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Nablus, die sterbende Stadt

Von den Medien ignoriert, wird eine einst blühende palästinensische Metropole langsam erdrosselt.

Von Gideon Levy Knafeh, eine arabische Köstlichkeit, ist in Nablus am besten und hat zu ihrem guten Ruf beigetragen. Am frühen Abend ist Abu Salhas Pastetenladen an der Straße, die zum Refidiye-Stadtteil führt, verlassen, seine Regale fast leer. Ein Verkäufer, der durchsichtige Plastikhandschuhe trägt, schneidet die traditionelle, heiße, orientalische Käsespezialität in Stücke. Ihr Geschmack ist das einzige, was sich in dieser geschlagenen und geschundenen Stadt nicht verändert hat. Von einem Besuch zum anderen sieht man wie Nablus sich unaufhaltsam immer mehr im Todeskampf windet. Dies ist nicht ein Ort, der hinter Betonmauern und Erdwällen stirbt, die es von der Welt abschneidet; dies ist eine Stadt mit sehr alter Geschichte, die bis vor kurzem eine vibrierende, geschäftige Hauptstadt war, die sich eines intensiven Handelsleben , einer großen Universität, Krankenhäuser, einer fesselnden Stadtlandschaft und uralter Schönheiten rühmen konnte. Nur eine Autostunde von Tel Aviv entfernt liegt eine große palästinensische Stadt im Sterben - und so wird ein weiteres Ziel der Besatzung realisiert. Es geht nicht nur darum, dass die wunderbaren alten Häuser verwüstet liegen, nicht nur dass eine große Zahl der Bewohner, die meisten unschuldige Zivilisten, getötet wurden; die ganze Gesellschaft flackert nur noch und ist bald ausgelöscht. Ein ähnliches Schicksal hat Jenin, Qalqiliya, Tulkarem und Bethlehem heimgesucht; aber in Nablus ist die Auswirkung des Todeskampfes mächtiger, weil Nablus die Hauptstadt des Distriktes ist - und wegen seiner Schönheit. Eine Staub- und Sandwolke hüllt die Stadt ein. So hat man den Eindruck, sich in einer Kampfzone während eines Waffenstillstandes zu befinden. Ihre Straßen sind aufgerissen, seine Strom- und Telefonmasten geknickt, seine Regierungsgebäude sind nur noch Schutthaufen. Die wahren Wunden liegen aber viel tiefer als die äußere Zerstörung: eine wirtschaftliche, kulturelle und soziale Struktur löst sich auf und es gibt eine Generation, die nur ein Leben der Leere und der Verzweiflung kennt. Mehr als in jedem anderen Ort der besetzten Gebieten fällt einem hier ein Zustand von Anarchie in die Augen. Es gibt keine Stadt, die so abgesperrt und abgeschlossen ist wie Nablus. Während der letzten drei und halb Jahre war es unmöglich, auch nur den Anschein eines normalen Alltagsleben aufrecht zu erhalten. Es ist unmöglich sie zu verlassen oder sie zu betreten. Etwa 200 000 Menschen sind Gefangene in ihrer eigenen Stadt. Die Kontrollpunkte bei Beit Iba, Azmurt und Hawwara, die die Stadt nach allen Richtungen absperrt, sind die schärfsten Checkpoints in der ganzen Westbank. Selbst in Wehen befindliche Frauen und alte Leute haben große Mühe, sie zu passieren und die meisten Stadtbewohner versuchen es schon gar nicht mehr. In Nablus gab es auch eine große Anzahl von Todesfällen. Bei der letzten Operation der israelischen Armee, der der teuflische Namen "Stilles Wasser" gegeben wurde, wurden nicht weniger als 19 Zivilisten getötet - sechs davon waren Kinder. 200 wurden verwundet ( nach der Palästinensischen Menschenrechtsmonitorgruppe). Dies sind Dimensionen eines groß angelegten Terroristenaktes, nur ohne öffentliche Beachtung - und es geschah in einer Zeit, in der sich palästinensischer Terrorismus sehr zurückhielt. Wer wird dieses Töten en gros untersuchen, auch das Töten der Kinder, einschließlich des sechsjährigen Mohammed Aarj, der in seinem Garten stand und ein Sandwich aß? Danach verweigerte die israelische Armee einem Ambulanzwagen, ihn zu holen, wie Palästinenser berichteten. Gräueltaten sind hier unter dem Deckmantel totaler Medien-Nichtbeachtung begangen worden, behaupten die Bewohner von Nablus. Nachbarn sahen, wie Abud Kassim von Soldaten festgehalten wurde - dann plötzlich ein Schuss - er war in seinem Garten getötet worden. Ala Dawiya wurde mit neun Kugeln in seiner Brust tot aufgefunden; Fadi Hanani, Jibril Awad und Majdi al Bash wurden - nach Zeugenberichten - aus kurzer Entfernung totgeschossen. Dem Zivilisten Muain al Hadi und seinem Cousin Basel befahlen israelische Soldaten, sie als "menschliche Schutzschilde" zu begleiten, im Widerspruch zu einem ausgesprochenen Verbot dieser Praxis. Keiner in Israel hörte etwas von diesen Vorkommnissen und keiner wird sie untersuchen. Innerhalb dieser Realität leben Zehntausende Menschen, die nichts Böses getan haben. Was über sie verhängt wird, ist eine Kollektivstrafe. Dies wird als Kriegsverbrechen betrachtet. Sie stehen am Morgen auf, ohne zu wissen, was die IDF sich in der Nacht für die Stadt ausgedacht hat und was sie während des Tages tun wird. Die meisten Bewohner haben längst ihren Lebensunterhalt verloren. Natürlich kann behauptet werden, sie sind selbst dran Schuld: wegen der Terrorakte, die von ihrer Stadt ausgingen. Diese Behauptung kann aber nicht das Töten und all das schändliche Tun rechtfertigen. Währenddessen kaufen Leute - trotz allem - bei Abu Salhah noch immer die köstliche Knafeh. Quelle: Ha'aretz / ZNet Deutschland 25.01.2004 Lesen Sie weiter Hintergrundinformationen zum Nahostkonflikt in unserer News-Seite.