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Ein US-Diplomat ruft Kollegen zum Massenrücktritt auf

In einem Offenen Brief unter der Überschrift "Ein Appell an das Gewissen", der am 21. Mai 2004 auf der Internetseite www.salon.com veröffentlicht wurde, forderte der frühere US-Diplomat Roger Morris seine Kollegen auf, aus Protest gegen die Politik der US-Regierung ihre Ämter niederzulegen. Wir veröffentlichen Auszüge:

Hochverehrte Treuhänder, gestatten Sie mir diese etwas ungewöhnliche Anrede, aber Sie, die Frauen und Männer unseres diplomatischen Dienstes, sind wahre Treuhänder... Ihnen ist unsere Rolle und unser Ansehen unter den Nationen und letztlich unser Schicksal anvertraut. Sie haben eine große Aufgabe. Nie war das Gewissen, das Sie verkörpern, wichtiger... In den letzten Monaten, in denen die Tragödie der amerikanischen Außenpolitik immer deutlicher wurde, denke ich oft ... an die Situation, in der Sie sich als Staatsdiener befinden. Keine Generation außenpolitischer Profis, auch nicht meine eigene während des elenden Vietnam-Kriegs, war mit einer so quälenden Realität konfrontiert, stand vor einer so schwerwiegenden Entscheidung. Über die Außenpolitik Präsident Bushs brauche ich mich hier nicht zu äußern - und über all die Dinge, die sich für Insider wie Sie, unabhängig von Ihrer politischen Haltung, noch viel schlimmer darstellen als für Außenstehende. Ihnen ist bekannt, wie rücksichtslos eine Clique politischer Quereinsteiger und ideologische Eiferer, mit dem außergewöhnlich mächtigen und insgeheim doktrinären Vizepräsidenten Cheney an der Spitze, nachrichtendienstliche Erkenntnisse manipulierte und selbstherrlich die Irak-Politik und andere Fragen bestimmte. Sie wissen von den heftigen Konflikten zwischen den Ministerien, in denen das politisierte und arrogante Pentagon jeden Widerstand des Außenministeriums oder der CIA massiv abschmetterte oder einfach ignorierte und uns zu einem einseitigen aggressiven Irak-Krieg und im Irak und in Afghanistan zu einer chaotischen Besatzung mit verheerenden Konsequenzen drängte. Sie wissen, welch uninformiertem und achtlosem Präsidenten Sie in George W. Bush dienen, einem Mann, dessen Ignoranz und Verbohrtheit das Gegenteil jener Bildung und Offenheit ist, die Sie in der Kunst der Diplomatie verkörpern. Einige von Ihnen wissen, auf welch klägliche Weise die nationale Sicherheitsberaterin in ihrer vornehmsten Aufgabe versagt, nämlich für gewisse Ordnung unter den divergierenden Interessen in Washington zu sorgen und damit den Präsidenten und die Nation vor Schaden zu bewahren... Sie dienen einem Präsidenten, dessen Außenpolitik die mit Abstand schlimmste in der Geschichte der Vereinigten Staaten ist. Noch nie hat Amerika in einem solchen Maße Verträge und Bündnisse mißachtet, Freunde vor den Kopf gestoßen, die Zahl seiner Feinde vermehrt und überall an Respekt und Glaubwürdigkeit verloren... Diese Regierung hat in ihrer militanten Überheblichkeit die Politik jeder Vorgängerin zunichte gemacht und das Vertrauen zerstört, das in den letzten fünfzig Jahren jedem Präsidenten, ob Demokrat oder Republikaner, entgegengebracht wurde... "Ich möchte mit dem Naheliegenden beginnen", erklärte Senator Jack Reed unlängst bei der Anhörung des Streitkräfteausschusses zu Abu Ghraib. "In den nächsten fünfzig Jahren wird man die Vereinigten Staaten in der islamischen Welt und in vielen anderen Teilen der Welt mit dem Bild eines Amerikaners assoziieren, der einen nackten Iraker an einer Leine über den Boden schleift." Senator Reed sprach über Sie und Ihre Zukunft. Was Präsident Bush weltweit ruiniert hat, gehört ja weitgehend Ihnen. Es ist Ihre engagierte Arbeit, die beschädigt wurde - die mißachteten Verträge, die Sie pflichtgetreu entwarfen und aushandelten, die entfremdeten Verbündeten, um die Sie sich geduldig bemühten, die wachsende Zahl an Feinden, die zu gewinnen Sie all Ihre Kraft einsetzten. Sie wissen, was passieren wird. Früher oder später wird die neokonservative Clique in ihre Denkfabriken zurückkehren, der Vizepräsident wird eine üppige Pension von Halliburton erhalten, der Präsident sich auf seine texanische Ranch zurückziehen - und Sie werden... noch jahrzehntelang damit zu tun haben, das Chaos zu beseitigen. Sie wissen, daß ein publikumswirksamer Rücktritt an höchster Stelle - etwa von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder hoher Militärs wegen Abu Ghraib - nichts ändert. Das gleiche gilt für Außenminister Colin Powell, der für Sie vielleicht ein gewisser Lichtblick in dieser perversen Truppe gewesen sein mag, doch er bleibt der politische General, der er immer war. Hat er Ihren Verlust gewürdigt, indem er zurücktrat, als der Niedergang noch hätte aufgehalten werden können? Nein, heute kommt es auf Ihre Stimme an. Sie allein stehen über Ehrgeiz und Parteipolitik. Diese Regierung hat Ihre Loyalität nicht mehr verdient... Ihr Schritt würde der amerikanischen Öffentlichkeit zeigen, daß diese Regierung unerträglich ist, und einer immer zynischeren Welt deutlich machen, daß es noch Amerikaner gibt, die mit ihrem Leben und ihrer Ehre die höchsten Grundsätze unserer Außenpolitik hochhalten. Vor vierunddreißig Jahren stand ich vor einer ähnlichen Entscheidung wie Sie, als ich beschloß, wegen des Überfalls auf Kambodscha meinen Dienst im Nationalen Sicherheitsrat zu quittieren. Ich hatte an den Geheimverhandlungen zwischen Henry Kissinger und den Nordvietnamesen teilgenommen und mir war klar, daß die Invasion die Friedensaussichten zunichte machen und den Krieg verlängern würde - auch wenn mir nicht bewußt war, daß Tausende amerikanischer Namen auf der langen schwarzen Mauer des Vietnam Memorial in Washington hinzukämen und in Kambodscha ein Völkermord folgen würde. Ich stand am Beginn einer langen Laufbahn, von der ich lange geträumt hatte. Aber meine Entscheidung habe ich nie bereut, und ich bilde mir auch nichts auf sie ein. Meine Freunde und ich wiesen immer darauf hin, daß ein Rücktritt angesichts der Prinzipienlosigkeit der Regierung Nixon nichts Besonderes sei... Verglichen mit der heutigen Regierung erscheinen Nixon und Kissinger vielen Leuten heute geradezu als vorbildhafte Politiker. Wenn Sie nun Ihre Entscheidung abwägen, sollten Sie sich vor den herkömmlichen Argumenten hüten, die üblicherweise gegen einen Rücktritt ins Feld geführt werden - daß man Einfluß verliert und ein solcher Schritt ohnehin nichts bewirkt. Unter dem eisernen Griff dieser Clique werden Sie keinen Einfluß haben und immer weniger bewirken können, vor allem vor dem Hintergrund des politischen Desasters und der wachsenden öffentlichen Kritik. Ihre Entscheidung - welchen Posten Sie auch bekleiden und wie groß Ihre Zahl sein mag - wird andere ermutigen und all jene stärken, die im Amt bleiben und ihre Wahrheit der Nation und der Welt verkünden. Ich weiß natürlich aus eigener Erfahrung, daß ich Sie nicht auffordere, Ihren Widerstand aus dem gesicherten Dasein eines Pensionärs bekanntzugeben. Mir ist durchaus bewußt, daß dies für Sie und Ihre Angehörigen ein großes Opfer ist. Sie stehen nicht allein. Drei hohe Diplomaten - Mary Wright, John Brady Kiesling und John Brown - haben im letzten Frühjahr aus Protest gegen den Irakkrieg den Dienst quittiert... Das Amerika, das Sie durch Ihre Berufswahl repräsentieren wollten, das Amerika, das die Völkergemeinschaft früher nicht durch brutale Macht, sondern kraft seiner allgemeingültigen Prinzipien führte, braucht Sie wie nie zuvor. Wir, die wir Ihre Arbeit und Ihre Welt kennen, wissen, daß Sie uns nicht enttäuschen werden. Sie sind schließlich unsere Treuhänder. Der Publizist Roger Morris diente unter den Präsidenten Johnson und Nixon im Nationalen Sicherheitsrat in Washington, bis er wegen des amerikanischen Einmarsches in Kambodscha seinen Rücktritt einreichte. Er verfaßte u.a. Bücher über den politischen Aufstieg Nixons und die Clintons. Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite