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Die israelische Armee untersucht die Sache

Vier Kinder liegen nun im Shifa-Krankenhaus in Gaza. Jedes von ihnen verlor beide Beine - die Hälfte des menschlichen Körpers. Drei von ihnen sind bei Bewusstsein, eines wird beatmet. Zuhause in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen trauern die Eltern um ihre toten Brüder.

Von Gideon Levy

Vier Kinder liegen nun im Shifa-Krankenhaus in Gaza. Jedes von ihnen verlor beide Beine - die Hälfte des menschlichen Körpers. Drei von ihnen sind bei Bewusstsein, eines wird beatmet. Zuhause in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen trauern die Eltern um ihre toten Brüder.

Am ersten Tag des Id al-Adha (Opferfestes) verloren Maryam und Kamal in einen einzigen Augenblick ihre drei Söhne, zwei Neffen und einen Enkel. Ein anderer Sohn liegt auf Intensivstation, nachdem er zwei Beine, eine Hand und ein Auge verloren hat und ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Sein Vater weiß noch nicht, daß dem Sohn beide Beine amputiert wurden; ihm wurde nur von einem erzählt. Wie viel Verlust kann ein Mensch verkraften?

Das Leben der 12 Kinder und Jugendlichen, die am letzten Dienstagmorgen auf und neben dem Erdbeerfeld der Familie gespielt hatten, wurde plötzlich beendet. Sieben von ihnen wurden getötet, vier werden Gliedmaßen fehlen und für den Rest ihres Lebens schwer behindert bleiben. Das ist es, was eine Granate der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) tun kann. Nicht eines der Kinder entkam diesem tödlichen Zwischenfall unversehrt.

Ein hochrangiger IDF-Offizier sagte nach dem Vorfall, daß wenigstens einige der Opfer "Hamas-Aktivisten" gewesen wären. Wer? Rajikh, der 11 Jahre alt ist? Issa, 13? Bisaam, 14? Mahmoud, 14? Jabir, 15? Hanni, 16? Mohammed, 17, der Älteste der Opfer?

Jeder, der unmittelbar nach dem Vorfall dort ankam, erblickte Schreckliches: die 12 Kinder und Jugendlichen lagen auf dem sandigen Weg neben dem Erdbeerfeld, ihre Gliedmaßen in alle Richtungen zerstreut und entsetzlich blutend. Eine große Stille lag über der Szene. Nur ein verletzter Junge, Islam Oud, schrie um Hilfe. Als wir vier Tage später in Beit Lahia ankamen, konnten immer noch menschliche Gewebeteile auf dem Schlachtfeld gesehen werden. Die verletzten Jungen lagen im Shifa-Krankenhaus und ihre Eltern flehen Israel an, wenigstens die Wunden ihrer nun für den Rest ihres Lebens behinderten Kinder zu behandeln.

Die Familie Raban aus Beit Lahia verkauft ihre Erdbeeren an die israelische Exportgesellschaft Agrexco, die sie nach Europa weiterschickt. Auf weißen Plastikstühlen sitzen die trauernden Bauern nun neben dem Erdbeerfeld, die wegen der unglaublichen Dimension dieser Tragödie ihre Trauerzeit verlängert haben. Maryam, die dreifach vom Tod betroffene Mutter, fuhr heute morgen zum Wahlbüro, um für Mahmoud Abbas zu stimmen.

Maryams Schwager Abdullah Raban arbeitete jahrelang in Israel in Kfar Hess, Gan Haim und Kfar Sava und wurde bei einem Arbeitsunfall in Israel verletzt und ist seitdem behindert. Die Panzergranate der letzten Woche hat seinen 15-jährigen Sohn Jabir getötet. Sein unrasiertes Gesicht drückt großen Schmerz aus, seit vier Tagen hat er nicht geschlafen. Über seinen Verlust spricht er auf hebräisch.

Sein Neffe Ghassan Raban verlor seinen Sohn Rajik, 11 und er spricht über seinen Verlust auf arabisch. Ghassan war ein Zeuge dieses Horrors. Aus einer Entfernung von mehreren Dutzend Metern sah er die Kinder, die sich am frühen Morgen des 1. Ferientages im Erdbeerfeld getroffen hatten, Geschwister und Cousins spielten mit Nachbarkindern mit Murmeln, pflückten Erdbeeren und aßen sie mit Freude. Diejenigen, die Mörser abfeuern, waren längst weg, sagt er.

"Wir sind Leute, die zwischen allen Stühlen sitzen, zwischen den Israelis und den Palästinensern," sagte der trauernde Vater. "Wenn wir versuchen, die Palästinenser am Abfeuern der Qassam-Raketen zu hindern, schießen sie auf uns. Manchmal kommen sie her, feuern eine Qassam ab und wir versuchen sie aufzuhalten. Aber sie sagen zu uns: 'Sie schießen auf uns, zerstören unsere Häuser, wie können wir mit dem Schießen aufhören?' Wenn wir sie weiter drängen sagen sie: 'Wir haben nichts mehr, weder Land noch Häuser.' Nun hoffen wir, dass die Wahl von Abu Mazen uns Ruhe bringen wird."

In einen Poncho, einen Pullover, einen Mantel und einen Schal gewickelt kommt stolpernd Kemal Raban an. Er verlor drei Söhne, zwei Neffen und einen Enkel, ein anderer Sohn kämpft in Shifa um sein Leben. Er war bei der Beerdigung eines Cousins als er den Telephonanruf erhielt: Komm schnell, es gab einen großen Unfall. Hanni, 16, wollte Lehrer werden, Bisaam, 15, wollte Ingenieur werden, Mahmoud, 14, wollte ein Arzt werden. Mohammed, 17, verlor seine Beine, Auge und Hand und wird künstlich beatmet.

Maryam kam vom Wahlbüro zurück: "Wir rufen zu [Premierminister Ariel] Sharon und [Verteidigungsminister Shaul] Mofaz und allen Menschen mit gutem Willen, einem guten Herzen und Erbarmen: Ich werde nie all das Fleisch meiner Kinder vergessen, das ich auf dem Feld aufsammelte und in ein Tuch packte. Am ersten Ferientag erhielten sie ein Geschenk, eine Granate. Wenn ich einen getöteten Israeli sehen würde, dann würde ich über ihm weinen. Ich würde mit seiner Mutter weinen. Wir haben es nicht verdient, daß Sharon und Mofaz unsere Kinder töten, Kinder in diesem Alter, die Erdbeeren pflücken.

Ich rufe zu Sharon und Mofaz; die drei meiner Kinder getötet haben. Ich habe niemanden, der mir hilft. Ein Kind liegt noch immer im Krankenhaus. Ich bitte, daß sie ihn in ein Krankenhaus nach Israel nehmen. Wenn sie ihn nur in ein Krankenhaus brächten, würden wir ihnen für die drei Getöteten verzeihen. Wenn sie nehmen und behandeln würden, würden wir danke sagen. Wir schauen auf Gott und auf den Staat Israel, nicht zu den arabischen Staaten. Wir sind mit dem Staat Israel aufgewachsen."

Das Büro des Sprechers der IDF: "Am 4. Januar 2005 wurden zwei Mörser auf die Industriezone von Erez abgefeuert. Eine fiel in die Nähe von israelischem Gebiet und verletzte einen israelischen Bürger. Ungefähr zur gleichen Zeit identifizierte eine IDF-Einheit eine Gruppe, die Mörser abfeuerte - einige ihrer Mitglieder gehören zu Hamas. Die Einheit schoß auf diese Gruppe, mit der Absicht sie zu treffen. Es sollte angemerkt werden, daß die Gruppe von Terroristen aus einem bevölkerten palästinensischen Gebiet heraus operierten. Die IDF untersucht den Vorfall, und nach Abschluß der Untersuchung werden die Ergebnisse vorgelegt."

Kein Wort des Bedauerns, daß Kinder getötet wurden. Nicht ein Wort, das die trauernden Eltern der Kinder um Verzeihung bittet. Stattdessen eine offensichtliche, hartherzige Nichtbeachtung einer Frage, die an das Büro des Armeesprechers gerichtet war, in der es darum geht, daß die Verletzten nicht zur Behandlung nach Israel gebracht wurden. Die IDF wird die Sache untersuchen.

Auf dem Weg ins Shifa-Krankenhaus erinnern sie sich an ihre israelischen Arbeitgeber. Zwei trauernde Väter und ein anderer Verwandter in dem Taxi erzählen von ihren israelischen Bossen, an die sie nur gute Erinnerungen hatten. Über Moshe Kishana vom Moshav Kidron sagt Ghassan, daß er ihn wie seinen eigenen Vater liebte - und Yaakov vom Kibbuz Yad Mordechai, der ihnen einmal sagte, daß seine Seele nicht wertvoller als die ihrige sei und deshalb sei er zu ihrem Haus gekommen, um ihnen die magnetische Identitätskarte zu bringen, die sie vergessen hatten. Munir, der Taxifahrer, fragt, ob jemand im Wagen die Juden hassen würde, und sie antworten einstimmig: Nein, wir hassen sie nicht. In schwarzen Beuteln tragen sie Erdbeeren für die verwundeten Jungen.

Erster Stock der Intensivstation: Mohammed Raban, 17, hängt an einem Beatmungsgerät. Von Zeit zu Zeit öffnet er sein eines verbliebenes Auge und wirft fieberhafte Blicke um sich. Von Zeit zu Zeit lächelt er auch nervös, vielleicht ein unbeabsichtigtes, bedeutungsloses Muskelzucken. Weniger als die Hälfte seines Körpers ist ihm geblieben, kaum eine ganze Hand, es ist nicht klar, ob er sich dessen bewußt ist.

Zweiter Stock, Orthopädie: Issa Relia, 13, seine beiden Beine wurden oberhalb des Knies amputiert. Er liegt mit einer Windel und mit einem Transistorgerät an seinem Ohr. Er erinnert sich an die Männer der Hamas, die schossen und flohen. Auf einem Stück verblichenen Karton hatte er mit einem Stift ein Bild gemalt: einen Panzer, der auf Kinder schießt. Der Korridor im zweiten Stock, neben dem Fenster: Imad al-Kaseeh, 16 und Ibrahim al-Kaseeh, 14. Zwei Cousins, beiden wurden beide Beine amputiert, starren von ihren Betten aus aus den Fenstern des Shifa-Krankenhauses. Zur Information des Soldaten, der feuerte und des Kommandeurs, der ihm die Genehmigung dazu gab und des Sprechers, dem es nicht leid tut und sich für nichts endschuldigt.

Quelle: www.haaretzdaily.com
Übersetzung Ellen Rohlfs