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Fischbestand geht dramatisch zurück

Immer weniger, und vor allem immer kleinere Fische in unseren Weltmeeren.

"Als der alte kubanische Fischer Santiago nach 84 erfolglosen Tagen endlich Beute an den Haken bekommt, ist es ein wirklich dicker Brocken - ein Blauer Marlin, länger als sein Boot. Ein solch riesiges Exemplar, wie es Ernest Hemingway in seinem 1952 erschienenen Bestseller "Der alte Mann und das Meer" schildert, könnte es damals durchaus gegeben haben. Marline können bis zu fünf Meter lang und mehr als 600 Kilogramm schwer werden. Doch heute dürfte kaum noch jemand so ein Schwergewicht aus dem Meer holen. (...)

Schuld am Schwund sind nicht einzelne Fischer wie Hemingways alter Mann in seinem kleinen Boot, sondern eine hoch industrialisierte Fischerei, die inzwischen Leinen von 100 Kilometer Länge mit rund 1000 Haken in das Wasser der Ozeane entlässt. Dass diese Langleinen-Fischerei die Fischbestände der Hochsee arg dezimiert, ist seit Jahren bekannt. Wie drastisch sie aber die Meere leerräumt, ist jetzt erstmals in einer umfassenden, weltweiten Datenerhebung dokumentiert worden, die das britische Wissenschaftsblatt Nature als wichtig genug für seine aktuelle Titelstory erachtet.
Demnach hat der weltweite Bestand nahezu aller großen Fischarten einen dramatischen Niedergang erlitten - Tunfische, Schwertfische, Marline in der Hochsee sowie Kabeljau, Heilbutt, Rochen und Flunder in den Küstenmeeren erreichen nur noch zehn Prozent der ursprünglichen Biomasse. "Es sind drei Dinge, die sich verändert haben", sagt Boris Worm, Mitautor der Studie und zurzeit am Institut für Meereskunde der Universität Kiel: "Die Häufigkeit der Fische ist um den Faktor zehn zurückgegangen, die durchschnittliche Länge und das Gewicht sind geschrumpft, und die Artenzusammensetzung hat sich sehr stark verändert."

Hatten die Hochseefischer früher etwa an jedem zehnten Haken einen Fisch hängen, wenn sie die Langleinen einholten, sei heute nur noch jeder hundertste Haken besetzt, sagt Worm. Und die durchschnittliche Länge der Fische ist auf die Hälfte bis ein Drittel geschrumpft, Blaue Marline sind nur noch ein Fünftel so schwer wie einst. Vor allem die sehr großen, langsam wachsenden und spät reproduzierenden Arten sind geschwunden. Schnell wachsende und früh reproduzierende Raubfische dagegen wurden zumindest zeitweise häufiger und hingen vermehrt am Haken. (...)

Das grundlegende Problem ist: Bislang weiß niemand, wie viel Restbestand einer Fischart ausreicht, um sie vor der Ausrottung zu bewahren. Für die meisten sich schnell vermehrenden Fischarten besteht u.U. noch keine Gefährdung. Anders sieht es allerdings mit manchen sehr großen Arten sowie mit Haien und Rochen aus, die sich langsamer vermehren - oder in kalten Gewässern, wo die Fische nur langsam wachsen. So haben sich die Dorsche um Neufundland auch nach zehnjähriger Schonzeit nicht erholt.

Boris Worm sieht das Problem fundamentaler: "Wir haben es mit 70 Prozent des Planeten zu tun, mit einem lebendigen Ozean, der die biogeochemischen Kreisläufe und das Klima reguliert - sozusagen das "life support system" der Erde. Wir wissen noch nicht, wie das alles zusammenhängt, aber wir greifen dramatisch ein. Und wir haben keine Ahnung, was wir dadurch an möglicherweise nicht wieder gutzumachenden Veränderungen bewirken." Der Biologe fordert, der Fischereidruck müsse generell um die Hälfte vermindert werden, um alle Arten zu erhalten.
Daneben sollten Gebiete unter Schutz gestellt werden, in denen nicht nur eine gewünschte Art, sondern besonders viel Beifang mit herausgeholt wird. Und auch die Verbraucher können etwas tun, indem sie Schwertfisch, Tunfisch oder Dorsch meiden. Hering und Seelachs dagegen kann man guten Gewissens konsumieren.
Dennoch bleibt ein Problem, das nur schwer zu knacken ist: Je seltener ein Fisch, desto wertvoller wird er - eine ökonomische Dynamik, gegen die Fangverbote kaum helfen. Während der Gelbflossen-Tunfisch noch recht häufig ist und mit jährlich vier Millionen Tonnen angelandet wird, ist der größere Blauflossen-Tunfisch extrem selten geworden. Und deshalb wertvoller als jedes andere Lebewesen der Erde: Frisch gefangene Exemplare werden in Japan mit 50000 US-Dollar gehandelt. Kürzlich brachte ein Fisch den traurigen Rekordpreis von 300000 Dollar ein."

Quelle: Henning Engeln "Abschied von dicken Fischen" (DIE ZEIT 21/2003)