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Dieser Euro ist eine Katastrophe

In den zwölf Ländern der Europäischen Währungsunion (EWU) intensiviert sich die Debatte über die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Euro - meist hinter verschlossenen Türen, aber immer öfter auch öffentlich.

In einem Beitrag für die Neue Solidarität beschreibt der Wirtschaftsredakteur Lothar Komp den aktuellen Stand der Diskussion um Euro und Europäische Währungsunion mit besonderer Berücksichtigung der Lage in Deutschland: Die Scherenentwicklung der deutschen Wirtschaft nimmt immer krassere Formen an. Auf der einen Seite stürmt das Exportvolumen von einem Rekord zum nächsten. Im Jahre 2004 kletterten die deutschen Ausfuhren, wobei es sich ganz überwiegend um hochwertige Investitionsgüter handelt, auf 731 Mrd. Euro. Sie lagen damit deutlich höher als die Ausfuhren irgend eines anderen Landes auf dem Globus. Der deutsche Exportüberschuss stieg auf den neuen Allzeitrekord von 157 Mrd. Euro, das ist mehr als die addierten Überschüsse von Japan und China. Andere wichtige Industrieländer haben nur geringe oder überhaupt keine Exportüberschüsse. Wenn also jemand behauptet, Produkte made in Germany seien international nicht wettbewerbsfähig, weil etwa hierzulande das Lohnniveau zu hoch ist oder der Staat zuviel Steuern und Sozialabgaben kassiert, dann ist dies offenbar Unsinn. Andererseits darbt die Binnenwirtschaft. Der Einzelhandel stagniert. Das Baugewerbe steckt in der schwersten und am längsten anhaltenden Krise der Nachkriegszeit. Und die Arbeitslosenzahlen sind höher als je zuvor. Wie passt das alles zusammen? Natürlich kann man anmerken, dass die deutschen Exporte einen beständig steigenden Anteil ausländischer Vorleistungen enthalten und beispielsweise in jedem "deutschen" PKW heute eine gehörige Portion tschechischer oder ungarischer Zulieferungen steckt. Das gilt aber für die meisten Exportgüter weltweit. Entscheidend ist etwas anderes: Seit Mitte der 90er Jahre befindet sich die deutsche Binnenwirtschaft in einer künstlich herbeigeführten Notlage, die in einzelnen Sektoren längst das Stadium von Deflation oder Depression erreicht hat. Das Instrument hierfür ist die Europäische Währungsunion. Die Befolgung des Maastrichter Vertrages und seiner späteren Erweiterungen bedeuten die permanente Selbstknebelung der Wirtschaftsaktivität. Ein wichtiger Teilbereich ist die Aufrechterhaltung der physischen Infrastruktur, deren Qualität und Dichte in entscheidender Weise die Produktivität, und damit indirekt auch das Lohnniveau, von deutschen Arbeitsplätzen bestimmt. Weil der Maastrichter Vertrag das staatliche Defizit, ohne jede Rücksicht auf die Zusammensetzung der öffentlichen Ausgaben oder die jeweilige Wirtschaftslage, auf 3% des Inlandsproduktes beschränkt, sind Bund, Länder und Gemeinden nicht mehr in der Lage, den Bestand der Infrastruktur zu sichern. Bei den Gemeinden, die zwei Drittel der Infrastrukturausgaben in Deutschland ausmachen, sind die entsprechenden Investitionen seit Mitte der neunziger Jahre um ein Drittel eingebrochen. Ein riesiger Nachholbedarf an Infrastrukturinvestitionen ist aufgelaufen, der allein im kommunalen Bereich nach offiziellen Schätzungen rund 650 Mrd. Euro beträgt. Wenn sich dieser Substanzverlust noch ein paar Jahre fortsetzt, denn wird davon demnächst auch der Export beeinträchtigt, was dann weitere Millionen Arbeitsplätze kosten könnte. Das Stabilitätsgesetz von 1967 Selbst in Zeiten schwerster Wirtschaftskrisen sind Mitgliedsländern der Euro-Zone die Hände gebunden. In Deutschland wurde hierfür im Jahre 1967 eigens das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz) verabschiedet. Es verpflichtet Regierung und Bundesbank, die "Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" zu beachten. Als Teilelemente des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" wurden ausdrücklich die "Stabilität des Preisniveaus", ein "hoher Beschäftigungsstand", das "aussenwirtschaftliche Gleichgewicht" sowie ein "stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum" definiert. Sobald akute Störungen auftreten, die heute eindeutig bei Beschäftigung und Wachstum vorliegen, sind Regierung und Bundesbank nach dem Gesetz zur Einleitung von Gegenmassnahmen verpflichtet. Diese beinhalten wiederum als zentrales Element die Ausweitung der öffentlichen Ausgaben und zwar vor allem für "besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden", das heisst Infrastrukturinvestitionen. Mit solchen Investitionen kann unverzüglich eine beträchtliche Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen und insgesamt die Wirtschaftsaktivität angekurbelt werden, wobei die dabei hergestellten Güter zugleich die Produktivität der gesamten Wirtschaft anheben. Obwohl das Stabilitätsgesetz weiter in Kraft ist und eigentlich sofort zur Anwendung kommen müsste, wird es von deutschen Regierungen seit Jahren einfach ignoriert. Denn es kollidiert mit den Bestimmungen des Maastrichter Vertrages, der den Handlungsspielraum von Regierungen permanent einschränkt und der Bundesbank sowie der Europäischen Zentralbank ausdrücklich untersagt, sich bei derartigen Aktivitäten zu beteiligen. Euro ohne Maastricht? Diese Selbstknebelungsfunktion der Europäischen Währungsunion ist hinlänglich oft beschrieben worden. Nun könnte aber jemand die Frage aufwerfen, ob man nicht ein Projekt "Reform-Euro", eine Art "Euro ohne Maastricht", durchführen könne. Schliesslich ist es doch für Unternehmen und Privathauhalte ungemein praktisch, mit dem gleichen Geld in Frankreich oder Italien, vielleicht demnächst überall in Osteuropa, bezahlen zu können. Die Antwort, und zwar ganz besonders aus Sicht der deutschen Wirtschaft, lautet Nein. Die neoliberale und antidemokratische Struktur der Währungsunion ist untrennbar mit der Tatsache verbunden, dass man hier eine Union der Währungen ohne Union der Regierungen schafft. Nur Regierungen sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Wenn Regierungen die Souveränität ihrer Währungspolitik, ein Schlüsselinstrument zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen, einer gemeinsamen supranationalen Institution übertragen, die dann wegen der erwarteten Eifersüchteleien rigoros nach einem einmal festgelegten Regelwerk operieren soll, kann daraus nur ein Monstrum hervorgehen. Nicht weniger wichtig sind die Verzerrungen, die eine gemeinsame Währung notwendigerweise verursacht, wenn sie Volkswirtschaften unterschiedlicher Entwicklungsstufe die gleiche monetäre Politik aufzwängt. Im Vergleich zu Irland, Portugal und Spanien, und erst recht im Vergleich zu den angekündigten Euro-Beitrittsländern Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, ist Deutschland ein Hochlohnland. Auch das Ausmass der sozialen Absicherung ist vergleichsweise hoch. Dies ist nur möglich und haltbar, solange die Produktivität der Arbeit ein entsprechendes Niveau erreicht. Wichtige Voraussetzungen dafür sind ausreichende Aufwendungen für Bildung, Gesundheit und physische Infrastruktur. Aus der Sicht von europaweiten Unternehmen hatte dieses Gesamtpaket des deutschen Wirtschaftsstandortes neben der höheren Produktivität zwei weitere markante Eigenheiten: einerseits relativ hohe Belastungen für Steuern und Abgaben, der Preis für den hohen Standard der weichen und physischen Infrastruktur, andererseits eine auf lange Sicht stabile Währung und, damit verbunden, deutlich niedrigere Zinsen als in den Nachbarländern. Dieser Vorteil ist seit der Abschaffung der D-Mark verloren gegangen. Seither boomen die Investitionen in Ländern wie Irland und Spanien und haben dort unhaltbare Spekulationsblasen an den Immobilienmärkten entstehen lassen. In den letzten acht Jahren sind die Immobilienpreise in Deutschland insgesamt um 0,2% gefallen, während sie in Spanien um 145% und in Irland um 192% explodierten. Permanenter Lohnsenkungsdruck Deutschland steht derweil vor Deflation und Depression. Nach der vollständigen Abtretung der Souveränität in Währungsfragen (Wechselkurse, Zinsen, unorthodoxe Finanzierung von Investitionsprogrammen) und der weitgehenden Einschränkung der Souveränität in Haushaltsfragen (Maastricht-Kriterien, Stabilitätspakt) steht nur noch ein einziges der klassischen Instrumente zur Beschäftigungssicherung zur Verfügung: die Absenkung von Löhnen. Die gemeinsame Währung erzeugt auf diese Weise einen beständigen Druck zur Anpassung von Löhnen und Sozialleistungen auf das niedrigste in der Währungsunion vorkommende Niveau. Die nominellen Löhne sind in Deutschland, anders als in den meisten anderen Mitgliedsländern der Euro-Zone, seit Jahren eingefroren. Die Löhne pro geleisteten Output sind inflationsbereinigt in Deutschland sogar seit zehn Jahren rückläufig. Sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze werden in Windeseile in Teilzeitjobs mit geringen oder gar keinen Sozialabgaben verwandelt, so dass die Sozialversicherungssysteme, zusätzlich zu den Folgen der Massenarbeitslosigkeit, in Schieflage geraten. Nach dem neuen Monatsbericht der Bundesbank sind in den Jahren 1991 bis 2004 fast sechs Millionen Vollzeitarbeitsplätze, ein Fünftel des Bestandes, in Deutschland verloren gegangen. Dies ist nicht Schicksal, sondern so gewollt. Am 20. Juli erklärte Joachim Fels, der Euro-Befürworter und Chefökonom von Morgan Stanley Europa, auf einer öffentlichen Veranstaltung in Frankfurt, Italien müsse nun ebenso wie Deutschland eine langjährige Schrumpfkur bei den Löhnen starten. Nur so könne der italienische Export wieder auf die Beine kommen. Dies sei nun einmal der Weg, wie Länder sich in der Währungsunion anpassen müssen. Natürlich könne dies die Binnennachfrage abwürgen. Aber das sei einfach der unvermeidbare Preis der Anpassung. Insgesamt müssten die Mitglieder der Euro-Zone schleunigst radikale "Reformen" durchsetzen. Andernfalls werde die Währungsunion in wenigen Jahren auseinanderbrechen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür betrage 30%. Europa ohne Euro? Auch und gerade in der Londoner City wurden in den vergangenen Tagen Szenarien über den baldigen Zusammenbruch der Europäischen Währungsunion aufgrund innerer Spannungen diskutiert. Die britische Bank HSBC, die grösste Europas, überschrieb ihren Monatsbericht im Juli zur Lage der europäischen Wirtschaft mit dem Titel "Europäische Kernschmelze?" Sie empfahl vor allem Deutschland, aber auch Italien und den Niederlanden, die Euro-Zone sobald als möglich zu verlassen. Die besonderen Motive, welche die Londoner City hier umtreiben, sind nebensächlich. Was deutsche Rechtsradikale oder italienische Separatisten davon halten, ist unerheblich. Die technischen und juristischen Hindernisse für einen Ausstieg aus dem Euro sind wichtig, aber zweitrangig. So gab der französische Zentralbankchef Christian Noyer kürzlich unumwunden zu, dass man letztlich kein Land daran hindern könne, der Euro-Zone den Rücken zu kehren. Entscheidend ist nur eines: Eine Industrienation, die auch in der Zukunft eine wichtige Rolle als weltweit führender Lieferant hochwertiger Investitionsgüter spielen soll und dafür im Gegenzug ein hohes Niveau von Infrastruktur und Lebensstandard aufrechterhält, benötigt zwingend die volle Souveränität in ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik. Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite