von Ilan Pappe Über ein Jahr ist vergangen, seit die Israelische Armee ins Flüchtlingslager von Dschenin einmarschierte. Sie zerstörte die Häuser des Lagers, tötete viele Bewohner u. beging eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Intifada - der Al-Aksa-Intifada. Mit seiner erfolgreichen Kampagne der Beweisverzerrung u. -manipulation war es dem israelischen Außenministerium damals gelungen - mit tatkräftiger Unterstützung der USA - den Horror von Dschenin vor der Welt zu verbergen u. was noch schlimmer ist, all diejenigen einzuschüchtern, die es wagten, die Wahrheit über die Vorgänge in Dschenin zu äußern. In dieser Hinsicht ist die Bedeutung des vorliegenden Buches enorm, seine Wichtigkeit kaum zu überschätzen. 'Searching Jenin' ('Die Suche nach Dschenin') ist die erste systematische Schilderung - mittels Augenzeugenberichten - jener Ereignisse vom April 2002. In Arabisch sind bereits zwei Bücher erschienen, dies hier ist das erste in englischer Sprache. Es stellt die Ereignisse in ihrem Kontext dar u. verdeutlicht die Natur jenes Verbrechens. Es vermeidet die Falle, in die die Israelis damals die UN-Untersuchungskommission tappen ließen (indem sie die UN-Kommission in eine vorgeblich akademische Diskussion über den 'Massaker'-Begriff verstrickten). Das Buch macht lebhaft deutlich: Was in Dschenin geschah, war mehr als ein Massaker - es war ein inhumaner Akt, eine Barbarei unvorstellbaren Ausmaßes. Noam Chomsky schrieb die Einleitung dazu. Er verweist auf den Kontext anderer Verbrechen, die von den USA gesponsert wurden. Chomsky hat diese Verbrechen schon in der Vergangenheit minutiös festgehalten. Ramzy Baroud weist in seinem Vorwort zurecht darauf hin, das Buch müsse die Frage, wieviele Menschen tatsächlich gestorben sind, unbeantwortet lassen u. könne auch nicht jedem Aspekt des Verbrechens nachgehen. Was das Buch allerdings rüberbringt, ist - wie es einer der Zeugen ausdrückt -, die Botschaft: "Was ich gesehen habe, waren Verbrechen - manchmal schlimmer als ein Erdbeben". Kein subjektiver Eindruck, wie im Buch klar herauskommt. Die Dscheniner Aktionen der Israelis sind in jeder Hinsicht sehr leicht als Kriegsverbrechen identifizierbar - Kriegsverbrechen, gemäß der Hager Konvention. Die Einzelaussagen, die hier präsentiert werden, werfen Licht auf vieles, was durch die Nachrichtenmanipulation u. Vernebelungstaktik der Israelis bisher verborgen blieb. In den Aussagen kommen sehr klar die Gefühle der Menschen zum Ausruck, die Geräusche u. Gerüche der Katastrophe. Die Erzählenden fühlen den Schmerz bis heute. Den Herausgebern gelingt es im Buch gut, mittels kursiver Einstreuungen die lange Dauer der Agonie zu verdeutlichen. So erfahren wir beispielweise, wie manche Augenzeugen nur stockend über die Schrecken des April 2002 berichten konnten - siehe Hussein Hammad. Oft benötigen sie eine Pause, manchmal brechen sie in Tränen aus, bevor sie, wie Hammad, mit ihrer Geschichte fortfahren können. Auf den ersten Blick sind die Aussagen oft etwas dürr - so, als wollten die Zeugen den Horror lieber verdrängen als ihn in voller Länge auszubreiten. Aber gerade diese sparsame Wortwahl sagt viel über die Geschehnisse aus. Rafidia al-Jamal liefert eine sehr lakonische Aussage. Das ganze Ausmaß des Schreckens gipfelt bei ihr in einen einzigen, minimalen Satz. Die Frau schildert, wie ihr Mann ihr das Leben rettete, und schon im nächsten Moment versucht sie verzweifelt, ihn davon abzuhalten, seine Schwester zu suchen: "Geh' nicht, hab' ich zu ihm gesagt, sie ist tot". Anschließend sagt sie in dürren Worten: "Meine Kinder haben Alpträume". Aber es gibt auch Zeugen - vor allem Mütter - denen häufig sehr wichtig ist, ausführlich über die Alpträume ihrer Kinder zu berichten. Wobei jede Mutter ihre ganz persönliche Art hat, mit den permanenten Qualen ihrer Kinder umzugehen. Überall in der Westbank, nicht nur in Dschenin (ein Jahr nach dem Massaker), gibt es Mütter, die schlaflose Nächte verbringen, weil ihre Kinder mit eigenen Augen Brutalitäten mitansehen mussten u. völlig verängstigt sind. Farid u. Ali Hawashin aus Dschenin sind typische Opfer, geplagt von ständigen Alp- und Angstträumen. Ihre Mutter sagt, selbst am Tag verfolgen sie diese Träume. Den beiden machen vor allem Geräusche zu schaffen, lassen sie nicht zu innerer Ruhe kommen - jener Lautsprecher, der gegen Mitternacht neben ihrem Elternhaus ertönte, dann der Lärm des brutalen Eindringens ins Haus, dann die Männer, die die Soldaten anflehten, bevor man sie auf die Straße stieß. Das Schlimmste: die Schüsse, das Stöhnen der Verwundeten, die Stille des Todes. Lärm u. Tod - kennzeichnend für die Erinnerung aller Zeugen im Buch. Die Erinnerung an Geräusche und Eindrücke zieht sich wie ein roter Faden durch dieses starke Dokument: 'Searching Jenin'. Das Buch ist eine Suche nach Wahrheit, aber es ist viel mehr. So suchen zum Beispiel immer noch Menschen nach ihren Angehörigen - so lange Zeit nach dem Massaker ist deren Schicksal noch immer ungeklärt. Und es ist auch die Suche nach Erlösung von diesem Alptraum aus Schmerz. Die Suche ist viel, viel wichtiger als die Frage nach den exakten Opferzahlen von Dschenin. Denn, auch wenn diese eine Frage im Buch offenbleiben muss: Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Bericht, den es zum Thema gibt u. geben wird. Für jeden Leser wird das Buch etwas anderes zu bedeuten haben. Mich - als Israeli - hat vor allem die Beschreibung des Verhaltens der israelischen Soldaten bestürzt aber auch überzeugt: In Dschenin hat Entmenschlichung gewütet - das ist daraus abzuleiten. Toll, wie beispielsweise Ihab Ayadi die Geschichte von Nidal Abu al-Hayjah auf den Punkt bringt: Nidal lag verletzt und schreiend am Boden. Jeder, der ihm zu Hilfe eilen wollte, wurde von israelischen Heckenschützen niedergestreckt. Nidal verblutete - wie viele andere. Rein technisch gesehen wurde dieser Mann nicht massakriert - er wurde langsam zu Tode gefoltert. Die tödliche Präzision, mit der Heckenschützen Rettungsaktionen verhinderten, wird im Buch auch von anderen Zeugen bestätigt. Der Fall Taha Zbyde gehört in diese Kategorie. Auch er von einem Heckenschützen erschossen. Das ist/war die übliche Vorgehensweise bei israelischen Operationen überall in den besetzten Gebieten. Sie ist Teil des Teufels-Repertoires der inhumanen Okkupation: tagtäglich werden an Checkpoints Menschen mental u. körperlich misshandelt, Schwangere u. Verletzte läßt man nicht ins Krankenhaus, man hungert die Menschen aus, konfisziert ihnen das Wasser. Kein Wunder fühlen sich manche Israelis an die dunklen Tage des Zweiten Weltkriegs erinnert. Mir jedenfalls kam das Tagebuch der Anne Frank in den Sinn, als ich die schreckliche Schilderung von Um Sirri las. Sie erinnert sich, wie Frauen krampfhaft das Husten unterdrückten, um die über ihnen stehenden israelischen Soldaten nicht zu reizen, die ihnen ein geladenes Gewehr an den Kopf hielten. Aber es gibt etwas, was der Unmenschlichkeit der Besatzer entgegenzusetzen ist. Die Mütter im Buch sprechen nicht umsonst stolz von ihren Babies, die nach dem Massaker geboren wurden. Die junge, schwangere Sana al-Sani beispielsweise will ihr Kind, falls es ein Mädchen wird, 'Zuhur' taufen, was soviel wie 'Blumen' heißt. Sana sagt, das würde sie sich wünschen - nachdem sie zuvor schilderte, wie ihr Ehemann auf der Schwelle seines Hauses abgeschlachtet wurde, eine der schlimmsten Schilderungen im Buch. Dennoch bewegen Sana weder Rachegefühle noch der Ruf nach Vergeltung: Sie träumt den Traum eines besseren Lebens. Werden Blumen, wie die Tochter Sanas überhaupt noch erblühen können im 'Lager der Märtyrer' (so nennen die Überlebenden den Ort, an dem sie einst Zuhause waren)? Die Blumen werden es schwerhaben. Sie müssen Verzweiflung überwinden und Nacktheit. Während der Invasion wurden die meisten Häuser zerstört. Nachdem die Israelische Armee die Widerstandskämpfer vertrieben hatte, installierte sie ihre Artillerie neben der Moschee u. überzog das Lager mit wahllosem Granatbeschuss. Und noch etwas: An einem ehemaligen Ort des Todes können Blumen nur dann gedeihen, wenn der Geruch des Todes verschwindet. Die amerikanische Freiwillige Jennifer Lowenstein* quälen aufgrund der Erinnerungen an den Todesgeruch noch immer große Schlafprobleme. Nachts wird sie von Erinnerungen heimgesucht - ebenso wie jene wenigen anderen westlichen Zeugen, die zum Buch beitrugen. Sie alle haben glücklicherweise überlebt. Und sie haben dazu beigetragen, der Welt die Wahrheit über die Geschehnisse zu berichten. Einer von ihnen ist Tevor Baumgartner - er hat die Existenz der Massengräber aufgedeckt. Die israelische Seite hatte deren Existenz gleich zu Beginn ihrer Verleugnungspraxis abgestritten - eine Verleugnung, die Amerika nur allzu bereitwillig akzeptierte. Dieses Buch ist ein Muss - wenngleich einem das Lesen nicht immer leichtfällt. Die Kampagne gegen die kontinuierliche Dehumanisierung der Palästinenser (durch die Israelis) in den besetzten Gebieten braucht mehr als nur Slogans u. allgemeine Anklagen. Stattdessen braucht es gezielter Anklagen, wie sie dieses Buch hier bietet. Ich hoffe, das Buch wird zu öffentlicher Empörung führen - möglichst schnell - eine Empörung, die Regierende überall in der Welt motiviert, dem palästinensischen Volk handelnd beizuspringen - bevor es zu spät ist. Der prominente israelische Intellektuelle Ilan Pape ist Leiter der 'International Relations Division' an der Universität von Haifa. Angaben zum Buch: 'Searching Jenin: Eyewitness Accounts of the Israeli Invasion', Hrsg.: Ramzy Baroud, mit einer Einleitung von Noam Chomsky.
Übersetzt von: Andrea Noll Quelle: Counterpunch / ZNet 06.05.2003 Orginalartikel: "Searching Jenin"