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Mord an Unschuldigen

Nach der Amerikanerin Rachel Corrie brachten israelische Soldaten gezielt einen Londoner Friedensaktivisten um. Ein Augenzeugenbericht.

von Joe Smith Bitte nicht schon wieder. Wir hörten das Schießen - wir hören immer Schießen - aber wiederholtes Scharfschützenfeuer wie dieses ist besonders beunruhigend. Ich hörte den Schuss, ich hörte einen Schrei, und wandte mich um auf den fluoreszierenden orangenen Haufen zu sehen, der auf dem Boden lag, Blut drang aus seinem Kopf. Ich bewegte mich ein wenig hin und her, nicht ganz wissend, was zu tun sei, und innerhalb weniger Sekunden schaltete sich meine medizinische Ersthelferausbildung ein. Die Palästinenser hoben ihn hoch um ihn aus der Gegend zu tragen. "Setzt ihn ab!" schrieen Alice, die andere Sanitäterin, und ich. Schließlich konnten wir ihn auf das Straßenpflaster legen, ich holte meine Mulltupfer heraus und versuchte das Bluten zu stoppen. Man denkt nicht an Gummihandschuhe in Zeiten wie diesen. Blut floss aus seinem Hinterkopf. Ich konnte es nicht stoppen. Sekunden später wurde er wieder aufgehoben und in ein Taxi gezogen. "Wartet auf den Krankenwagen!" Wir versuchten sie zu überzeugen, aber sie waren hysterisch, und er wurde von uns gerissen und eiligst zum Krankenhaus in einem braunen Mercedes gebracht. Der Krankenwagen kam Minuten später an die Stelle, aber es war zu spät, er war schon weg. Ich schaute herab und stellte fest, dass ich den blutigen Verbandmull noch immer in meiner Hand hatte. Für einen kurzen Moment hatte ich den Reflex ihn wegzuwerfen, wie man das mit jedem Abfall auf diesen Straßen tut, aber ich konnte ihn nicht loslassen. Ich hielt ihn im Taxi den ganzen Weg zum Krankenhaus fest, und umklammerte ihn immer noch als ich mich auf den Boden hockte gegen die Steinmauern, die seinen Operationsraum umgaben. Für mich war er bereits in dem Augenblick tot als er für unsere medizinische Notversorgung auf den Boden heruntergelassen wurde. Alice versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen, und ich wusste, dass es nutzlos war. Für mich war er bereits tot als er aus unseren Händen gezogen und in das Auto gezogen wurde. Selbst als er aus dem Al-Najjar Hospital herausgefahren und zum Europa Hospital in Khan Younis gebracht wurde, war er nach meiner Vorstellung nicht mehr lebendig. Nun ist er auf der Intensivstation im Saroka Hospital in B'ersheva, hirntot aber noch atmend. Es ist unbedeutend wie beständig sein Herz schlägt, ich spreche weiterhin von ihm in der Vergangenheit. Ich brauchte lange um zu akzeptieren, dass Rachel tatsächlich von uns gegangen war, und ich denke, mein Bewusstsein kompensiert jenen Verlust, indem es sich im Voraus auf einen weiteren vorbereitet. Sein Name war Thomas Hurndall und er war aus London. Als er ankam, hatten wir bereits einen englischen Kumpel, der Tom hieß, so wählte er den Spitznamen "Tab", und so kannte ich ihn. Tab war unglaublich mitfühlend beim Schutz von Menschen wann und wo sie ihn am meisten brauchten. Wir waren in Yibna, ein Rafah Flüchtlingslager direkt an der ägyptischen Grenze, weil er sich der beständigen israelischen Beschießung bewusst war, deren Opfer diese Ortschaft jeden Tag ist. Er hatte von den zwei Brüdern gehört, die am vorangegangenen Morgen erschossen worden waren, und war fest entschlossen eine Präsenz dort aufrecht zu erhalten. Er sagte, dass er wirklich äußerst wütend und entschlossen wurde, als er in seinem Bett in dem Haus des Arztes das Kanonenfeuer gehört hatte, das Haus, bei dessen Beschützung Rache starb. Er wollte in den gefährlichsten Gegenden sein, nicht aus irgend einem Märtyrerkomplex heraus um zu sterben, sondern einfach weil er wusste, dass gerade dort die Internationalen am notwendigsten benötigt werden. Er war bereit in dem Haus zu bleiben, auf das am meisten gezielt wurde, und half uns große Transparente daran anzuhängen. Er war im Begriffe, ein Zelt aufzustellen in einer Gegend vor einer Moschee, die jede Nacht von einem israelischen Panzer zur Terrorisierung der Nachbarschaft durch Kanonenfeuer benutzt wurde. Wir waren auf dem Weg, das Zelt aufzurichten an dem Tag, als er erschossen wurde, aber hatten das Projekt aufgegeben wegen der Beunruhigung der Palästinenser über das Ausmaß des Kanonenfeuers. Der Panzer war bereits an seinem Parkplatz als wir ankamen und schoss in der Gegend herum. Ein nahegelegener Sicherheitsturm hatte ebenfalls sich beteiligt und feuerte die furchterregenden Scharfschützensalven. Wir hatten uns hinter einem großen Straßenblock positioniert um zu > entscheiden, was wir tun sollten, und Laura war mit ein paar Palästinensern nach vorne gegangen um nachzusehen. Sie trug unsere Warenzeichen geschützte fluoreszierende orangene Jacke mit reflektierenden Streifen und war klar erkennbar eine Internationale. Obwohl, oder vielleicht deswegen schossen sie um sie herum. Sie sagte, dass Schüsse auf beiden Seiten von ihr abgefeuert wurden, die es ihr ziemlich schwierig machten sich zu bewegen. Sie war gerade wieder zu uns gekommen als das Scharfschützenfeuer vom Turm sich auf den Straßenblock richtete, hinter dem wir standen. Dort waren Kinder, die spielten auf dem Straßenblock, wie sie es oft tun, und viele verstreut wegen dem Kanonenfeuer. Da war jedoch ein Junge, bei dem Tab bemerkte, dass er zu ängstlich war, sich zu bewegen. Instinktiv entfernte er ihn schnell aus der Gegend, als er beobachtete, dass Schüsse um den kleinen und zerbrechlichen Unschuldigen fielen. Nachdem er ihn erfolgreich weggebracht hatte, war er im Begriffe wegzugehen, als er zwei kleine Mädchen unten vor dem Straßenblock bemerkte, direkt in der Feuerlinie. Er war dabei ihnen zur Flucht zu helfen als der israelische Soldat im Turm anlegte und eine großkalibrige Scharfschützenkugel direkt in Tabs Kopf feuerte. Er war im vollen Blickfeld des Turms und trug wie Laura die hoch sichtbare Kleidung. Unsere Botschaften waren von unserer Anwesenheit in dem Gebiet informiert, und sie hatten das israelische Militär informiert. Sie wussten, wer er war, sie wussten, was er war, und sie wussten, was er dort tat. Sie wussten, dass er keine Bedrohung für ihre körperliche Unversehrtheit war, aber sie verstanden wahrscheinlich auch die internationale Aufmerksamkeit, die seine Anwesenheit auf sich zog, und sie wussten, wie unsere Arbeit als menschliche Schutzschilde sie zulänglich daran hinderte, die palästinensischen Zivilisten zu terrorisieren und ihre Häuser zu zerstören. So gesehen war er eine "Bedrohung" für sie, eine Bedrohung für das Image von Israel, das es für die Welt porträtiert. Er war eine Bedrohung für die Rechtfertigung der Okkupation, und eine Bedrohung für ihre unbezweifelte Vorstellung über diese Menschen als nichts anderes als unmenschliche Terroristen. Der Scharfschütze konnte diese Art der Herausforderung nicht aushalten und traf tödliche Maßnahmen um sie zu beenden. Wir müssen nur abwarten um zu sehen, wie solch eine Tat zurückschlagen wird. Ich kannte Tab nicht ganz so gut. Er war nur eine Woche hier, aber plante den vollen Monat seiner Visumsgenehmigung zu bleiben. Er hatte gerade eine Woche mit Flüchtlingsarbeit in Jordanien verbracht, davor hatte er zwei Wochen Arbeit als menschliches Schutzschild und Hilfsmaßnahmen im Irak geleistet. Er war ein ausgezeichneter Fotograf und war leidenschaftlich besessen von der Dokumentation der immensen Verletzungen des Menschenrechts, die am arabischen Volk ausgeübt werden. Es war seine erste Reise in den Nahen Osten, aber seine vorangegangenen drei Wochen hatten ihn ziemlich versiert gemacht in dieser Art von Arbeit. Er war reif und wohlüberlegt, aber unglaublich leidenschaftlich und entschlossen. Ich war ganz überrascht zu hören dass er erst 21 Jahre alt war, in dem selben Jahr geboren wie ich. Ich hatte an diesem Tag einige Stunden damit verbracht, ihn in di>Gegend von Rafah mitzunehmen um ein paar Fotos zu machen. Wir versuchten einige Fotobilder von der Stadt zusammenzustellen und unserer Anwesenheit hier zur Dokumentation und für Öffentlichkeitszwecke. Die Kinder hier lieben eine Kamera und würden uns unentwegt umschwärmen. Dies belastet und überwältigt die meisten Menschen, aber Tab fand es etwas komisch und kicherte den lärmenden Kindern zu und rief "Wie heißt du" und "Wie geht es dir". Er erwähnte, dass er bereits einige Tricks gelernt hatte wie das Nichtherausnehmen seiner Kamera bis zum wirklich letzten Augenblick. Wir hatten sogar an diesem Tag eine Unterhaltung über die Gefahren dieses Ortes, und wie keiner von uns sie wirklich verstehen würde oder wir würden nicht hier sein. Ich sagte, dass ich immer noch auf meinen internationalen Status verlasse, selbst nach der kürzlichen Gewalt gegen uns. Ich glaubte, dass nicht eine gezielte Maßnahme gegen Internationale sei, lediglich ein verstärkter Anstieg an Rücksichtslosigkeit und Feindschaft, die der verstärkten Effektivität unserer Arbeit entgegengebracht wird. Ich sagte, dass ich nicht wirklich verängstigt würde bis sie offen auf einen offensichtlichen Internationalen zielen würden. Nicht bis sie sehr bewusst einen von uns töteten würde ich den Terror fühlen, der von den Palästinensern empfunden wird. Das Schicksal arbeitet auf mysteriöse Weise. Ich weiß nicht, ob ich hier noch bleiben kann. Ich glaube, dass Internationale hier bleiben müssen, und dass israelische Militär nicht die Lehre daraus ziehen sollte, dass sie mit solcher Gewalt ISM einschüchtern können. Ich glaube, dass es nur zeigt, wie wirkungsvoll unsere Arbeit geworden ist, und dass jetzt die Zeit gekommen ist zu bleiben und eine noch stärkere Präsenz aufzubauen. Aber ich habe nur noch so viel Energie übrig. Rachels Tod hat mir eine Menge herausgezogen aber mich auch inspiriert länger zu bleiben und mich dem Olympia Partnerstadt Projekt und der gewaltfreien direkten Aktion gegen die israelische Okkupation von Rafah zu widmen. Ich hatte geplant bis zum Ende Mai zu bleiben um diese Ziele zu vollenden, und ich wusste, dass ich wenigstens dies in mir übrigen geblieben war. Aber dieser Vorfall hat mich schnell verbraucht und schafft in mir Zweifel, ob ich jetzt mit diesem Ort und dieser Art von Arbeit umgehen kann. Wer weiß, was jetzt mit ihm geschehen wird. Wahrscheinlich wird seine Familie vor die gefürchtete Entscheidung gestellt, ob man ihn von den lebenserhaltenden Maßnahmen trennt oder nicht. Ich muss hier weg wen er stirbt, ich kann nicht das ganze shahid Ding noch einmal machen. Ich kann auch nicht an einer weiteren also militärischen Untersuchung mitmachen. Es gab viele palästinensische und internationale Augenzeugen, die bereit sind zu kooperieren. Ich werde weitermachen mit der Medienarbeit und dem Rechtsverfahren bezüglich Rachels Tod, aber ich kann nicht zwei Sachen bewältigen. Ich kann es einfach nicht. Meine Grenzen kennen zu lernen ist ein entscheidender Teil meiner persönlichen Entwicklung hier gewesen. Ich habe gelernt "nein" zu sagen, und ich sage es jetzt. Diese Äußerung kann für jeden medialen oder gesetzlichen Prozess genutzt werden, aber das ist es, khallas! Was für ein Privileg ist es für mich, dies so sagen zu können. Welches Glück habe ich, dass ich einfach weggehen kann, wenn ich genug habe und das Ereignis in meinem mentalen Register von intensiven Erfahrungen einordnen will. Ich kann aber nur hier weggehen unter der Bedingung, dass ich mit einer längerfristigen Verpflichtung zurückkehren werde, da meine Solidarität mit diesen erstaunlichen Menschen gerade erst begonnen hat. [Joe Smith ist ein amerikanischer Aktivist aus Kansas City, Missouri, stationiert beim International Solidarity Movement in Rafah, Besetztes Gaza. Er war ein Freund von Rachel Corrie und war bei ihr als sie von einem israelischen Bulldozer am 16. März 2003 zerquetscht wurde.] Quelle: ZNet Deutschland 12.04.2003 Übersetzt von: Winfrid Engl