Schamlose Chemieindustrie
Profit mit Menschenversuchen: Es klingt ungeheuerlich: Pestizide, also Schädlingsbekämpfungsmittel, werden immer häufiger auch an Menschen getestet. Den Probanden werden bestimmte Insektizide verabreicht, um festzustellen, ab welcher Dosis eine Wirkung zu beobachten ist.
Hans Koberstein Pestizide sind hochgiftig. Mit ihnen bekämpft man Schädlinge. Jahr für Jahr werden rund 45.000 Tonnen auf Europas Feldern verspritzt. Wenn zu große Mengen des Nervengifts auf den Lebensmitteln zurückbleiben, kann das für den Menschen gefährlich sein. Also werden Pestizide an Tieren getestet, um herauszufinden in welchen Mengen sie gesundheitsgefährdend sind. In den vergangenen Jahren haben Hersteller ihre Pestizide nicht nur an Ratten, sondern immer häufiger auch an Menschen ausprobiert - zum Beispiel an Bruce Turnbull in Edinburgh, Schottland. Und das geschah ohne sein Wissen, behauptet er. Freiwillige gesucht Der Wachmann aus einem Supermarkt braucht einen Zuverdienst. Er stößt auf die Zeitungsannonce einer privaten Forschungsklinik, die Versuchspersonen für Medikamente sucht. Die Firma Inveresk sucht und findet bis heute Freiwillige. "Ich rief an und wollte Genaueres wissen", erzählt Turnbull. "Sie sagten mir, dass sie für die medizinische Forschung Tabletten testen. Ich dachte, damit kann ich Menschen helfen und es wird obendrein bezahlt." Inveresk zahlt viel Geld Turnbull macht mit. Denn die Privatklinik Inveresk zahlt viel Geld: umgerechnet rund 700 Euro für ein paar Tage in der Klinik. Was Turnbull nicht klar ist: Die Klinik testet nicht nur Medikamente - sondern auch Pestizide, um herauszufinden, wann das Gift im Körper zu wirken beginnt. Turnbull: "Ein paar Schwestern standen um mein Bett herum. Der Arzt war am Fußende. Dann wurde die Kapsel in einer Box hereingebracht. Sie machten die Box auf, notierten die Uhrzeit und steckten die Kapsel in meinen Mund. Sie öffneten meinen Mund und ich musste die Zunge heraus strecken. Sie sahen genau nach. Sie wollten sicher sein, dass ich die Kapsel wirklich geschluckt hatte." Pestizidhersteller Bayer Auftraggeber der Menschenversuche ist Bayer, weltweit einer der größten Pestizidhersteller. Wir fragen detailliert nach: Wie häufig schon hat Bayer Pestizide an Menschen ausprobiert? Und wie sind diese Versuche ethisch zu rechtfertigen? Bayer lehnt ein Interview mit Frontal21 ab, antwortet lapidar in wenigen Zeilen: "Zu Ihren (...) Fragen teilen wir Ihnen mit, dass in der Vergangenheit in einigen sehr seltenen Fällen einzelne Studien von den Zulassungsbehörden angefordert wurden." Weiter heißt es: "Alle Tests erfolgten in Übereinstimmung mit den nationalen und internationalen Bestimmungen und Standards." Haben Zulassungsbehörden die Menschenversuche, so genannte Humanstudien, tatsächlich angefordert? Zumindest für Deutschland trifft das nicht zu. Unaufgeforderte Menschenversuche Das bestätigt Dr. Wolfgang Lingk vom Bundesinstitut für Risikobewertung: "Ich möchte ganz klar sagen: Wir selber fordern keine Humanstudien. Wir erachten sie nicht für notwendig, für einen großen Kreis der Bewertung von Chemikalien." Demnach hat Bayer unaufgefordert die schottischen Menschenversuche mit dem Pestizid Azinphosmethyl der deutschen Behörde auf den Tisch gelegt. Sie muss diese Humanstudien berücksichtigen - die Ergebnisse beeinflussen die Grenzwerte. Die legen fest, welche Pestizidmenge versprüht werden darf. "Günstigere Grenzwertfestlegung" Dazu Lingk: "Zieht man Ergebnisse aus Humanstudien heran und betrachtet man in diesem Fall Azinphosmethyl, dann ist das Ergebnis letztendlich für die Grenzwertfestlegung günstiger. Das bedeutet, von dem Stoff kann letztendlich mehr aufgenommen werden, und das bedeutet weiterhin, dass zum Beispiel die Rückstände, die auf Lebensmitteln erlaubt sein dürfen, höher sein dürfen, als wenn man nur Ergebnisse aus dem Tierversuch herangezogen hätte." Denn wenn direkt am Menschen getestet wird, kann man den Sicherheitsfaktor streichen.
Quelle: 11.5. 2004, www.zdf.de/frontal21 Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer
News-Seite