerbunds. Bush behauptet ja, sich mit dieser Materie besonders gut auszukennen. Dieser Artikel gestattete es damals England und Frankreich, die Gebiete, die sie soeben von den ottomanischen Diktatoren "befreit" hatten, unter sich aufzuteilen. "Für die Kolonien und Territorien, die als Folge des jüngsten Kriegs nicht mehr der Souveränität jener Staaten unterstehen, die sie bislang regierten sowie für die dort lebenden Völker, die noch nicht in der Lage sind, für sich selbst einzutreten (...) soll als Prinzip gelten, dass das Wohl und die Weiterentwicklung dieser Völker als heilige Verpflichtung der Zivilisation anzusehen sind (...) Es ist daher am besten, die Vormundschaft über diese Völker vertrauensvoll in die Hände fortschrittlicher Nationen zu legen, die aufgrund ihrer Möglichkeiten, ihrer Erfahrung und geographischen Lage dieser Verantwortung am ehesten gerecht werden können..."

Was ist eigentlich gemeint, wenn man von "Befreiung" des Nahen/ Mittleren Osten spricht? Und was hat es mit jener "heiligen Verpflichtung" auf sich, die der Westen gegenüber dem Nahen/ Mittleren Osten beständig fühlt und realisieren will (jener Geist, der auch aus den werbenden Worten des US-Außenministers Colin Powell klingt, wenn dieser von einer "Treuhänderschaft" über das irakische Öl spricht)? Warum wollen wir diese Völker nur immerzu beherrschen? Sir Steven Runciman - ein exzellenter Historiker, was die Kreuzzugszeit im 11. und 12. Jahrhundert angeht -, hat diese Völker einmal als "Stämme mit Flaggen" bezeichnet. Denken wir an jenen Aufruf, den Papst Urban im Jahr 1095 gestartet hat. Mindestens drei Chronisten jener Zeit berichten ja darüber. Würde dieser päpstliche Aufruf heutzutage ertönen, er würde sicher bei vielen christlichen Fundamentalisten (die - ebenso wie manche Israel-Unterstützer - scharf darauf sind, dass die USA im Irak einmarschieren) auf offene Ohren stoßen.
Damals verkündete Papst Urban seinen Zuhörern, die Türken würden die Bewohner von Christi Land mißhandeln - klingt doch irgendwie nach jener Klage über Menschenrechtsverletzungen, die Bush (angeblich) nicht mehr ruhen läßt, oder? Zudem beklagt Urban das große Leid der Pilger. Das bis dahin in Bruderkriegen verfangene Christliche Abendland wird von Urban zum "gerechten Krieg" gedrängt. Sein Krieg soll natürlich in erster Linie die Christen "befreien", die Muslime eher nicht. Denn kaum waren die Kreuzfahrer im Nahen Osten gelandet, schlachteten sie diese zusammen mit den Juden ab. Die Vorstellung einer "Befreiung" des Nahen Ostens pflegt in fast allen Fällen mit einer weiteren Vorstellung einherzugehen: Wir müssen die Tyrannen stürzen. Die alten Kreuzfahrer planten ihre Invasionen ebenso minutiös wie es das US-Oberkommando in Tampa/Florida heute tut. Marino Sanudo, ein um 1260 geborener Venezianer, hat uns übermittelt, in welcher Weise damals die westlichen Armeen ihre Truppen in Ägypten an Land brachten. Bei der ersten Landung gingen 15'000 Infanteristen an Land, zusammen mit 300 Kavalleristen (Letzteres können wir mit einer Panzereinheit vergleichen).
In meinem Büro in Beirut habe ich Kopien der Invasions-Karten, die die westlichen Armeen in jener Zeit benutzten. Sie datieren aus dem 13. Jahrhundert. Auch Napoleon brachte Invasionskarten heraus, als er 1798 in Ägypten eindrang. Grund für seine Invasion war die angeblich 20jährige gnadenlose Tyrannei der Beys: Murad und Ibrahim Bey. Claude Etienne Savary (die ältere bzw. französische Version jener Washingtoner Experten, die ständig das Leid des irakischen Volks unter Präsident Saddam beschwören), schrieb im Jahr 1775: Im Kairo des Murad Bey "ist der Tod manchmal Folge der kleinsten Indiskretion", "die Stadt stöhnt unter dem Joch" der Beys. Werden uns die Zustände in Bagdad und Basra unter Saddam Hussein nicht haargenau so beschrieben?

Und umgekehrt: Präsident Husseins Drohversprechen, die angreifenden US-Truppen zu zermalmen, klingt erstaunlich wie die Ausrufe jenes ägyptischen Mameluken-Prinzen aus dem 18. Jahrhundert. Als man ihm von der bevorstehenden französischen Invasion berichtete, reagierte er mit den unheimlich vertrauten Worten: "Laßt die Franken ruhig kommen. Wir werden sie unter den Hufen unserer Pferde zermalmen". Natürlich erwies sich Napoleon als der große Zermalmer. Napoleons erste Proklamation vor den Ägyptern (auch er kam ja, das ägyptische Volk von seinen Unterdrückern zu "befreien"), enthielt einen Aufruf an die wichtigen Leute im Land, die er ersuchte, ihn bei seiner Regierung zu unterstützen: "Oh, ihr Scheikhs, 'Qadis", Imams und Stadtbeamte, verkündet eurer Nation, dass wir Franzosen Freunde der wahren Muslime sind (...) Gesegnet all jene in Ägypten, die mit uns einer Meinung sind." Danach setzte Napoleon in Ägypten den sogenannten 'Administrativrat' ein; man darf ihn sich etwa vorstellen, wie jenen Rat, den die Bush-Administration für den Fall einer US-Besatzung des Irak plant. In Napoleons Fall dauerte es nicht allzulange, bis die 'Scheikhs' und 'Qadis' und Imams sich gegen die französische Okkupation in Kairo auflehnten: im Jahr 1798.

Zu Beginn seiner Herrschaft in Ägypten sah sich Napoleon wohl noch als französischer Revolutionär. (Der britische) General Allenby hingegen übergab Jerusalem im Dezember 1917 sozusagen als Weihnachtsgeschenk an den britischen Premierminister David Lloyd George. Später würde Lloyd George mit beinahe kreuzfahrerischer Begeisterung verkünden, die "Befreiung" (Jerusalems) habe es der Christenheit erlaubt, "ihre heiligen Stätten wiederzuerlangen". Lloyd George spricht von der "Enttarnung des türkischen Bluffs", die "der Anfang vom Ende der militärischen Überlegenheitsfarce (der Türken) war. Der Inkompetenz unserer eigenen Kriegsführung ist es geschuldet, dass es dieser (Farce) gelang, uns über Jahre hinweg einzuschüchtern." Klingt ein wenig wie das Bedauern der Amerikaner über die Tatsache, dass sie im Golfkrieg 1991 nicht bis nach Bagdad durchmarschierten, oder nicht? Lloyd George brachte seinen "Job zu Ende", machte Schluß mit der Ottomanen-Herrschaft - so wie Bush Junior jetzt den "Job" seines Vaters "zu Ende" bringen möchte.

Immer - ohne Ausnahme - wollten wir im Nahen Osten irgendwelche Tyrannen oder Diktatoren stürzen. Im Zweiten Weltkrieg "befreiten" wir den Irak zum zweitenmal, diesmal von einer Nazifreundlichen Regierung. Wir Briten "befreiten" auch den Libanon - von der Herrschaft des Vichy-Regimes und haben dem Land die Unabhängigkeit von Frankreich versprochen - ein Versprechen, das Charles de Gaulle solange ablehnte, bis Großbritannien gute Lust hatte, einen Krieg mit 'Free French' in Syrien anzufangen. Der Libanon ist übrigens jenes Land, das erschreckend oft "befreit" wurde. Die Israelis schworen zweimal, sie würden den Libanon vom PLO-"Terrorismus" "befreien". Das war 1978 und 1982. Dabei stellt Israel im Nahen Osten in den Augen der Araber nichts anderes dar, als ein "westlich"-amerikanisches Fremdimplantat. Erst vor zwei Jahren zog Israel schmachvoll aus dem Libanon ab.
Auch die Amerikaner intervenierten 1982 militärisch in Beirut. Die Intervention endete ein Jahr später, nachdem eine Lastwagenbombe vor dem dortigen Hauptquartier der US-Marines explodiert war. Und was sagte damals US-Präsident Ronald Reagan zur Welt? "Der Libanon ist zentral bezüglich unserer Glaubwürdigkeit in der Welt. Wir können es uns nicht aussuchen, wo wir die Freiheit verteidigen (...) Denn falls der Libanon der Tyrannei der Feinde des Westens anheimfällt, würde dies nicht nur unsere strategische Position im östlichen Mittelmeerraum gefährden sondern auch die Stabilität des ganzen Nahen Ostens, und das schließt die reichen Ressourcen der Arabischen Halbinsel mit ein".

Und wie sieht es heute aus: Erneut wollen wir, der Westen, den Nahen Osten vor einer Tyrannei beschützen. Anthony Eden sah das damals bestimmt genauso, als er ganz versessen war, Ägypten von "Diktator" Gamal Abdul Nasser zu befreien. Und auch Napoleon war ganz versessen, die Ägypter vor der Knute der Bey-Tyrannei zu retten. Und General Maude hatte den Irak vor der Türken-Tyrannei retten wollen. Und nun kommt also Präsident Bush Junior an und will die Iraker von der Tyrannei Präsident Saddam Husseins erretten. Immer wenn der Westen einmarschiert, betont er gleichzeitig in Deklarationen, wir Amerikaner oder wir Franzosen oder wir Westler allgemein haben durchaus nichts gegen euch Araber, nur gegen dieses Tier an der Spitze da oben, das haben wir zum Ziel unserer Militäraktion auserkoren. Aber was wurde aus all den hehren Erklärungen? Die Kreuzzüge entwickelten sich zum Gau für das Verhältnis zwischen der christlichen und der muslimischen Welt. Napoleon mußte gedemütigt aus Ägypten abziehen. Großbritannien vergaste die aufständischen Kurden im Irak** und sah anschließend ein, dass dieses Land nicht zu regieren ist. Aus Palästina wurden die Briten zuerst durch die Araber und dann durch die Juden vertrieben - sowie aus Jerusalem. Die Franzosen mußten jahrelang gegen syrische Aufständische kämpfen. Die Amerikaner zogen 1984 aus dem Libanon ab - zusammen mit Frankreich.

Was wird im Irak in den kommenden Monaten vor sich gehen? Welchen Preis werden wir für unsere Verrücktheit diesmal zahlen - für unsere Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen? Erst wenn die Amerikaner ihre Besatzung voll etabliert haben, können wir darüber Auskunft geben. Dann nämlich werden die Irakis ein Ende der Okkupation fordern, dann wird der Volkswiderstand gegen die amerikanische Präsenz bei Schiiten, Kurden und selbst den Sunniten langsam aufbrechen und den militärischen "Sieg" zerstören - jenen Sieg, den Präsident Bush ohne Zweifel schon proklamieren wird, wenn die ersten US-Truppen in Bagdad einmarschieren. Erst dann wird für uns Journalisten die wahre "Geschichte" beginnen. Denn erst dann wird sich das hohle koloniale Geschwätz entlarven: Wie notwendig es doch sei, Tyrannen und Diktatoren zu stürzen und das Leid der Völker im Nahen Osten zu lindern. Wir und ausschließlich wir seien die wahren Araber-Freunde, die Leute, die in der Lage sind, diesen Menschen zu helfen. Ich will mal eine Prognose wagen: In den Monaten u. Jahren nach dieser Irak-Invasion wird sich herausstellen, dass die Amerikaner mit ihrer Arroganz - mit der sie aus der Asche einer mittelöstlichen Diktatur "Demokratie" formen wollen und so nebenbei das Öl mitnehmen -, ebenso scheitern wie damals die Briten in Palästina. Damals hatte Winston Churchill geschrieben - und seine Worte sind auf die USA/Irak-Sache wie gemünzt: "Zuerst ging man über große, flache Stufen, auf denen ein Teppich ausgebreitet lag. Aber zuletzt zerbröckelten selbst die Steine unter ihren Füßen".

Anmerkung d. Übersetzerin:
* General Tommy Franks leitet das Oberkommando der US-Streitkräfte
**Seit 1920 hatten die Briten bis in die 30ger Jahre hinein immer wieder Giftgasbomben, die sie vom Flugzeug abwarfen, gegen die rebellischen Stämme des Irak eingesetzt.

Übersetzt von: Andrea Noll Originalartikel: "The West has been Liberating the Middle East for Centuries" http://www.zmag.de/article/article.php?idQ7