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Die wenigsten Selbstmordattentäter handeln aus religiösem Fanatismus

– sie kämpfen gegen eine Militärbesatzung. Das gilt auch für Hisbullah

Robert Pape, The Observer, London, 6. August 2005 In den nächsten Tagen wird der internationale Terrorismus-Experte Robert Pape dem amerikanischen FBI die Ergebnisse seiner bemerkenswerten Studie über 462 Selbstmordattentate vorlegen. Er kommt zu dem Schluss, dass solche Taten wenig mit religiösem Extremismus zu tun haben. Der Westen, sagt Pape, kann dem hemmungslosen Töten nur mit politischen Mitteln Einhalt gebieten. Israel hat endlich zugegeben, dass es Hisbullah mit einem Luftkrieg allein nicht bezwingen kann. In den kommenden Wochen wird es erfahren, dass auch ein Bodenkrieg nicht geeignet ist. Das Problem liegt nicht darin, dass die Israelis militärisch nicht stark genug sind, sondern dass sie sich über die Natur des Feindes täuschen. Was Struktur und Hierarchie betrifft, so ist Hisbullah weniger mit einer religiösen Sekte wie den Taliban vergleichbar als vielmehr mit der mehrdimensionalen amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Der Grund für den rapiden Aufstieg der Hisbullah und ihre militärische Unbesiegbarkeit rührt daher, dass sie sich aus einer Neuorientierung bereits vorhandener sozialer Gruppen im Libanon entwickelt hat. Die breite Basis des Widerstandes der Hisbullah gegen die israelische Besatzung zeigt sich an der Identität seiner Selbstmordattentäter. Zwischen 1982 und 1986 führte Hisbullah eine umfangreiche Kampagne von Selbstmordangriffen gegen amerikanische, französische und israelische Ziele. Alles in allem waren an diesen Angriffen, einschließlich dem berüchtigten Anschlag auf die Kaserne der amerikanischen Marine in Beirut im Jahr 1983, 41 Selbstmordterroristen beteiligt. Bei der Arbeit an diesem Buch, das sich mit 462 Selbstmordangriffen rund um den Erball befasst, durchkämmten meine Kollegen libanesische Quellen auf der Suche nach Märtyrer-Videos und –Fotos, Zeugnissen und Biografien von Hisbullah-Bombern. Von 41 libanesischen Attentätern konnten wir 38 mit Namen, Geburtsort und andere persönliche Daten identifizieren. Mit Bestürzung stellten wir fest, dass lediglich acht islamische Fundamentalisten waren; 27 gehörten linken politischen Gruppen wie der Kommunistischen Partei Libanons und der Arabischen Sozialistischen Union an; drei waren Christen, unter ihnen ein Oberschullehrerin mit Universitätsabschluss. Alle waren im Libanon geboren. Gemeinsam war diesen Selbstmordangreifern – und ebenso ihren heutigen Nachfolgern – nicht eine religiöse oder politische Ideologie, sondern einfach eine Verpflichtung zum Widerstand gegen eine fremde Besatzung. Fast zwei Jahrzehnte israelischer Militärbesatzung konnten der Hisbullah nicht den Garaus machen. Das einzige was nachweislich Selbstmordangriffen beendet, im Libanon und anderswo, ist der Rückzug der Besatzungsmacht. Frühere Untersuchungen über Selbstmordterrorismus konnten sich nicht auf eine umfassende Untersuchung von derartigen Angriffen weltweit stützen. Das Fehlen vollständiger Angaben und die Tatsache, dass solche Angriffe, einschließlich aller gegen Amerikaner begangenen von Muslimen begangen wurden, hat in der USA vielfach zu der Annahme geführt, der islamische Fundamentalismus müsse der allen zugrunde liegende Hauptgrund sein. Dies hat seinerseits den Glauben genährt, dass anti-amerikanischer Terrorismus nur durch umfassende Umformung muslimischer Gesellschaften zu erreichen sei – was zur Unterstützung für die Irak-Invasion vonseiten der Öffentlichkeit beitrug. Die Untersuchung des Phänomens Selbstmord-Terrorismus zeigt jedoch, dass die vorausgesetzte Verbindung zum islamischen Fundamentalismus irreführend ist. Die von vielen unterstellte enge Beziehung zwischen Selbstmordterrorismus und islamischem Fundamentalismus gibt es nicht. Vielmehr haben alle Selbstmordattentate ein spezifisches säkulares, strategisches Ziel gemeinsam: sie sollen demokratische Regierungen dazu zwingen, ihre bewaffneten Kräfte aus Gebieten zurückzuziehen, die die Terroristen als ihr Heimatland betrachten. Religion ist selten der eigentliche Grund, obwohl terroristische Organisationen die Religion häufig als Mittel bei der Rekrutierung und anderen Vorhaben einsetzen. Meistens ist Religion eine Reaktion auf fremde Besatzung. Die Einsicht, dass Selbstmord-Terrorismus kein Produkt des islamischen Fundamentalismus ist, hat wichtige Folgen für die Art und Weise, wie die USA und ihre Verbündeten den Krieg gegen Terrorismus führen sollten. Die Verbreitung von Demokratie im Persischen Golf ist kaum ein Allheilmittel, so lange fremde Truppen auf der Arabischen Halbinsel stehen. Die nahe liegende Lösung wäre, die Region einfach aufzugeben. Isolationismus ist indessen ausgeschlossen. Stattdessen braucht Amerika eine Strategie, die einerseits seine lebenswichtigen Ölinteressen sichert, andererseits aber nicht zum Heranwachsen einer neuen Generation von Selbstmord-Terroristen beiträgt. Das gleiche gilt gegenwärtig für Israel. Die neue israelische Bodenoffensive mag zu Gebietsgewinnen führen und Waffen zerstören, aber sie wird kaum die Hisbullah vernichten. Tatsächlich wird die Militärinvasion, zusammen mit den Bombenangriffen auf Zivilisten, die Rekrutierung der Hisbullah fördern. Ein ebenso wichtiger Punkt ist, dass die israelische Invasion den Guten Willen verschleudert, den es zunächst bei den sogenannten gemäßigten arabischen Staaten erworben hatte. Die öffentliche Meinung in diesen Ländern ist wichtig, damit Israel, wenn es schon die Hisbullah nicht zerschlagen kann, ein begrenzteres Ziel erreicht: Hisbullahs Raketen-Nachschub über Syrien zu beenden. Angesichts der vollständigen Kontrolle Syriens über seine Grenze mit dem Libanon kann der Waffenfluss nicht mit Gewalt, sondern nur durch Diplomatie eingedämmt werden. Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien sind als mehrheitlich sunnitische Nationen bestrebt, den Aufstieg der Hisbullah zu stoppen. Unter geeigneten Bedingungen könnten die USA behilflich sein, eine ad hoc-Koalition der Nachbarn Syriens zustande zu bringen. Sie sollte Syrien mit Zuckerbrot und Peitsche dazu bewegen, den Fluss iranischer, chinesischer oder sonstiger fremder Raketen in den Libanon zu unterbinden. Es könnte die Aufnahme von Verhandlungen über die Zukunft der Golanhöhen angeboten werden. Aber die Initiative muss von Israel ausgehen. Sofern Israel nicht seine Invasion einstellt und einen echten Waffenstillstand akzeptiert, werden in den kommenden Wochen wahrscheinlich viele, viele Israelis sterben. Und die Hisbullah würde weiter gestärkt. Robert Pape ist Politologe an der Universität von Chicago. Seine Studie über Selbstmordattentätersoll demnächst im britischen Verlag Gibson Square erscheinen. (Übersetzung aus dem Englischen: Ulrike Vestring) Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite