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Eingeschlossen im "Saumstreifen"

Israelische Schikanen zwischen Grüner Linie und Separationsmauer.

Israel MauerLetzte Woche hat auf Initiative der Uno-Generalversammlung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Anhörung zur Frage der Legalität des Separationswalls stattgefunden. Dort haben Juristen von OXPIL (Oxforder Anwälte des öffentlichen Interesses), die zu den rechtlichen Konsequenzen des Mauerbaus befragt wurden, darauf hingewiesen, dass der Separationswall das Internationale Völkerrecht verletze, und zwar die Vierte Genfer Konvention von 1949 bezüglich des Schutzes der Bevölkerung unter einer Besatzungsmacht. Zudem würden durch diesen Separationswall die Internationalen Menschenrechte verletzt.

rw. Um überhaupt in ihrem eigenen Haus wohnen zu dürfen, brauchen die rund 6000 Palästinenser, die im neuen "Saumstreifen" in der West-Bank leben, eine Bewilligung von der israelischen Besatzungsmacht. Besuchern ist es ohne besonderen Grund und Bewilligung nicht erlaubt, in die Dörfer zu kommen, Geschäfte gehen zugrunde, das Landwirtschaftsgebiet vertrocknet aus, und viele Häuser werden von der Besatzungsmacht zerstört.

Das "Bewilligungsregime", wie das israelische Hohe Gericht die schikanösen Prozeduren für die palästinensischen Bewohner des "Saumstreifens" zwischen der Separationsmauer und der Grünen Linie nennt, besteht aus einem Dickicht von 11 Bewilligungsarten. In diesem Gebiet leben mehr als 6000 Palästinenser, eingeschlossen zwischen der Grünen Linie und dem Separationswall. Es ist zu einer geschlossenen militärischen Zone Israels erklärt worden auf Grund der "Deklaration der Schliessung von Territorium No. 2/03 (Saumstreifenausdehnung) 5764-2003".

Jabara

Das palästinensische Dorf Jabara, das südlich von Tulkarem liegt, ist ein solches eingeschlossenes palästinensisches Dorf. Es liegt im Gebiet innerhalb der "Ausdehnung des Saumstreifens", wie Israel das durch die neue Mauerroute annektierte Gebiet nennt. Ursprünglich sollte die Mauer westlich des Dorfes vorbeigezogen werden, so dass Jabara in der West-Bank gelegen wäre. Plötzlich gab es eine Änderung der Route, offensichtlich, damit die israelische Siedlung Sla'it südlich von Jabara auf die israelische Seite der Mauer kommt. So wurde die Mauer weiter ostwärts gebaut.

Die Einwohner der israelischen Siedlung Sla'it sind von all den Dekreten ausgenommen, die den palästinensischen Einwohnern von Jabara auferlegt worden sind. Diese gelten nämlich nicht für: "a) einen Bürger des Staates Israel; b) einen Einwohner des Staates Israel; oder c) eine Person, die unter dem "Recht zur Rückkehr" (für Juden) berechtigt ist, nach Israel einzuwandern."

Jabara ist ein besonders hübsches, von Weideland umgebenes Dorf. Das Gras, die Obstbäume rundum und Marmorstrukturen verleihen dem Dorf eine gewisse Änlichkeit mit einem ruhigen Ort in der Provence. Doch alles, was früher ein geographischer Vorteil war, ist nun zu einem geopolitischen Hindernis geworden. Heute ist Jabara ein grosses Gefängnis, in dem das Leben unerträglich geworden ist. Anfänglich haben sich die Einwohner in einer hoffnungslosen zivilen Revolte dagegen gewehrt, die Bewilligungen, die man ihnen auferlegt hatte, einzuholen. Für einen ganzen Monat war dann das Dorf geschlossen: Keiner ging hinaus und keiner kam hinein. Daraufhin unterwarfen sich die Einwohner und erhielten die Bewilligungen, aber das Leben wurde nicht viel besser.

Bewilligungsschikanen

Im folgenden eine Liste der Bewilligungen, die die Einwohner im Gebiet der "Saumstreifenausdehnung" brauchen, um ihr alltägliches Leben zu führen: Die wichtigste Bewilligung erlaubt einer Person, sich hier - an ihrem Wohnort - aufzuhalten und zu Hause zu schlafen. Sie wird nicht jedem Einwohner automatisch ausgehändigt, wie es selbstverständlich wäre. Die einen erhalten eine Erlaubnis für ein Jahr, andere erhalten sie nur für drei oder sechs Monate und müssen sie erneuern, wenn sie ausläuft. Der Vorsteher einer Schule in Tulkarem zum Beispiel leidet unter den härteren Bedingungen: Er war 10 Jahre im Gefängnis in Nablus und wurde im Zusammenhang mit humanitären Massnahmen nach dem Oslo-Abkommen entlassen. Warum war er verhaftet worden? "Weil ich für den Frieden gearbeitet habe", antwortet er. Seitdem steht er ständig unter Verdacht, und die erste Erlaubnis, in seinem Haus zu leben erhielt, er nur für drei Monate.

Zusätzlich zu dieser Bewilligung braucht ein Einwohner dieses Gebiets eine spezielle Erlaubnis, zwischen den Städten in der West-Bank umherzureisen. Er braucht eine Bewilligung, um sein Land zu bebauen, das meist ausserhalb des Walls liegt und natürlich eine spezielle Erlaubnis, nach Israel zu fahren. Aber das ist nicht alles. Es gibt natürlich viele Situationen, in denen jemand von ausserhalb - ein Arzt, ein Verwandter, ein Handelsreisender oder eine andere Person - jemanden in der "Saumstreifenausdehnung" besuchen muss. Zu diesem Zweck sind 11 verschiedene Bewilligungsarten definiert worden, die von Personen, die das Gebiet betreten wollen, eingeholt werden müssen: eine Bewilligung für den Eigentümer einer Firma, eine Bewilligung für einen Kaufmann, eine Bewilligung für einen Angestellten, eine Bewilligung für einen Bauern, eine Bewilligung für einen Lehrer, eine Bewilligung für einen Schüler, eine Bewilligung für einen Angestellten der Palästinensischen Behörde, eine Bewilligung für einen Besucher, eine Bewilligung für einen Angestellten einer internationalen Organisation, eine Bewilligung für einen Angestellten einer lokalen Behörde und eine Bewilligung für einen Mitarbeiter eines medizinischen Teams. Die Hindernisse haben zur Folge, dass all diese Leute es möglichst vermeiden, mit diesem Dorf etwas zu tun zu haben. Und die Einwohner von Jabara bleiben isoliert in ihrem Gefängnis.

Irrsinn am Tor

Jabara hat nur einen Ausgang via die Kafriyat-Strassensperre. Sogar die israelischen Soldaten geben zu, dass von allen Strassensperren diese die irrsinnigste ist. Durch sie kommen jüdische Siedler in Area C (unter israelischer Kontrolle), die Einwohner von Tulkarem betreten Area A (unter palästinensischer Kontrolle), und die Einwohner von Jabara gehen in Area B (unter israelischer militärischer Hoheit). In diesem Durcheinander von Leuten, Autos, Eseln und Wagen, ist es schwierig zu erfassen, wer wohin geht. Die Soldaten haben die unmögliche Aufgabe, zwischen den Inhabern der verwirrenden Bewilligungen mit den verschiedenen Reisezielen hin und her zu laufen.

In dieses Gedränge gelangte eines Tages ein älterer Palästinenser, Einwohner von Tulkarem, der von Beruf Gipser war. Ein Einwohner von Jabara hatte ihn am Morgen angerufen und ihn gefragt, ob er an seinem Haus eine Arbeit verrichten könne. Dieser Telefonanruf hätte den Gipser eine Zeitlang vor der Arbeitslosigkeit und Armut bewahren können, die in dieser Stadt stetig zunimmt. Der Mann aus Jabara benötigte nämlich einen Verputz für den regnerischen Winter. Der Gipser stand lange an der Strassensperre und fand es schwierig zu verstehen, dass er eine spezielle Bewilligung brauche, um ein Dorf zu betreten, das bis vor kurzem ein integraler Teil von Tulkarem gewesen war. Er stand mit verblüfftem Gesicht da und ging schlussendlich nicht durchs Tor.

Die Einwohner von Jabara sagen, dass die Soldaten selbst nicht verstehen, was hier geschieht, und je nach Laune willkürliche Entscheidungen treffen. Manchmal sind die Soldaten sehr schlechter Stimmung. Besonders diejenigen, die das einzige Tor in der Mauer nach Osten öffnen müssen, durch das nur die Schüler hindurch dürfen. Im kleinen Dorf Jabara gibt es nämlich keine öffentlichen Dienste, nicht einmal eine Schule. Alle Kinder besuchen Schulen in den Nachbardörfern, die sich nun ausserhalb der Mauer befinden. Jeden Morgen öffnen und schliessen die Soldaten das Tor für die Schulkinder, und um genau 13.30 Uhr öffnen sie es wieder, damit die Kinder nach Hause gehen können. Am Morgen warten die Soldaten, bis alle 88 Schüler sich am Tor versammelt haben, erst dann machen sie ihnen den Weg frei. Wenn ein Schüler verspätet ist, kommt er nicht mehr durch. Zum Glück hat Unicef für die Kinder eine Laube errichtet, damit sie wenigstens vor Sonne und Regen geschützt sind. Auf dem Heimweg wieder die gleiche Prozedur. Wenn ein Schüler zu spät am Tor ankommt, muss er auswärts in einem andern Dorf schlafen. Vorfälle dieser Art haben sich bereits ereignet und wurden vom OCHA (Büro der Vereinten Nationen für die Koordination Humanitärer Angelegenheiten) in dessen Bericht aufgenommen.

Wenn die Soldaten gut gelaunt sind, machen sie mit den Kindern Scherze. Manchmal teilen sie sie zum Beispiel während der Wartezeit in Gruppen ein - Hamas, Jihad und Fatah - und ordnen an, die Faktionen sollten miteinander streiten. Dies verstehen sie als "Humor". So wird an diesem Tor jeden Tag die Saat des Hasses gesät.

Lebensunterhalt verunmöglicht

Der "Luxus" eines sich öffnenden Tores ist für Jabaras Einwohner, die keine Schulkinder sind, nicht erhältlich. Sie bleiben innerhalb der "Saumstreifenausdehnung" gefangen, verlassen das Dorf nur selten und können ihre Verwandten, die auf der östlichen Seite der Mauer geblieben sind, nicht besuchen. Die Pflanzen in den Gewächshäusern, Früchte jahrelanger Arbeit, sind schon lange verwelkt. Die Einwohner des Gebiets baten die Institutionen der Europäischen Union, den Transport der Gewächshäuser in die Zone, in der sie eingeschlossen sind, zu finanzieren. Darüber entstand in der EU eine Uneinigkeit. Gegenüber dem Wunsch der EU-Länder, die Situation der Palästinenser zu verbessern, steht die Zurückhaltung, die Resultate der israelischen Politik, die die EU ablehnt, weiterhin zu finanzieren.

Jabaras Hühnerkäfige, ein anderer Zweig des lokalen Lebensunterhalts, stehen leer. "Die meisten Leute hatten Hühner", sagt Faruk Awad, ein Einwohner. "Die Hühner brauchen Futter und einen Tierarzt. Aber der Lastwagenfahrer und der Tierarzt wollen nichts mit den Bewilligungen zu tun haben, die sie benötigen, um zu uns zu kommen. Alles ist tot."

Bevor Tulkarem und seine Umgebung in Stücke zerschnitten wurden, war es eine menschliche und agrikulturelle Einheit. Der grösste Teil des Landwirtschaftsgebiets des Dorfes Farun befindet sich in Jabara, das jetzt auf der anderen Seite der Mauer liegt - für die Menschen von Farun unerreichbar. Von 11 Faruner Bauern, die die israelischen Behörden um Erlaubnis angefragt hatten, ihr Land in Jabara zu bewirtschaften, wurden 10 zurückgewiesen.

Die häufigen Änderungen des Verlaufs des Separationswalls, verbunden mit Druckmitteln von innen und aussen, macht den Leuten Angst. Jedesmal, wenn die Mauer versetzt wurde, bezeichneten die Besatzungsbehörden wieder andere Häuser, die in ihren Augen zu nahe an der Mauer lagen. Sie wurden bald darauf zerstört. Die Menschen von Farun haben Angst, ihr Haus zu verlassen, weil es während ihrer Abwesenheit zerstört werden könnte. Sie betonen, dass kein einziger Terrorist aus ihrem Dorf gekommen ist. Man könne auch nicht sagen, dass die Häuser, die zerstört werden, zu nah an der Mauer seien, sagt Yusuf Omar. "Sie können mit eigenen Augen sehen, dass es mehr als 300 Meter sind." Und er fügt an, dass diese Politik nur ein Ziel habe, "dass wir nicht existieren. Diese Befehle, Häuser zu zerstören, sagen uns nicht, 'hört auf zu bauen'. Sie sagen uns 'hört auf zu leben'."

Die meisten Palästinenser hier nehmen an, dass Israel mit der Verunmöglichung ihres Lebens im Saumstreifengebiet beabsichtigt, die palästinensischen Einwohner derart existentiell unter Druck zu setzen, dass sie "freiwillig" ins Exil gehen, um dann ihre Gebiete neben der Grünen Linie zu annektieren.

vgl. dazu:
"Haaretz" im Februar 2004

Berichte des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA)