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"Gott will es!"

Zwei schockierende Erklärungen wurden in dieser Woche öffentlich abgegeben. Beide erfordern eine Kommentierung.

Von Uri Avnery, 13.9. 2004 Die eine erklärt, das Auflösen von Siedlungen im Gazastreifen sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Sie erwähnt nicht, daß die Siedlungen auf Landreserven einer Million Palästinenser errichtet wurden, die zusammengepfercht in dem winzigen Streifen leben, und daß sie diesen das knappe Wasser stehlen. Ihre Entfernung, so heißt es in der Erklärung, sei ein "Ausdruck von Tyrannei, Bosheit und Willkür". Offiziere und Soldaten werden aufgerufen, sich an dieser "ethnischen Säuberung" nicht zu beteiligen. Diese Erklärung wurde sowohl vom Vater und Bruder Binyamin Netanyahus als auch von Meir Har-Zion, dem Lieblingsschüler Ariel Sharons, unterzeichnet, der in den 50er Jahren dafür bekannt wurde, aus Rache für die Ermordung seiner Schwester mit eigenen Händen die Kehlen mehrerer unschuldiger Beduinen durchschnitten zu haben. Auch zwei frühere Generaldirektoren des Büros des Ministerpräsidenten unterschrieben. Die meisten der Unterzeichner sind nicht religiös. Die zweite Erklärung besagt, die Halakha (jüdisches Religionsgesetz) befehle das Töten von unschuldigen palästinensischen Zivilisten, wenn dies hilft, Juden zu retten. Sie ist von den Leitern der Yeshivot [Talmud-Schulen]-Organisation, von Rabbinern der West Bank-Siedlungen und von anderen religiösen Führern unterzeichnet worden. Später schloß sich ihnen noch einer der beiden Oberrabbiner (der sefardische) an. Über die erste Erklärung habe ich mich nicht besonders aufgeregt. Leute dieser Art finden sich überall auf der Welt. In anderen Ländern werden sie Faschisten genannt (aber wegen des Holocaust verwenden wir diesen Ausdruck nicht gern in unserem Land). Was sie miteinander verbindet, ist eine primitive, rückgewandte Moral, die besagt, "wir" seien eine überlegene Rasse, Gottes auserwähltes Volk, eine Herrenrasse und so weiter, während "sie" eine minderwertige Rasse, Untermenschen sind. Wir können mit ihnen machen, was wir wollen, mit einem reinen Gewissen; uns dürfen sie gar nichts tun. (In der Erklärung werden die Siedler aufgefordert, "ihren eigenen Leuten" kein körperliches Leid zuzufügen - was es ihnen gestattet, alle anderen zu verletzen.) Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben solche Leute Zerstörung über viele Völker gebracht, einschließlich ihrer eigenen. Aber gesunde Völker überwanden sie schließlich. Ich hoffe, uns gelingt dies auch. Die zweite Erklärung ist weitaus gefährlicher. Eine religiöse Lehre, die im Namen Gottes zum Töten von Zivilisten aufruft, ist sehr ernst. Solch ein von Rabbinern der Yeshivot-Organisation unterzeichnetes Dekret ist zehnmal schlimmer. Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß diese Yeshivot in Wirklichkeit militärische Einheiten sind. Sie stellen ein einzigartiges Phänomen der israelischen Armee dar: ganze Einheiten, die sich auf eine politisch-ideologische Basis gründen und ihren eigenen Führern gehorchen. Als David Ben-Gurion inmitten des Krieges von 1948 die israelische Armee (offiziell die Israelische Verteidigungsarmee - IDF - genannt) aufbaute, war er entschlossen, alle ihre politischen Gruppierungen zu eliminieren. Deshalb löste er die Palmakh auf, die legendäre Elitegruppe, die sich auf die Kibbuzim gründete und nach links tendierte. Die heutige Organisationsform wurde offiziell geschaffen, um Studenten der Yeshivot in die Lage zu versetzen, in der Armee zu dienen, ohne ihre Studien zu unterbrechen. In der Praxis stellen sie eine Miliz von Rechtsradikalen - besonders Siedlern - dar. Während sie in der Armee dienen, stehen die Yeshiva-Studenten nominell unter der Befehlskette der Armee, praktisch sind sie aber auch ihren Rabbinern unterstellt, deren Position an politische Kommissare der Roten Armee erinnert. Falls es jemals einen Konflikt zwischen den Befehlen der Offiziere und den Direktiven der Rabbiner geben wird, wird die große Mehrheit der Soldaten-Studenten zweifellos den Rabbinern gehorchen. Ohnehin trägt jetzt eine große Anzahl der Offiziere selbst eine Kippah, was ihre Zugehörigkeit zum religiösen Lager belegt. Die Führer des nationalistisch-religiösen Flügels, und besonders die Siedler, sind seit Jahren systematisch darum bemüht gewesen, die Armee von innen her zu erobern. Während der ersten Jahrzehnte der IDF hatten die Kibbuzmitglieder einen entscheidenden Einfluß auf das Armeeführung, aber heutzutage übernehmen die Siedler und andere nationalistisch-religiösen Leute. Sie füllen die unteren und mittleren Ränge des Offizierskorps. Diese Entwicklung und die verstärkte Besatzung [der palästinensischen Gebiete] hat das Aussehen der IDF vollständig verändert. Sie ist jetzt eine andere Armee. Die Erklärung der Yeshivot-Führer, die zum Töten von palästinensischen Zivilisten aufruft, deckt diese Situation auf. Da kein einziger Führer einer Yeshiva-Organisation sich dagegen ausgesprochen hat, müssen wir annehmen, daß sie in diesem Punkt einer Meinung sind. Auf den ersten Blick ist es nur ein Gutachten von Fachleuten. Mit der für die Führer dieses Lagers typischen Heuchelei sagen sie, dies sei - Gott bewahre! - keine Einsatzorder, sondern nur eine arglose Bemühung der Rabbiner, den Führern des Volkes zu erklären, was die Halakha zu diesem Problem sagt. Das ist natürlich eine Erklärung mit Hintergedanken. Die Yeshivot-Soldaten sind täglich in Situationen verwickelt, in denen sie darüber entscheiden müssen, ob sie auf Zivilisten schießen. Dabei ist ziemlich offensichtlich, daß ihr Verhalten von der "Meinung" ihrer Rabbiner bestimmt wird. Sie wird für viele Menschen zum Todesurteil. Schon heute werden jeden Tag palästinensische Zivilisten getötet. Nur über einen kleinen Teil dieser Vorfälle wird in den Medien berichtet. Ein alter und körperbehinderter Mann wurde vor kurzem in den Trümmern seines Hauses von einem Armeebulldozer begraben, der es so schnell zerstörte, daß es seiner Familie nicht mehr möglich war, ihn in Sicherheit zu bringen. Erst gestern wurde ein 9-jähriger Junge von Splittern einer von einem Hubschrauber auf ein Nachbarhaus abgefeuerten Rakete getötet, während er zu Hause schlief. Fast jeden Tag werden Jungen jedes Alters getötet, während sie Steine auf Panzer und Soldaten werfen (deren kugelsichere Westen und Helme bedeuten, sie befinden sich nicht in Gefahr). Es ist unmöglich, zu erfahren, wie viele, wenn überhaupt, dieser Zivilisten - Männer, Frauen, alte Leute und Kinder - von Yeshivot-Soldaten oder von Soldaten unter dem Kommando von Kippah-tragenden Offizieren getötet wurden. Niemand kann ohne belastenden Beweis angeklagt werden. Aber es ist klar, daß solche Taten nun durch diese rabbinische Interpretation der Halakha einen Koscherstempel erhalten haben. Sie beendet damit jegliche Vortäuschung durch den "reine Waffen"-Mythos. Sie leugnet nicht nur jedes Mordverbot, sondern auch die Scham für solche Akte. Die einzige religiöse Stimme, die sich gegen dieses entsetzliche Dokument erhob, war die einer kleinen und mutigen Gruppe, den "Rabbinern für Menschenrechte", die versuchen, gegen diese schmutzige, messianische Strömung anzukämpfen, die fast das ganze religiöse Lager Israels überschwemmt hat. Ihre Erklärung deckt auf, daß die Führer der Yeshivot die von ihnen "zitierten" Talmudsätze absichtlich verfälscht haben. Der wahre Text verbietet einem Juden, Unschuldige zu töten, selbst, um das eigene Leben zu retten. Schließlich habe Gott alle Menschen "nach seinem eigenen Bilde" geschaffen. (Genesis 1, 27). Leider wird diese Erklärung keinerlei Einfluß auf die religiösen Milizen innerhalb der IDF und noch weniger auf die Siedler haben, die jetzt den Ton in der Armee angeben. Viele der abscheulichsten Verbrechen der menschlichen Geschichte wurden im Namen der Religion begangen. Im Buch Joshua steht, Gott habe den Kindern Israels befohlen, eine allgemeine ethnische Säuberung im Lande Kanaan durchzuführen. Die Kreuzfahrer begingen schreckliche Massaker in diesem Land (und gegen Juden auf dem Weg hierher) während sie riefen "Deus le volt!" ("Gott will es!") Heute vor drei Jahren sandte Osama bin Laden seine Leuten aus, um tausende in den New Yorker Zwillingstürmen im Namen Gottes zu töten. Möge Gott uns vor jenen bewahren, die in Seinem Namen reden wollen. Übersetzung: Ellen Rohlfs Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite