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Die unaufhaltsame Sexualisierung vor den Bildschirmen

Licht und Strahlung, die von Bildschirmen ausgehen, verändern nach einer italienischen Studie bei Kindern die Ausschüttung des Hormons Melatonin und könnten so bei Vielsehern unter anderem zu einer vorzeitig einsetzenden Pubertät führen.

Von Florian Rötzer

Meist geht man wohl davon aus, dass Medien über unsere Sinne nur unsere Gedanken und Gefühle verändern oder Vorbilder für das Handeln liefern. Doch Medien ermöglichen nicht nur Simulationen, sie stimulieren auch. Medien massieren unser Gehirn und verändern es auch materiell, vermutlich besonders in frühen Jahren, wenn das Gehirn sich unter dem Eindruck von Erfahrungen "verdrahtet". Da Menschen aber permanent durch Reize stimuliert und massiert werden, lässt sich kaum wirklich sagen, wie welche Medien tatsächlich unsere Gehirne und dies noch bei Jedem anders verändern.

Um feststellen zu können, welche Folgen etwa das Fernsehen als Medium, also nicht einzelne Sendungen, mit sich bringt, müsste man Kaspar Hauser-Kinder isoliert mit und ohne Fernsehen heranwachsen lassen. Das geht natürlich nicht. Italienische Wissenschaftler der Universität Florenz, die einmal nicht die psychologischen, sondern die physiologischen Auswirkungen untersuchen wollten, konnten [1] in Cavriglia, einem Städtchen mit 9000 Einwohnern, immerhin 90 Familien dafür gewinnen, eine Woche lang mitsamt ihren Kindern auf das Fernsehen zu verzichten Sie hatten zuvor durchschnittlich drei Stunden vor dem Bildschirm gesessen. Zudem sollten sie nichts mit dem Computer machen, also auch keine Computerspiele benutzen.

Statt zu glotzen, sollten die 74 Kinder zwischen 6 und 12 Jahren spielen, abends wurden ihnen Geschichten vorgelesen. Vor dem Bildschirm-Entzugsexperiment sollten sie sogar, wenn sie wollten, noch mehr als üblich fernsehen. Zusätzlich wurden die Eltern gebeten, nicht nur alle Bildschirme ausgeschaltet zu lassen, sondern auch weniger künstliches Licht einzuschalten. Die Wissenschaftler verfolgten nämlich die Hypothese, dass die elektromagnetische Strahlung, die von Bildschirmen ausgeht, das Hormonsystem der Kinder beeinflusst. Im Auge hatten sie dabei das Hormon Melantonin, das aus dem in der Zirbeldrüse gebildeten Serotonin entsteht.

Melatonin gilt seit einiger Zeit als Wundermittel, das den Alterungsprozess verzögern soll. Es soll auch, wenn man es zusätzlich zu sich nimmt, die Sexualität fördern und Krebs verhindern. Das aber ist alles umstritten, fest steht aber, dass Melatonin eine wichtige Rolle zur Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus und der damit einhergehenden Schlafstörungen spielt, die sich wiederum auf die Stimmung oder die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken. Fällt Licht auf die Retina wird die Melatonin-Ausschüttung vom Körper zurück gefahren, bei Dunkelheit wird die Freisetzung des Hormons stimuliert. Besonders in den USA, aber auch natürlich in anderen Ländern nehmen bereits Millionen von Menschen täglich Melatonin zu sich, um älter zu werden, gesünder oder sexuell aktiver zu bleiben oder einfach Schlafstörungen zu beheben. Ein großer Selbstversuch also, der auf anderen Seite auch durch exzessiven Medienkonsum unternommen wird.

Kinder gingen zumindest früher meist auch früher am Abend ins Bett. Dazu trug auch die Dunkelheit und die bei jungen Menschen höhere Ausschüttung des schlaffördernden Melatonin bei. Mit dem Aufkommen des Fernsehen und später des Computers bleiben Kinder immer länger auf - und können auch länger wach bleiben, weil das künstliche Licht in den Zimmern und von den Bildschirmen die Freisetzung von Melatonin verhindert. Wenn mit zunehmenden Alter die Melatonin-Ausschüttung zurück geht, so könnte eine etwa durch künstliches Licht und Bildschirmmedien reduzierte Ausschüttung die Alterung beschleunigen. Das ist zumindest die These der italienischen Wissenschaftler, die mit dem Experiment vor allem der Frage nachgingen, inwiefern Medienkonsum zur einer früher einsetzenden sexuellen Reifung und Pubertät, also in gewisser Weise auch zu einer vorzeitigen Alterung beitragen könnte.

Bildschirme und Lebenswelt

Tatsächlich haben die Wissenschaftler bei den Kindern feststellen [2] können, dass sie nach einer Woche Bildschirmentzug durchschnittlich einen 30 Prozent höheren Melatonin-Spiegel hatten. Besonders markant scheint diese Zunahme bei den jüngeren Kindern zu sein, bei denen nachts und bei Dunkelheit auch mehr Melatonin ausgeschüttet wird. Roberto Salti, einer der Wissenschaftler, sagte [3], dass Licht und Strahlung, wie sie von Fernseh- und Computerbildschirmen ausgehen, die Bildung von Melatonin beeinflussen können. Im Unterschied zu früher würden Kinder heute viele Stunden vor dem Fernsehen sitzen - und das eben könne zu den beobachteten Phänomen der früher einsetzenden Pubertät führen. Heute würden manche Mädchen schon mit sieben Jahren in die Pubertät eintreten, einige Jahre früher als noch in den 50er Jahren.

Der nicht alltägliche Medienentzug wurde freilich von den Eltern unter Mitwirkung der Gemeinde und des Bürgersmeisters auf unübliche Weise kompensiert. Vom Bürgermeister erhielten die Kinder, deren Eltern vor dem Experiment auch Sorge hatten, was sie denn nun ohne Fernseher mit ihren Nachkommen anstellen sollen, ein Buch und Brettspiele. Die Eltern organisierten gemeinsame Spiele, gingen auf eine Angeltour, inszenierten eine Quiz-Show wie im Fernsehen, lasen zusammen und waren mit ihren Kindern dadurch schon so beschäftigt, dass sie offenbar alle geplanten Aktivitäten gar nicht ausführen konnten. Möglicherweise waren die Kinder dadurch so zufrieden und auch müde, dass sie auch deswegen früher schliefen, wodurch der Melatonin-Spiegel ansteigen konnte.

Eine direkte Kausalität zwischen Fernsehkonsum und Melatonin-Spiegel lässt sich durch das Experiment natürlich auch nicht belegen. Dass Kinder heute immer länger aufbleiben, hat sicherlich mit den Medien etwas zu tun, aber auch schon mit der Erfindung des elektrischen Lichts. Die Wissenschaftler konnten das künstliche Licht, das von der Beleuchtung ausgeht, nicht von den strahlenden Bildschirmen unterscheiden. Ist möglicherweise also die Elektrizität, die Licht, Fernsehgeräte und Computerbildschirme ermöglicht, die Ursache? Dann aber kommen auch Erziehungs- und Lebensstile dazu, denn es gibt keinen Zwang, dass Eltern ihre Kinder auch bei Dunkelheit stundenlang fernsehen oder vor dem Computer sitzen lassen müssen. Techniken verändern die Lebenswelt, die wiederum den Gebrauch von Techniken bestimmt. Trotzdem ist das Ergebnis des Experiments interessant und könnte ein Schritt sein, die Wirkungsforschung von den Inhalten einzelner Sendungen und der Psychologie stärker auf die Physiologie und die allgemeinen Medienwirkungen zu lenken.

Quelle: www.telepolis.de; 29.06.2004