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Donnertage über dem Gazastreifen

Zehntausende von Zivilisten zittern um ihr Leben

von Gideon Levy / Ha'aretz / ZNet Deutschland 04.05.2006

Ohrenbetäubendes Dröhnen, Granatenbeschuss, Donnerhall. Die Fenster des Hauses erzittern, die Mauern, die schon von früherem Granatbeschuss Risse bekommen haben, drohen von den Explosionen zusammenzufallen, die Kinder schreien vor Angst oder irren geschockt und still im Haus herum. Eine Granate nach der anderen, alle paar Minuten eine neue. Manchmal ist es ein fernes Geräusch und manchmal ein Donnern und ein sehr nahe Dröhnen: Bum! Der Himmel zittert, es hört sich wie das Weltende an, immer wieder das ohrenbetäubende Dröhnen. Alle fünf Minuten eine Granate. Man weiß nicht, wo die letzte Granate landete, noch weniger weiß man, wo die nächste landet. Gestern Nachmittag landete eine Granate über den Köpfen dieser Kinder und Erwachsenen, deren Wohnung wir nun besuchen. Auch jetzt ein ohrenbetäubendes Dröhnen und schreckliche Angst.

Die Angst beginnt am Erez-Übergang mit den Geräuschen des Krieges. Später, wenn man den verlassenen Checkpoint verlassen hat und ein wenig nach Süden gefahren ist, wird das Geräusch lauter. Ein nie endendes Geräusch. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gewöhnt man sich an das Donnern. Aber diese Tausenden von Granaten, die angeblich nur auf „offene Flächen“ abgeschossen werden, säen nicht nur eine große und schreckliche Furcht in die Herzen der zig Tausenden von Bewohnern, einschließlich vieler Kinder, gelegentlich treffen sie die Wohnhäuser und dann töten und verletzen sie. Wir ( in Israel) hören nicht viel davon. Am Sonntag war Israel vollkommen mit den Basketballwettkämpfen beschäftigt; aber während unsere amerikanischen Basketballspieler auf den Korb zielten, zielte unsere Artillerie auf Beit Hanoun und Beit Lahiya im Gazastreifen. Auf dem Basketballplatz in Prag gab es Sieger und Verlierer – aber hier nicht. Hier gab es nur Verlierer.

Ob irgendjemand unter unseren ausgezeichneten Artilleristen sich darüber Gedanken über die Angst gemacht hat, die sie bei den Kindern verursachen, über deren Häuser sie Granaten schießen? Sind ihnen Bilder von der Zerstörung gezeigt worden, die sie absichtlich oder unabsichtlich verursachen. Keine Qassemrakete rechtfertigt dieses schreckliche, unverhältnismäßige Bombardieren, Tausende von Granaten in dicht bevölkertes Gebiete, auf seine Felder und gelegentlich auf die Wohnhäuser. Der Widerhall dieses Beschusses erreicht Israel nicht – und interessiert dort keinen. Letzte Woche gingen wir zum bombardierten Beit Lahia und zu der Häuserreihe, die beschossen worden war: es gab zwei Tote und mehrere Verwundete; diese Woche wurde Beit Hanoun bombardiert: drei Kinder verletzt und Dutzende leiden unter Schock.

Die kleine Meisa läuft barfuß zwischen den Ruinen ihrer Wohnung herum und tritt auch auf einen Teppich, der mit Glassplittern übersät ist. Ohne einen Ton von sich zu geben läuft sie von einer Ecke in die andere und weiß nicht, was sie tun soll. Ihr Gesicht ist vom Schock gezeichnet. Meisa sagt kein Wort, auch nicht die Spur eines Lächelns ist ihr zu entlocken. Dieses Kind ist nun ein Opfer des Schockes. Sie ist fünf Jahre alt. Am Schabbatnachmittag erschütterte eine Granate die Mauern ihres Hauses, traf das Dach und zerstörte es. Meisa war in der oberen Etage des verarmten Hauses. Nun läuft sie ruhelos umher und hält ein paar Lumpen fest im Arm, die einmal ihre Kleidung waren, um sie ja nicht zu verlieren. Ihr Cousin Abed war auf dem Dach und wurde verletzt. Dieses Haus ist das Heim für 35 Menschen. Fast alle waren zu Hause, als die Granate auf dem Dach landete – und die meisten waren kleine Kinder.

Das Haus der Abu Ouda-Familie liegt am Rande der Stadt Beit Hanoun und neben den Obstgärten, die die IDF zerstört hat wegen seiner Politik freier Flächen und die nun wieder bepflanzt wurden. Haus Nr 16 an einer Straße ohne Namen. Vom Dach hat man einen lieblichen Blick auf eine landwirtschaftlich genützte Landschaft: junge Obstbäume und eine Reihe Palmen am Ende. Die grauen Flecken im Obsthain sind die Krater des gestrigen Granatbeschusses. Die Dächer, die man am Horizont sieht, gehören zu Häusern von Sderot.

Nun landen die Granaten in der Nähe von Beit Lahiya, an einem Tag bei Beit Hanoun, am andern Tag in Beit Lahiya. Das Wasserbassin wurde vor etwa einem Jahr von der IDF zerstört und liegt noch immer in Ruinen. Das Dach, auf dem wir stehen und über die Schießfelder schauen, droht zusammenzubrechen. Zwei eiserne Pfosten sollen diese zerbrochenen Stücke Zement halten. Das wird nicht lange halten. Die Mauern des Hauses sind geborsten und einige der Decken drohen zu fallen. Die Treppe, die zum getroffenen Dach führte, hat sich in Luft aufgelöst. Das aufs Dachsteigen ist lebensgefährlich. Aber von hier wollten sie uns alle Zerstörungen zeigen : den Wasserbehälter, in dem das Wasser von der Sonne gewärmt wird, die Fernsehantennenschüssel und die Blutflecken von Abed, dem Jungen, der nun mit Granatsplittern im Bein im Haus daneben auf dem Boden liegt. Dabei ist er noch gut davon gekommen. Der Nachbarsohn Ahmed Naim liegt im Shifa-Krankenhaus mit einem Granatsplitter im Kopf.. Abed ist 13 und Ahmed 17. Sie erzählen, dass das Kind Mohammed auch leicht verletzt sei – mit einem Splitter am Hals. Er ist 5 Jahre alt.

Vom Dach kann man auch etwas von den Lebensbedingungen dieses armen Bewohner sehen: ein Meer von improvisierten Asbestdächer, beschwert durch graue Backsteine...Die Wohnung von Hatem Abu Ouda ist halb zerstört. Ein kleine Junge sitzt unter Schock auf einem staubigen Sofa und starrt ins Leere. Es ist der 8jährige Zakaria, der sich auch noch nicht vom gestrigen Granatbeschuss erholt hat. Auch jetzt geht das Bombardieren weiter, ein Schuss nach dem anderen. Die Küche wurde schwer beschädigt, auch das Schlafzimmer... Yihiye Abu Ouda war auf dem Dach, als die Granate einschlug. Er ist in der 12. Klasse und bereitet sich aufs Abitur vor. Um 11 Uhr begann der Beschuss des Obstgartens, 6 Granaten. Um halb vier, als Abed Abu Ouda aufs Dach kam, um die Plastikbehälter mit Wasser aufzufüllen und Yihiye mit Lernen beschäftigt war, kam die nächste Granate und traf auf Dach. Yihiye stürzte sich auf seinen Cousin, der von Granatsplittern in den Oberschenkel getroffen worden war und sehr blutete. Er brachte ihn die Treppe herunter. Auf der unteren Etage herrschte schon große Panik. Die ganze Familie eilte ins Nachbarhaus in der Hoffnung, dass sie dort sicherer sei; denn es gibt keine Schutzräume in der Gegend. Ja, in ganz Gaza gibt es keinen Luftschutzraum. Die unter Beschuss geratene Bevölkerung ist sich selbst überlassen.

Nachbar Zaki Abu Wahdan sagte, dass sein Enkel seit gestern ohne Pause zittern würde. ... Der verwundete Abed lag nun mit bandagiertem Bein im Flur, seine Stimme ist sehr schwach. Auch er ist noch immer unter Schock. Die Mutter zeigt die von Blut durchtränkte Hose. „Er ist 13 Jahre alt. Was hat er getan? Er hat nur den Wasserbehälter aufgefüllt.“ „Ich sah zuerst in den Obstgarten und sah wie Yihiye in einem Buch las – dann fiel die Granate 2, 3 m von mir entfernt. Der Grantsplitter ist noch in seinem Bein. Aber ärztliche Behandlung bekommt er erst in 14 Tagen .... Und der Beschuss geht weiter, auch jetzt. Die Bewohner sagten, dass sie versucht hätten, die Qassam-Werfer mit ihren Körpern daran zu hindern, aus ihrer Nachbarschaft zu feuern. „Wir kämpften mit ihnen und verfluchten sie, sagte ein älterer Nachbar, „Ihr wollt uns zerstören, sagten wir ihnen. Ich bin 60 Jahre alt und habe mein ganzes Leben gearbeitet, damit mir in einer Minute das Haus zerstört wird wegen der Qassams?“

Der IDF-Sprecher: „Die Bürger des Staates Israel leiden Tag für Tag unter den Terrorangriffen der Raketen, die aus dem Gazastreifen abgeschossen werden. Auch am letzten Sabbat, 29.April wurden eine Anzahl von Qassams nach Israel abgefeuert. Die IDF führt ihre Operationen aus, um seine Bürger zu schützen, und als Antwort auf die Qassams. Sie feuern dorthin, wo die Qassams abgefeuert werden und versuchen, dichtbevölkerte Gebiete zu vermeiden. Unglücklicherweise nutzen die Terrororganisationen die Sensibilität der IDF bezüglich der Zivilisten aus und operiert absichtlich nahe und von bevölkertem Gebiet aus. Ja, sie benützen die palästinensische Bevölkerung als menschliches Schutzschild.“ ...*

Anmerkungen

* So klingt es von Seiten des isr. Militärs. Bemerkung der Übersetzerin