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Feindbild Rußland

Die Konsolidierung Rußlands unter Putin ist denjenigen im Westen, die dieses Land als wichtigen Faktor der Weltpolitik beseitigt sehen wollen, ein Dorn im Auge. Sie fordern einen scharfen Kurswechsel in der Rußlandpolitik "des Westens".
Am 28. September 2004 wurde ein "Offener Brief an die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und der NATO" veröffentlicht, den mehr als 100 führende Sicherheits- und Außenpolitiker der anglo-amerikanischen Imperialfraktion und ihres europäischen Anhangs unterzeichnet haben. Die Botschaft des "Offenen Briefes" ist klar: Rußland soll wieder zum Feindbild des "Westens" gemacht werden. In dem "Offenen Brief" heißt es: "Rußlands demokratische Institutionen waren immer schwach und fragil. Seit er im Januar 2000 Präsident wurde, hat Wladimir Putin sie noch weiter geschwächt... Präsident Putin hat die Absicht geäußert, seine Macht weiter zu zentralisieren und Maßnahmen zu ergreifen, die Rußland einen weiteren Schritt hin zu einem autoritären Regime führen... Wir sind auch über das immer negativer werdende Verhalten Rußlands in seinen auswärtigen Beziehungen besorgt. Die Außenpolitik von Präsident Putin ist zunehmend durch eine Drohhaltung gegenüber Rußlands Nachbarn und Europas Energiesicherheit gekennzeichnet. Dazu kommt die Rückkehr zur Rhetorik des Militarismus und des Imperiums, und die Weigerung, Rußlands Vertragsverpflichtungen zu erfüllen. In allen Aspekten des politischen Lebens Rußlands werden die Instrumente der Staatsmacht wiederaufgebaut und die Dominanz der Sicherheitsdienste wächst... Diese Aktionen sind nur die jüngsten Beweise dafür, daß die gegenwärtige Führung Rußlands von den demokratischen Kernwerten der Euro-Atlantischen Gemeinschaft wegmarschiert," behauptet der "Offene Brief". Dann wird im "Offenen Brief" behauptet, "der Westen" habe zu lange "geschwiegen und seine Kritik zurückgehalten... Westliche Führer fahren fort, Präsident Putin zu umarmen", womit offensichtlich insbesondere Bundeskanzler Schröder und der französische Präsident Chirac gemeint sind, die sich am 31. August in Sotschi zu einem Dreiergipfel mit Putin getroffen hatten. "Die Führer des Westens müssen erkennen, daß unsere gegenwärtige Strategie gegenüber Rußland gescheitert ist... Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu überdenken, inwieweit wir uns mit Putins Rußland einlassen sollen, und uns eindeutig auf die Seite der demokratischen Kräfte in Rußland stellen". Daß Rußland heute seine strategischen Partnerschaften mit Frankreich, Deutschland, China oder Indien weiter ausbaut, ohne dabei einen Konfrontationskurs gegenüber Washington zu fahren, scheint die Unterzeichner des "Offenen Briefes" besonders zu empören. Ganz offensichtlich ist ihnen insbesondere die politisch-strategische und Wirtschaftskooperation mit Westeuropa ein Dorn im Auge. Deshalb ist die Wut nicht nur auf Putin, sondern auch auf Schröder und Chirac sehr groß. Das machen Äußerungen von Angela Merkels außenpolitischem Sprachrohr, Friedbert Pflüger, gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich, wo er erklärte, Schröder habe "de facto eine Achse Paris-Berlin-Moskau" gebildet, während er die USA "ans Schienbein trete". Dagegen müsse mobil gemacht werden, und deshalb habe er den "Offenen Brief" unterschrieben. Zu den deutschen Unterzeichnern gehören neben Pflüger dessen ex-Gattin Margarita Mathiopoulos, ex-NATO-General Naumann, die Professoren Sandschneider und Kühnhardt, ein Michael Mertes sowie interessanterweise der Vorsitzende der Grünen, Reinhard Bütikofer. Je eine Handvoll Unterzeichner kommen aus Frankreich, Italien, Polen und einigen kleineren EU- und südosteuropäischen Staaten. Aber das sind alles nur Randfiguren. Die Masse der Unterzeichner kommt aus den USA. Dabei sind die Neokonservativen selbstredend am stärksten vertreten: Max Boot, Jeffrey Gedmin, Robert Kagan, Senator John McCain oder ex-CIA-Chef James Woolsey. Mitglieder imperial-neokonservativer Denkfabriken sind zuhauf vertreten: Sie kommen vom "Project for a New American Century" (PNAC), dem "American Enterprise Institute" (AEI), der "Brookings Institution", der "National Endowment for Democracy" (NED), der "RAND Corporation", dem "Hudson Institute" oder von "Freedom House". Aber es gibt auch eine Reihe vom "Liberal-Imperialisten" wie Richard Holbrooke, der beim Kosovo-Krieg 1999 eine Schlüsselrolle spielte und heute John Kerry außenpolitisch "berät". Auch Senator John Biden, Francis Fukuyama oder Zbigniew Brzezinskis Sohn Mark wären hier zu erwähnen. Das Feindbild, das im "Offenen Brief" von Rußland gezeichnet wird, ist eine Reaktion darauf, daß das stark geschwächte Rußland sich nicht weiter schwächen lassen wird. Nach mehr als zehn Jahren des rasanten Niedergangs stabilisiert sich die russische Wirtschaft. Bei den Nuklearwaffen ist Rußland den USA immer noch ebenbürtig, und es wird seinen Status einer Weltmacht nicht aufgeben. Das heutige Rußland erinnert an das Rußland unter Zar Alexander II., der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nach der schweren Niederlage des Krimkrieges sein Land modernisierte und wieder in eine weltpolitische Rolle zurückführte.
 
Quelle: Neue Solidarität, 41/2004
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