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Der Medienzirkus von der Gaza-Evakuierung

Es ist die gut inszenierte Evakuierung von 8000 jüdischen Siedlern aus ihren illegalen Siedlungsheimen. Und sie wurde sorgfältig vorbereitet ....
von Jennifer Lowenstein
 
jüdische SiedlungEs gab für Israel keinerlei Gründe, eine Armee zu senden, um die Siedler dort herauszuholen. Diese ganze Operation hätte ohne das Melodrama für den Medienrummel arrangiert werden können, indem man ihnen einen festen Zeitpunkt gibt, an dem sich die IDF aus dem Gazastreifen zurückziehen. Alle Siedler hätten eine Woche vorher ohne TV-Kameras ruhig den Gazastreifen verlassen können, auch ohne weinende Mädchen, ohne gepeinigte Soldaten, ohne Kommentatoren, die widerliche Fragen stellen, wie Juden Juden aus ihren Heimen vertreiben können, und ohne Trauma über ihr schreckliches Leiden. Es sind die Opfer der Welt, denen geholfen werden muss, die Palästinenser aus der Westbank zu vertreiben.
 
Die Siedler werden in andere Teile Israels und in manchen Fällen auch in andere illegale Siedlungen der Westbank umgesiedelt und reichlich für ihre Unannehmlichkeiten entschädigt. Jede jüdische Familie, die den Gazastreifen verlässt, wird tatsächlich zwischen 140 000 und 400 000Dollar für die Kosten des Hauses erhalten, das sie zurücklässt. Aber diese Details werden selten in der Hitze der Berichtsgefechte über die "große Konfrontation" und den "historischen Augenblick" berichtet, der uns von Sharon und der von ihm geschaffenen stehlenden und mordenden Siedlerkultur vermacht wurde.
 
Im ABC-Nightline-TV (USA am Montagabend) interviewte ein Reporter eine junge, sympathische israelische Frau aus der größten Siedlung im Gazastreifen, Neve Dekalim - ein Mädchen mit einer ernsten Stimme. Sie hielt die Tränen zurück. Sie sah die Soldaten nicht als ihre Feinde an, sagte sie, und sie wolle keine Gewalt. Sie wird weggehen, obwohl ihr das großen Schmerz bereitet. Sie sprach von dem Baum, den sie mit ihrem Bruder vor das Haus gepflanzt hatte, als sie drei Jahre alt war. Sie war in diesem Haus groß geworden, das sie nun verlassen wird, die Erinnerungen und zu wissen, dass sie nie zurückkehren wird, und selbst wenn sie könnte, dass dann alles anders wäre. Die Kamera schwenkte dann zu ihren Eltern hinüber, die melancholisch inmitten der gepackten Sachen saßen und die Szene beobachteten. Ihre Mutter war einst Kindergärtnerin, wurde uns erzählt . Sie wusste alles über die Kinder, die hier so nah am Meere aufwuchsen.
 
In den 5 Jahren, in denen Israel den palästinensischen Aufstand gegen die Besatzung brutal unterdrückte, sah oder hörte ich nicht einmal ansatzweise so lange, sentimentale, menschliche Details wie jetzt hier. Ich erinnere mich nicht an ein einziges Mal, dass ein Reporter einer sympathischen jungen Palästinenserin, deren Heim gerade von Bulldozern zerstört worden war und die alles verloren hat, was sie besaß, es ermöglichte, ihren Schmerz und ihre Sorge auszusprechen, von ihren und der Familie Erinnerungen zu reden, keiner konnte ihren nachdenklichen Fragen lauschen, wo sie jetzt hingehen und wo sie jetzt leben solle.
 
Und dabei leben allein in Gaza mehr als 23 000 Menschen, die seit September 2000 ihre Häuser durch israelische Bulldozer und Bomben verloren haben - oft von einem Augenblick zum anderen, da sie Israels Sicherheit bedrohen würden. Der weitaus größte Teil der zerstörten Häuser standen zu nah an einem IDF-Militär-Außenposten oder an einer illegalen Siedlung, die dort weiterhin stehen bleiben durfte. Die Opfer erhielten für ihre Verlust keine Entschädigung und hatten keinen Platz, an dem sie sich wieder ansiedeln konnten. Die meisten kamen in die vorübergehenden UNRWA -Zeltstädte, bis sie irgendwo in dem dicht bevölkerten Gazastreifen Unterschlupf finden konnten. 25% seines besten Landes wurde von 1% der Bevölkerung bewohnt, die jüdisch war, und die das Land auf ihre Kosten besetzte.
 
Wo war der Fotoreporter im Mai 2004 in Rafah, als die Flüchtlinge bei einem nächtlichen Überfall zum zweiten Mal ihre Häuser verloren und nicht in der Lage waren, irgend etwas von ihrem Besitz zu retten. Wo waren sie, als die Bulldozer und Panzer asphaltierte Straßen mit ihren Schaufeln aufrissen und dabei Abwasserrohre und Wasserleitungen, elektrische Kabel zerschnitten, einen Park und einen Zoo zerstörten; wo waren sie, als Scharfschützen zwei Kinder, Bruder und Schwester, erschossen, als sie ihre Tauben auf dem Dach ihres Hauses fütterten; als die Besatzungsarmee eine Panzergranate in eine Gruppe friedlicher Demonstranten abschoss und 14 von ihnen, darunter zwei Kinder töteten. Wo sind die Reporter in den letzten fünf Jahren gewesen, als die Sommerhitze das Leben in Rafah unerträglich machte, man dann nur noch im Schatten eines Wellblechdaches sitzen konnte, weil es einem verboten war, an den Strand zu gehen, der nur 10 Minuten vom Zentrum entfernt liegt. Oder wenn man es wagte, ins Freie zu gehen, wurde man ( für die Scharfschützen) zu wandelnden menschlichen Zielen. Und wenn die Bürger Widerstand leisteten, wo waren dann die feierliche Umarmung und die bewundernden Medien, die das "Gezerre", den "starken Willen" und "die Kühnheit" dieser jungen Leute kommentierten.
 
Am Dienstag, den 16.August berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz, dass mehr als 900 Journalisten aus Israel und aller Welt gekommen waren, um über die Ereignisse in Gaza zu berichten. Hunderte andere waren in den Städten und Orten Israels, um die lokalen Reaktionen aufzunehmen. Waren während der letzten 5 Jahre je so viele Journalisten an einem Platz, um die palästinensische Intifada so ausführlich zu behandeln?
 
Wo waren die 900 internationalen Journalisten im April 2002, nachdem das Flüchtlingslager in Jenin im Laufe einer Woche in einer Schau purer israelischer Selbstüberhebung und Sadismus in Schutt und Asche gelegt wurde? Wo waren die 900 internationalen Journalisten im letzten Herbst, als das Jabalya-Flüchtlingslager in Gaza unter israelischer Belagerung stand und mehr als 100 Zivilisten getötet wurden? Wo waren sie während der fünf Jahre, als die ganze materielle Infrastruktur des Gazastreifens zerstört worden war? Wer von ihnen berichtete, dass jedes Verbrechen der israelischen Besatzung von der Hauszerstörung, gezielten Tötungen und totalen Absperrungen bis zum Mord an Zivilisten und der mutwilligen Zerstörung von Handelswaren und Allgemeinbesitz - nach der Ankündigung von Sharons Abzugsplan sich bedeutend erhöhte - und dass ein großer Schritt in Richtung Frieden angekündigt wurde? Wo sind die Hunderte von Journalisten, die über die vielen gewaltfreien Proteste der Palästinenser und Israelis gegen die Apartheidmauer berichten? Gewaltfreie Demonstranten stehen gewalttätigen und demütigenden israelischen bewaffneten Kräften gegenüber? Wo sind die Hunderte von Journalisten, die über die wirtschaftliche und geographische Abwürgung des palästinensischen Ost-Jerusalem und der Teilung der Westbank und die Unterteilung jeder Region in Dutzende isolierter Mini-Gefängnisse berichten?
 
Warum sind wir nicht mit wütenden Berichten über die "nur für Juden"-Straßen überschüttet worden und über die Hunderte sinnloser interner Kontrollpunkte? Über die zahllosen Todesstrafen ohne Gerichtsverhandlung und Verstümmelungen? Über die Folterungen und Misshandlungen von Palästinensern in Israels Gefängnissen?
 
Wo waren die Hunderte von Journalisten, als jedes der von israelischen Soldaten erschossenen 680 palästinensischen Kinder von ihren von Schmerz und Trauer erfüllten Familienangehörigen zur letzten Ruhe gelegt wurden? Die Schande darüber kennt keine Worte.
 
Und jetzt kommt ein Bericht nach dem anderen über " das Ende der 38 Jahre andauernden Besatzung" des Gazastreifens, über einen "Wendepunkt zum Frieden" und die Nachricht, dass " es nun für Israelis illegal sei, in Gaza zu leben." Ist das ein Witz?
 
Ja, es ist "illegal für Israelis, im Gazastreifen als Siedler aus einem anderen Land zu leben. Es ist 38 Jahre lang illegal gewesen. (Wenn sie es wünschen, mit Palästinensern gleichberechtigt und nicht als israelische Bürger dort zu leben, können sie es)
 
Sharons einseitiger "Abzugsplan" beendet aber die Besatzung von Gaza nicht. Die Israelis geben die Kontrolle über den Gazastreifen nicht auf. Sie behalten die Kontrolle über alle Land-, Luft- und Seegrenzen, einschließlich des Philadelphi-Korridors entlang der Gaza/ Ägyptengrenze, wo die Ägypter unter Israels wachsamen Auge und gemäß Israels strengsten militärischen Kategorien patrouillieren dürfen. Die 1,4 Millionen Bewohner des Gazastreifens bleiben Gefangene in einer riesigen Strafkolonie - trotz und gegen die Behauptungen ihrer Parteiführer. Die IDF gruppieren sich nur außerhalb des Gazastreifens neu um, der umgeben ist von elektrischen Zäunen und Betonmauern, Stacheldraht, Beobachtungstürmen, bewaffneten Wächtern und Bewegungszensoren. Es behält sich je nach Laune das Recht vor, in den Gazastreifen wieder einzufallen. 8000 in Israel für einen Sklavenlohn arbeitende palästinensische Arbeiter werden bald nicht mehr zu dieser Arbeit fahren dürfen. 3200 Palästinenser, die in den Siedlungen für weniger als den Mindestlohn arbeiteten, sind alle ohne Überbrückungsgeld oder eine andere Form von Entschädigung entlassen worden. Und die, die ihren Lebensunterhalt in der Gaza-Industriezone verdienten, werden diese Arbeit verlieren, wenn die Israelis diese Zone irgendwo in den Negev verlegen.
 
Die Weltbank berichtete im Dezember 2004, dass nach dem Abzug - selbst unter den besten Umständen - Armut und Arbeitslosigkeit steigen werden, weil Israel die volle Kontrolle über den Warenaustausch in und aus dem Gazastreifen behalten wird, die Trennung der Westbank von Gaza aufrecht erhalten und so den Besuch der Bewohner der Westbank zum Gazastreifen und umgekehrt verhindern will. Israel wird mit jeder Zone gesonderte Zollabkommen abschließen und so ihre sowieso schon zusammengebrochene Wirtschaft trennen - und doch müssen wir uns tagaus, tagein die Nachrichten über diese historische Friedensinitiative anhören, diesen großen Wendepunkt in der Karriere Ariel Sharons, diese Geschichte des nationalen Traumas für die Brüder und Schwestern, die die schmerzvollen Befehle ihres weisen und bedrängten Führers ausführen müssen.
 
Was wird nötig sein, um dem Volk die Wahrheit beizubringen? Der jungen Frau in Neve Dekalim, die ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Scham ( über ihr Leid) sprechen kann. Als sich die Kameras auf die ärgerlichen Siedler konzentrieren, die schwer mit ihren "Brüdern und Schwestern" der israelischen Armee zusammenstoßen, wer wird dann noch über ihre anderen Brüder und Schwestern im Gazastreifen betroffen sein? Wann wird die palästinensische Geschichte von 1948 und 1967 und jeder Tag unter der Gewalt von Enteignung und Entmenschlichung eine Schlagzeile in unsern Zeitungen erhalten?
 
Ich erinnere mich an ein Interview, das ich in diesem Sommer in Beirut mit Hussein Nabulsi von der Hisbollah hatte, einer Organisation, die nichts mit der palästinensischen Befreiungsbewegung zu tun hat, die sich aber einmal mit denen verbunden hat, die sie als die wirklichen Opfer der US- und Israelpolitik und ihren Lügen erkannte. Ich erinnere mich sehr wohl an seine fest geschlossenen Augen und geballten Fäusten, als er fragte, wie lange Araber und Muslime noch die Anschuldigungen akzeptieren müssen, dass sie die Täter und Terroristen seien. " Es tut weh," sagte er flüsternd, doch leidenschaftlich, " es tut so weh, jeden Tag diese Ungerechtigkeiten zu sehen." Er fuhr dann mit der Erklärung fort, warum die Amerikaner und Israelis mit ihrem monströsen Waffenarsenal doch niemals siegen werden.
 
Anmerkungen
 
Jennifer Loewenstein wird ab Herbst 2005 Gastdozentin beim Studienzentrum für Flüchtlinge an der Oxford-Universität sein. Sie kann erreicht werden: amadea311@earthlink.net
 
Quelle: Counterpunch / ZNet Deutschland 17.08.2005
 
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