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Ein Steinwurf weit von hier

Amira Hass über die Steine werfende Palästinenserkinder.

Trotz allem, sie kommen immer wieder: die Kinder mit Steinen in den Händen. Ein einsamer Polizei-Jeep kommt über die Stadtgrenze von Ramallah. Die Erwachsenen gehen ihren normalen Verrichtungen nach. Aber plötzlich tauchen von irgendwoher ein paar Kinder auf, sie warten an der Ecke im Hinterhalt - warten auf jenes Geräusch, das wiedermal das Nahen des Symbols ihres Hasses verkündet. Es kommt auch vor, dass ein oder zwei Polizeiwagen genau gegenüber der Jungen-Schule im Zentrum von Betunya halten; Betuny liegt westlich von Ramallah. Scheint so, als legten sie es gezielt darauf an, morgens vor Ort zu sein, wenn alle Kinder in die Schule strömen u. nachmittags, wenn sie wieder herausströmen. Ein paar Kinder sind ja immer mit dabei, die sich im Steinewerfen üben wollen. In den Jeeps sitzen junge Soldaten, die nicht viel älter sind als diese Schulkinder (was vielleicht erklärt, weshalb man es so auf diesen Ort abgesehen hat), und diese Soldaten üben sich dann in ihren eigenen Waffen: Schockgranaten u. Tränengas. Manchmal kommt aber nicht nur ein Jeep gefahren sondern gleich zwei - verstärkt durch einen APC (gepanzerter Mannschaftswagen) u. eine Militärambulanz: Ein Konvoi zum fürchten, der sich durch das Stadtzentrum u. die Marktstraße voller Menschen schiebt. Dann hat man es augenscheinlich auf Verhaftungen abgesehen. In diesem Moment greifen die Kinder - u. auch einige Nicht-Kinder - an. In manchen Fällen besteht die Reaktion der Soldaten einfach darin, schneller zu fahren, aber manchmal wollen sie auch unbedingt ein paar Salven über die Köpfe der Menschen abzufeuern - ob sie nun Steinewerfer sind oder nicht. Und auf die kurze Distanz spielt es auch keine Rolle, ob sie scharfe Munition verwenden oder Gummigeschosse (Stahlgeschosse im Gummimantel): beides ist gleichermaßen tödlich. An den Checkpoints, wo die Soldaten mit ihren Fahrzeugen u. Waffen permanent installiert sind, wollen die Kinder immer auf einer erhöhten Position stehen - einem Berg aus Dreck oder einem kleinen Hügel. Von dort aus werfen sie dann Steine auf ihr Ziel - die behelmten Soldaten; das Ziel ist aber so weit entfernt, dass sie es kaum erreichen können. Die Soldaten, in ihrer Entfernung, sind dabei mehr Symbol denn echte Zielscheibe. Steht bei dieser Szenerie auch noch die Sonne im Hintergrund oder der Horizont, so wirken diese Kinder fast wie geschmeidige Athleten, die sich in einer Art Zaubersport üben. Manchmal ignorieren die Soldaten die Kinder. Manchmal antworten sie mit Schockgranaten u. Tränengas. Dann zucken alle Leute ringsum zusammen - alle, bis auf die Kinder. Manchmal schießen die Soldaten aber auch scharf. Sie zielen nicht, um zu verwunden oder zu töten - schließlich sind sie nicht wirklich gefährdet - dennoch töten ihre Schüsse oder verletzen. In Nablus, Tul Karm, Dschenin, Rafah u. Beit Hanoun sehen sich die Kinder in ihrem ungleichen Kampf keinen Jeeps gegenüber vielmehr Panzern u. verschiedensten Arten von Panzerfahrzeugen. Ihre dramatische Unterlegenheit in diesem symbolischen Kampf scheint die Kinder dabei ebensowenig abzuschrecken, wie die Lebensgefahr, die von jenen tödlichen Maschinen aus Stahl ausgeht. Schon Dreijährige können deren Namen besser auseinanderhalten als die der Wildblumen, die auf den Feldern blühen. Die Eltern der Kinder u. auch andere Erwachsene erklären ihnen: wenn es wenigstens helfen würde, die Besatzung zu besiegen, okay. Aber ihr bringt doch nur euer eigenes Leben in Gefahr, und die Besatzung bleibt. Manche Eltern kratzen ihr letztes Erspartes zusammen, nur um den Kindern einen Computer zu kaufen oder sie ins nächste Internet-Zentrum schicken zu können (selbst im Flüchtlingslager Qalandiyah gibt es mehrere). Die Eltern wollen geradezu, dass ihre Kinder computersüchtig werden - so wie Kinder anderswo auf Computerspiele scharf sind. Wenn die Eltern ein Auto besitzen, fahren sie ihre Kinder zur Schule u. holen sie wieder ab. Aber die meisten Eltern haben kein Fahrzeug. Und es ist ihnen auch unmöglich, die Kinder den ganzen Tag, Minute für Minute, zu überwachen. Das Phänomen der steinewerfenden Kinder (von denen viele verletzt u. getötet werden) hat zudem viel zu tun mit der Schichtzugehörigkeit. Die Flüchtlingslager beispielsweise liegen am nächsten zu jenen Kreuzungen, an denen die Truppen der IDF (Israelische Armee) dauerstationiert sind. Und es sind die Viertel der unteren Bevölkerungsschichten, die am häufigsten von Armee-Razzien betroffen sind. Zudem gibt es dort dichtbevölkerte u. enge Gassen, die zum Widerstand einladen. In den Dörfern ist die Abriegelung eine konstante Erfahrung - sowohl für Erwachsene als auch für Kinder - auch wenn die Umgebung grün ist. Denn die Checkpoints rund um die Dörfer lassen jeden Trip in die Stadt zum außergewöhnlichen Ereignis mutieren. Nur diejenigen, die unbedingt müssen, machen das mit: Arbeiter, Behördenmitarbeiter, Studenten/Schüler, Kranke. So wird eine 7-Minuten-Distanz zur einstündigen (oder längeren) Abenteuerfahrt - zeitraubend u. voller Gefahren. Der Zugang zu typischen, altersentsprechenden Freizeitaktivitäten ist den Kindern vom Lande verwehrt: die vielfältigen Aktivitäten, die die Städte noch anbieten können wie etwa Judo- oder Debka-Kurse, Englisch, Basketball, Schwimmen oder Kindertheater. Die breiten Straßen auf der anderen Seite der Checkpoints, Straßen, auf denen nur Israelis fahren dürfen, sind zu einem mehr als nur passageren Symbol geworden. Diese schwarzen Asphaltbänder - so nah u. doch so fern - für die Kinder personifizieren sie Israels Macht, das Regime der Diskriminierung schlechthin. Sie hassen sowohl die Straßen, als auch die Fahrzeuge, die darauf verkehren - als Symbole der Diskriminierung. Von der Gefahr getötet zu werden ganz abgesehen, ist (für diese Kinder) die Gefahr einer Verhaftung allgegenwärtig. Auch in der Nacht wird verhaftet. Man stelle sich einen Trupp bewaffneter Soldaten vor: der Vater muss das Kind wecken, kaum erwacht, wird es an irgendeinen Verhörort verschleppt. Man befragt es zu den Steinwürfen, u. dann muss es etwas unterschreiben - auf Hebräisch, eine Sprache, die es nicht versteht. Manchmal verprügeln die Soldaten die Kinder auch. Dabei sind die Prügler u. die Prügelknaben oft nur wenige Jahre auseinander im Alter. Aber wenn man noch so jung ist (wie die palästinensischen Kinder), u. in einer derartigen Situation mitten in der Nacht, klafft doch eine riesige Kluft zwischen denen, die Macht ausüben u. denen, über die sie ausgeübt wird. Jedes palästinensische Kind kennt (im Gegensatz zu den Israelis) - die Berichte über stinkende, überfüllte Gefängniszellen, in denen die Kinder zwischen einer Woche u. 3 Monaten festgehalten werden. Und trotzdem sind sie immer wieder zur Stelle - mit einem Stein in der Hand. Haben sie Angst, für Feiglinge gehalten zu werden? Werden sie zur Gewalt verführt? Ist es kindlicher Nachahmungstrieb? Angabe? Langeweile? Zu wenig Freizeitangebote? Es ist etwas dran an diesen Argumenten - aber sie beinhalten nicht die volle Wahrheit. Da ist dieses Grundgefühl, das hinter allem steckt - wenn man dieses Grundgefühl nicht begreift, bleiben alle Erklärungen laienpsychologisch. Will man etwas über dieses Grundgefühl lernen, so braucht man nur den Kindern zuzuhören: Der Junge ist 9, das Mädchen 10. Ihre Eltern tun alles, um das Leben ihrer Kinder so sinnvoll wie möglich zu gestalten u. sie mit normalen kindlichen Aktivitäten zu beschäftigen - um sie von der Gefahr fernzuhalten. Aber als man diesen beiden Kindern erzählt, ein paar junge Israelis säßen im Gefängnis, weil sie den Militärdienst in den 'Gebieten' verweigern, fragt der 9-jährige ganz verwirrt: "Gibt es denn wirklich Juden, die lieber ins Gefängnis geh'n, anstatt als Soldaten hierher zu kommen?" Und seine ältere Schwester sagt: "Sie lassen sich wohl lieber wegsperren, damit sie uns nicht wehtun können" . Übersetzt von: Andrea Noll Quelle: Ha'aretz / ZNet 09.02.2003