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"Dschihad gegen Europa"

Für Bassam Tibi, den bekannten Islamexperten, tobt in Frankreich ein Religionskrieg. Gewinne Europa nicht seine Selbstachtung zurück, drohe ein Flächenbrand.

In Frankreich brennen die Vorstädte und auch in den britischen und niederländischen Ghettos brodelt es. Ist der Traum eines friedlichen Multi-Kulti zerplatzt? BASSAM TIBI: Der Multikulturalismus ist schon lange tot. Dieser Traum ist ausgeträumt. Die Bombe, die gerade in Frankreich hochgeht, tickte seit Jahrzehnten. Ich war vor kurzem in Amsterdam: Dort macht man sich seit dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh keine Illusionen mehr. Auch die Engländer wurden durch die Anschläge vom 7. Juli eines Besseren belehrt. Nur in Deutschland ist jeder gleich rechtsradikal, der Zweifel an der Multi-Kulti-Ideologie anmeldet. Da muss noch was passieren, damit den Dogmatikern die Augen geöffnet werden. Sind Unruhen wie in Frankreich auch in Österreich möglich? TIBI: Machen wir uns nichts vor: Das kann überall in Europa passieren. Ausnahmslos. Was in Paris abläuft, ist viel schwerwiegender als die Anschläge von London, Madrid und Amsterdam. Es ist ein Aufstand, ein richtiger Aufstand, eine Kriegserklärung an die europäische Identität und an die Zivilgesellschaft. Kann es sein, dass Sie das ein wenig zu apokalyptisch sehen? TIBI: Ich bin Wissenschaftler, kein Panikmacher. Ich weiß, wovon ich rede. Die Leute, die mich verlachen, haben ja keine Ahnung. In Paris geht es nicht mehr um Rache für zwei arme Jungen, die auf der Flucht vor der Polizei durch einen Stromschlag getötet wurden. Da geht es auch nicht um Gewalt. Sondern darum, ob europäisches Recht, europäische Normen und Werte im 21. Jahrhundert in Europa gelten. Die Jugendlichen kämpfen dafür, dass ihre Vororte - man nennt sie "Vororte des Islam" -, rechtsfreie Zonen werden. Wie erklären Sie sich den Hass? TIBI: Eine der Ursachen ist sicherlich die fehlende Integration. Die zweite ist falsche Zuwanderungspolitik. Europa braucht Zuwanderung, aber sie muss gesteuert werden. Wenn Sie Frau, zwei Kinder und eine Vier-Zimmer-Wohnung haben, können Sie bestenfalls ein befreundetes Paar mit Kind einladen. Wenn Sie zehn Gäste einladen, wo schlafen die dann? Das Problematischste ist der Familiennachzug: Denn eine türkische Familie, das sind ja nicht Mann, Frau und zwei Kinder, sondern das sind 100, 200 Leute, die alle nachkommen. Aber auch die Qualität gehört geregelt. Wir benötigen Zuwanderer, die das Sozialsystem sichern helfen und das Land bereichern, keine Sozialhilfeempfänger. Ich kenne ganze Viertel in Berlin, wo die Kinder ihre Eltern nie arbeiten gesehen haben. Die leben von Supermarktkriminalität. Würde ein Innenminister versuchen, die zu stoppen, gä! ;be es einen Aufstand wie in Paris. Die Randalierer in Frankreich sind großteils junge Muslime. Ihr Zorn richtet sich gegen eine westliche Zivilisation, die ihnen keine Zukunftsperspektive bietet. Welche Rolle spielt dabei die Religion? TIBI: Diese Kinder sind unterprivilegiert und ausgegrenzt, es handelt sich also um soziale Konflikte, die allerdings eine religiöse Gestalt annehmen. Hören Sie genau hin: Wenn die Kids Autos abbrennen, rufen sie "Allahu akbar" - "Allah ist der Größte". Das ist der islamische Kriegsruf. Das sind nicht bloß Randalierer. Die glauben, dass das, was sie tun, ein Dschihad gegen Europa ist. Was in Frankreich stattfindet, ist ein Religionskrieg! Noch ist er steuerbar. Lässt man die Dinge aber laufen, riskiert man einen Flächenbrand. Sind die Europäer gegenüber dem Islam zu nachgiebig? TIBI: Sie sind vor allem eines: Sie sind gleichgültig geworden. Das unterscheidet sie von den jungen Muslimen, die ihre Autos abfackeln. Die wissen, wofür sie kämpfen. Es war ein islamischer Philosoph, Ibn Khaldun, der im 14. Jahrhundert als erster den Begriff "Zivilisationsbewusstsein" benutzt hat. Das arabische Wort dafür lautet "asabiyya". Ibn Khaldun meinte, dass eine Zivilisation nur gedeihen könne, wenn sie zu ihren Werten steht. Tue sie das nicht, sei das ein Zeichen des Niedergangs. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe Europa. Aber die Europäer haben vergessen, wofür sie stehen, sie haben kein Selbstwertgefühl mehr. Sie sind stolz auf ihre Toleranz und lassen Islamisten gewähren, die behaupten, dass es keine Gleichheit zwischen Mann und Frau gibt. Das ist keine Toleranz, das ist Indifferenz. Sind Islam und westliche Zivilisation überhaupt vereinbar? TIBI: Ich bin überzeugt, dass ein Euro-Islam möglich ist - ohne Dschihad und ohne Scharia. Das setzt aber voraus, dass der Islam sich in Europa reformieren und die europäische Leitkultur anerkennen muss. Nur so kann der Konflikt neutralisiert werden. Heißt das, ohne bedingungslose Anerkennung dieser europäischen Leitkultur gibt es keine Integration? TIBI: So ist es. Der Pass allein wird nicht genügen. Das ist ja auch das Problem, das ich mit der Multi-Kulti-Ideologie habe. Multikulturalismus ist Wertebeliebigkeit, ist "anything goes". Jeder lebt, wie er will. Das lehne ich ab. Wozu das führt, zeigen die Jugendbanden in Paris. Die Kids haben die französische Staatsbürgerschaft, sie sprechen fließend Französisch - trotzdem hassen sie Frankreich. Welche Werte machen für Sie die europäische Leitkultur aus? TIBI: Das sind Demokratie, Zivilgesellschaft, Trennung von Religion und Politik, individuelle Menschenrechte sowie kultureller und religiöser Pluralismus. Diese Werte müssen verbindlicher Maßstab für alle sein, egal, ob Einheimischer oder Zuwanderer. Werden sie respektiert und auch die anderen Kriterien für eine erfolgreiche Integration erfüllt - Staatsbürgerschaft und eine menschenwürdige Arbeit -, dann ist ein friedliches Miteinander möglich. Integration beruht auf Gegenseitigkeit. Welche Hausaufgaben haben wir Europäer zu machen? TIBI: Zu Recht wird bemängelt, dass viele Muslime integrationsunwillig sind. Zugleich stelle ich aber fest, dass Europa nicht integrationsfähig ist. Nehmen Sie nur mich: Ich bin in Syrien geboren, lebe seit 1962 in Deutschland. Ich spreche perfekt Deutsch, habe 26 Bücher auf Deutsch geschrieben besitze einen deutschen Pass und bin Verfassungspatriot. Ich würde mein Leben hingeben, wenn die Demokratie in Deutschland gefährdet wäre. Aber das hilft alles nichts. Bis heute habe ich es nicht geschafft, als vollwertiger Bürger dazuzugehören. Quelle: Kleine Zeitung, 13. November 2005 Interview: Stefan Winkler Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite