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Der 'Freibrief' der israelischen Armee

Kommt es im Irak zum Krieg, interessiert sich die Weltöffentlichkeit erst recht nicht mehr für die alltäglichen Verbrechen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten.

von Gideon Levy Nun wird es wohl bald zum Krieg im Irak kommen. Und mit ihm wird sich massive Dunkelheit auf die Territorien senken - auf das, was dort vor sich geht. Niemand in der Welt wird sich dann noch dafür interessieren - jedenfalls, solange es die Durchführung des Kriegs nicht behindert. Kein Blick wird auf Westbank u. Gaza fallen. Der Moment ist gekommen, uns alle zur Vorsicht zu mahnen: unter dem Schleier dieser Dunkelheit könnten sich furchtbare Dinge ereignen. Nicht, dass die derzeitige Situation besonders licht wäre. Seit gewisser Zeit hat es sogar den Anschein, als sei im Krieg gegen die Palästinenser so ziemlich alles erlaubt. Tatsache ist, die Stimmen der Entrüstung über die Situation in den Territorien sind verstummt. Kein Aufschrei über Flechette-Granaten* auf einen Fußballplatz, kein Aufschrei über unschuldige erschossene Bauern, kein Aufschrei angesichts der horrenden Rate an Häuserdemolierungen - 22 an einem Tag - kein Aufschrei über die vollständige Zerstörung eines offenen Markts u. kein Aufschrei über die Einebnung des Hauses eines Gesuchten, bei dem dessen Mieter, Kamala Abu-Said, 65, unter den Trümmern begraben wurde. All diese Geschehnisse haben eines gemeinsam: sie ereigneten sich die letzte Woche. Mit jedem neuen Tag scheint in den Territorien die Brutalität jener Aktionen zuzunehmen, mit denen man die Palästinenser brechen will. Aber ebenso zerstörerisch wirken sie sich auf das aus, was noch von unserer moralischen Haltung übrig ist. Ereignisse, die noch vor zwei Jahren zu einem internationalen Aufschrei geführt hätten, sind inzwischen akzeptierte Routine. Oder wer hätte wohl jemals geglaubt, dass die Israelische Armee (IDF) Flechette-Granaten auf ein Fußballfeld abfeuern könnte, auf dem Kinder spielen (9 Personen verletzt, darunter 2 Kinder), ohne dass es zu Protesten kommt? Jetzt war die Sache kaum der Nachricht wert. Man muss sie gesehen haben, diese großflächig verstreuten kleinen, schwarzen Metallsporen der Granate - hunderte - um begreifen zu können, um was für eine horrende Waffe es sich hier handelt (siehe jener Vorfall vor 6 Monaten, bei dem 4 Mitglieder der Abu-al-Hajin-Familie im Gazastreifen zu Tode kamen) - oder die Leichenschauergebnisse jener drei palästinensischen Jugendlichen, deren Körper durch die Granaten regelrecht zerrissen wurden; das war vor wenigen Monaten. Der Einsatz von Waffen des Typs Flechette ist durch internationales Recht verboten. In Israel ist diese Waffe legal. Wobei sie kein bißchen besser ist als jene scheußlichen Fabrikationen der Terroristen, bei denen Nägel in Sprengstoff gepackt werden. Israel hat erklärt, es würde Flechettes nur im Gazastreifen einsetzen. Die Erklärung, die es dafür liefert, ist nicht weniger scheußlich: Im Gazastreifen wären die Siedlungen der Juden klar von den Ansiedlungen der Palästinenser abgrenzbar. Zusätzlich hat Israel eingeräumt, es gäbe im Gazastreifen 'killing fields' (Todeszonen). Jeder, der sich in diese Zonen wagt - ob nun bewaffnet oder nicht - ist automatisch Freiwild. Die Armeeregeln (zum Schusswaffengebrauch) sind dort "sehr großzügig". Jedenfalls ist dies abzuleiten aus der Antwort des (israelischen) Staats auf die Klage der 'Ärzte für Menschenrechte' ('Physicians for Human Rights') beim Obersten Gerichtshof Israels (Supreme Court) gegen den Einsatz von Flechette-Granaten. Der Gerichtshof - der es mit dieser Sache offensichtlich nicht sonderlich eilig hat -, vertagte die Anhörung zu dem Fall auf Mai. Inzwischen hat die IDF erneut Kinder mit Flechettes angegriffen. Überhaupt scheint der Oberste Gerichtshof viel von Langsamkeit zu halten. Nicht einmal hinsichtlich der Klage gegen die sogenannte 'Nachbarschafts-Praxis' (bei der Nachbarn von Gesuchten zu diesen hingehen müssen, um ihnen zu sagen, sie seien umstellt u. müssten sich waffenlos ergeben) bzw. hinsichtlich der Klage gegen die Praxis der 'menschlichen Schutzschilde' - eilt es dem Obersten Gerichtshof sonderlich, dabei hatten Menschenrechtsgruppen ihre Klagen bereits letzten Mai eingereicht. Stattdessen wird endlos debattiert und debattiert. Inzwischen kann der Rechtsbeistand der Klägerparteien, Anwalt Marwan Dalal (von Adalah, dem 'Rechtszentrum für die Rechte der arabischen Minderheit in Israel') dem Gericht immer neues Beweismaterial vorlegen, das belegt: die IDF setzt ihre schreckliche Praxis fort - ungeachtet der Tatsache, dass das Oberste Gericht (High Court of Justice) diese eigentlich mittels einstweiliger Verfügung gestoppt hatte. Aus einem Brief der 'Ärzte für Menschenrechte' an den Militärstaatsanwalt geht hervor, dass israelische Soldaten in Nablus 5 Ambulanzen u. deren Teams als Schutzschilde missbraucht haben. Sie mussten sich zwischen den Soldaten u. einer Gruppe Steinewerfer bewegen. So geschehen vor zwei Wochen. Die Soldaten hätten jedesmal applaudiert, sobald ein Stein einen der Krankenwagen getroffen hätte - so die Aussage. Der Militärstaatsanwalt hat auf die Anschuldigungen bislang nicht reagiert. Der 'Freibrief' der IDF ist allgegenwärtig in den besetzten Gebieten. Scharfe Munition gegen Steinewerfer - fast schon eine Selbstverständlichkeit. Ende letzter Woche wurden in Gaza zwei junge Krankenhausangestellte erschossen. Die IDF gab unumwunden zu, es hätte sich dabei um keine Terrorismus-Verdächtigen gehandelt, vielmehr wären die beiden Opfer eines "Abschreckungs-Beschusses" geworden - auch so ein neukonstruierter Begriff zur Rechtfertigung unnötigen Blutvergießens; in diesem Fall geschah es mittels aus Helikoptern abgeschossener Raketen. Während der Ersten Intifada benötigten israelische Soldaten beispielsweise noch die Erlaubnis eines Offiziers im Range eines Generalmajors, um eine Moschee zu betreten. Heutzutage werfen sie Rauchgranaten in Moscheen, wie es die Situation gerade erfordert. All diese Entwicklungen gehen vonstatten, noch ehe der Fokus der Welt sich andern 'killing fields' zuwendet. Im Schutze eines Irak-Kriegs werden einige in Israel daher versuchen, die jetzigen Maßnahmen noch weiter zu verschärfen. Wir dürfen das nicht zulassen. In seinem Krieg gegen den Terror hat Israel seit langem das ganze Arsenal nackter Gewalt u. Brutalität gegenüber unschuldigen Zivilisten ausgeschöpft. Nach diesem Krieg wird schnell klarwerden, zu was das alles geführt hat - zu nichts, außer zu noch mehr Hass u. noch mehr Terrorismus. * Die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem über die von der Israelischen Armee verwendete Flechette-Munition: Die Flechettes sind eine Antipersonenwaffe, Granaten, die vom Panzer aus abgefeuert werden u. in der Luft explodieren. Dabei werden tausende kleine Metallpfeile (3,75 mm lang) freigesetzt. Streuung: 300 m in die Länge u. etwa 90 m in die Breite. Übersetzt von: Andrea Noll Quelle: Ha'aretz / ZNet 09.02.2003