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Der scheußliche Preis der Besatzung

Das Chaos im besetzten Irak macht der Okkupation ebenso zu schaffen wie der Bevölkerung.

von Tariq Ali

Die ganze Welt weiß, dass Bush und Blair gelogen haben, um diesen Krieg zu rechtfertigen, aber kennen sie den Preis der auf dem Boden des Irak gezahlt wird? Zuerst den Blutzoll, den Zivilisten und andere Iraker diese Woche, wie auch in jeder anderen Woche, zahlten. Mehr als 50 Menschen starben am Dienstag, als eine Autobombe Iraker zerfetzte, die anstanden, um in die Polizeitruppe aufgenommen zu werden. Das US-Militär beschuldigte al-Qaida-Anhänger und ausländische Extremisten für dieses und andere Selbstmordattentate. Aber Besatzungen sind gewöhnlich hässlich. Wie kann dann der Widerstand schön sein?

Dann gibt es zweitens noch den Preis für einen internen Konflikt. Die Religion heißt die Politik der unbewaffneten Opposition gegen die Besatzung. Was wir auf den Straßen Bagdads und Basras sehen, ist der Machtkampf innerhalb der schiitischen Gemeinschaft. Welchen Charakter soll der neue irakische Staat haben? Und, während die UNO weiterhin über den Zeitpunkt der Wahlen am Rotieren ist, stellt sich die Frage, wann es passieren wird.

Drittens der Preis der Verwirrung, der mit dem dringendsten Problem vom Wahlen in Beziehung steht. Ein kompliziertes Netz von Abkommen und Abfindungen wird zwischen den amerikanischen Besatzern und ihren diversen Interessenten gewoben, es ist aber eine offene Frage, wie lange dies anhalten wird.

Wie die Ereignisse der letzten Woche gezeigt haben, spielt die Frage nach direkten Wahlen die Hauptrolle. Kofi Annan ist bereit zu handeln. Der UN-Sicherheitsrat hat die Marionettenregierung im Irak anerkannt. Auf einer Tagung in München wurden Frankreich und Deutschland zurück ins Boot gebracht. Die Besatzung eines arabischen Landes wird jetzt vom überwiegenden Teil der nördlichen Hemisphäre unterstützt. Es wird nur noch ein offizielle UN-Flagge gebraucht, um vorzutäuschen, dass es sich nicht um eine imperiale Besatzung handelt und zu versuchen, einen Kompromiss mit den schiitischen Religionsführern zu erzielen.

Deren Position ist unglücklich, weil der bewaffnete Widerstand sie gezwungen hat, die Massen zu mobilisieren und ihre eigene Alternative zur Besatzung vorzubringen. Sie verlangen sofortige Wahlen für eine konstituierende Versammlung, deren Mitglieder eine neue Verfassung entwerfen. Was kann das Ergebnis solcher Wahlen sein?

In der Vergangenheit hat eine säkulare Politik sektiererische und ethnische Teilungen verhindert. Die Baath-Partei selbst wurde in Basra gegründet und ihre Führung bestand in der Zeit vor Saddam Hussein aus vielen Menschen schiitischer Herkunft. Es war die Kombination aus der Unterdrückung durch Saddam Hussein, der Hinwendung zu Religion im Norden und Süden nach 1989 und dem Opportunismus der USA (in Form von Geld und Waffen für religiöse Gruppen, die in Opposition zu Saddam Hussein standen) nach dem ersten Golfkrieg, die zur totalen Vorherrschaft religiöser Führer im Süden führte.

Die beiden wichtigsten Führer der unbewaffneten Opposition, Ali al-Sistani und Moqtada al-Sadr wetteifern um die Unterstützung durch die Bevölkerung. Al-Sadr lehnt sowohl die Besatzung als auch Pläne für einen föderativen irakischen Staat ab, welchen er als ersten Schritt zur Balkanisierung und der westlichen Kontrolle des irakischen Öls betrachtet.

Sistani, der die Interessen Teherans repräsentiert und gute Beziehungen zum Außenministerium in London unterhält, ist zur Zusammenarbeit bereit, fürchtet aber, er könnte Anhänger an seinen Rivalen verlieren und fordert sofortige allgemeine Wahlen. Er will mit Kofi Annan reden, so dass man ihn nicht dabei erwischt, wie er mit den verhassten Besatzern spricht.

Wenn Annan ihm klar macht, dass die Wahlen verschoben werden sollten, könnte er bereit sein, auf die Vorschläge einzugehen. Aber wenn Wahlen stattfinden und als Ergebnis dabei eine Mehrheit für die Schiiten herauskommt, könnte dann der Irak nicht den Weg des Iran Ende der 1970er gehen? Im Hinblick auf die religiösen Gesetze wird das zweifelsfrei geschehen. Sowohl Sistani als auch al-Sadr haben die Einführung der Scharia gefordert.

Aber es geht nicht allein um Politik und Religion. Macht führt zu Geld und Klientelismus (*). Es gibt Mitglieder von Familien und Stämmen, die mit den wichtigsten klerikalen Gruppen liiert sind und diese sind ungeduldig. Es wird viel davon abhängen, wie die beiden folgenden Hauptfragen gelöst werden: wer hat die Kontrolle über das irakische Öl und wie lange sollten die US/UNO-Truppen im Land bleiben. Als Folge der Invasion und der Besetzung des Irak hat das klerikale System im Iran eine Schlüsselfunktion eingenommen. Während es vor kurzem noch zur "Achse des Bösen" gehörte, verlangen die engen Beziehungen zu Sistani eine Annäherung Washingtons an Teheran.

Und wie kann man das besser fördern, als durch die Ausgrabung des Phantoms der wahhabitischen al-Qaida? Die USA haben versucht, diese für die Selbstmordattentate dieser Woche verantwortlich zu machen. Aber das ignoriert die Tatsache, "dass man darauf vorbereitet sein muss, den Preis zu zahlen, wenn man kollaboriert", eine Erkenntnis aus praktisch jedem nationalen Kampf des letzten Jahrhunderts. Im Frankreich Vichys, im besetzten Jugoslawien und später in Vietnam, Algerien, Guinea und Angola, wo Kollaborateure regelmäßig zu Zielscheiben wurden. Damals, wie im heutigen Irak, werden die Widerstandskämpfer von Politikern und der dressierten Presse als "Terroristen" denunziert. Als die Besatzungstruppen abzogen und die Gewalt beendet wurde, wurden aus vielen dieser "Terroristen" "Staatsmänner".

Einige von uns, die gegen den Krieg waren, vertraten die Ansichten, dass für die USA die militärische Besatzung des Irak leicht sein würde, sie sich aber mit einem Widerstand auf verschiedenen Ebenen konfrontiert sehen würden.Und, wie jeden Tag deutlicher wird, liegt die Achillesferse der Besatzung in der Unfähigkeit eine feindlich gesinnte Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen. Deshalb braucht man die Kollaborateure. Die Zerstörung von Staaten durch eine überwältigende Militärmacht ist eine Sache. Der Aufbau eines Staates ist eine wesentlich komplexere Operation, die wenigstens eine freundliche, wenn nicht unterwürfige, Bevölkerung voraussetzt.

Kann die Vormacht der USA angesichts der überwältigenden Feindseligkeit auf unendliche Zeit erhalten bleiben? Offensichtlich nicht, aber auch die USA können es sich im Irak keine Niederlage leisten, unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist. Dies würde sich als gewaltiger Schlag gegen das "Empire" erweisen und seine Fähigkeit, andere Teile der Welt zu kontrollieren, schwächen. Fügen wir dem noch etwas Ironisches hinzu: unter Saddam gab es im Irak keine al-Qaida. Wenn jetzt einige ihrer Mitglieder dort sind, hat das mit der angloamerikanischen Besatzung zu tun.

Die Besatzungsbehörden sitzen in der Falle. Die Besatzung kostet monatlich 3,8 Milliarden Dollar. Wenn sie demokratische Wahlen erlaubten, könnten sie politisch eine Regierung bekommen, deren Legitimität unanfechtbar wäre und die Besatzer aus dem Land haben wolle. Wenn sie manipulierte Wahlen - nach Art der Florida-Wahlen bei der letzten Präsidentenwahl in den USA - abhalten würden, wäre es unmöglich die Wut der Schiiten einzudämmen und ein bewaffneter Widerstand würde im Süden beginnen und den Geist eines Bürgerkrieges heraufbeschwören.

Militärisch hat die Gefangennahme Saddam Husseins die Zahl der getöteten und verwundeten US-Soldaten nicht beeinflusst und die Zahl der Nervenzusammenbrüche und Selbstmorde in der US-Armee im besetzten Irak hat ein beispielloses Ausmaß angenommen. Früher als jemand es vorhersagen konnte ist die Besatzung unhaltbar geworden. Regimewechsel in Washington und London wären eine kleine Strafe, verglichen mit dem, was dem Irak angetan wurde.

Anmerkungen:

Tariq Alis neues Buch "Bush in Babylon: The Recolonisation of Iraq" wurde bei Verso verlegt. tariq.ali3@btinternet.com

(* ) bezeichnet ein informelles auf gegenseitigen Vorteil gerichtetes Machtverhältnis zwischen ranghöheren und niedriger gestellten Personen oder Organisationen. (der Übersetzer)

Quelle: ZNet 28.02.2004