Weshalb die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden sollte. Auszüge aus 'Die Türkei und Europa' von Heinrich Lummer, einstiger Bürgermeister von Berlin, Senator a.D., Mitglied des Deutschen Bundestages a.D.

Schon seit langem diskutiert man innerhalb der Europäischen Union darüber, ob die Türkei auf absehbare Zeit als geeignetes Mitglied der Union in Betracht kommt. Die Union hatte sich bisher vor einer klaren Antwort gedrückt. Auch derzeit halten die Eiertänze an. Hat die Türkei eine Perspektive Mitglied zu werden oder ist sie Beitrittskandidat auf Dauer?
Die Enttäuschung in der Türkei über die Nichtaufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ist verständlich. Allzulange sind auf beiden Seiten falsche Erwartungshaltungen gepflegt worden. Für die Zurückhaltung der EU gibt es gute Gründe, die jeder objektive Beobachter akzeptieren muß. Leider ist die objektive Sachlichkeit kein ausgeprägtes Merkmal türkischer Politik.
Die Reaktionen in der Türkei auf die Entscheidung der Europäischen Union waren zum Teil irrational, töricht, falsch und kontraproduktiv. Als oberster Scharfmacher hat sich dabei Ministerpräsident Yilmaz Ende der 90er Jahre betätigt. Für ihn mutierte Helmut Kohl vom Freund zum Feind, die deutschen Touristen brauche man künftig nicht mehr in der Türkei, der europäische Ratspräsident Juncker habe nur die Befehle Helmut Kohl's ausgeführt und Deutschland sei der eigentliche Widersacher des Beitritts. Schließlich kam er zu der Erkenntnis, die Türkei müsse lernen, ohne Europa auf den eigenen Füßen zu stehen. Mag er es versuchen. Aus guten Gründen wird man ihm diesbezüglich in der Türkei widersprechen. Wir sollten uns daran nicht beteiligen oder gar die Zumutungen eines abgewiesenen Liebhabers zum Anlaß nehmen, ein schlechtes Gewissen zu bekommen oder gar Canossagänge nach Ankara zu planen.
Die Europäische Union braucht kein Mitglied Türkei. Die Reaktionen des Ex-Ministerpräsidenten Yilmaz waren ebenso unangemessen wie falsch. Es wäre fatal, wollte man schließlich die Rolle des beleidigten Liebhabers, die Yilmaz spielt, mit Erfolg krönen. Sein Nachfolger Ecevit verhielt sich in dieser Frage nicht viel anders. In einem Gespräch mit dem Londoner Daily Telegraph legte Ecevit eindeutig erkennbare Symptome von Paranoia zu Tage: Italien "und andere Länder" unterstützten kurdische Terroristen mit der geheimen Absicht, die Modernisierung der Türkei zu verzögern und die Wirtschaft der Türkei zu verkrüppeln.
Einige europäische Hauptstädte leiden an "Islamophobie", meinte Ecevit weiter und er stritt ab, daß die Menschenrechtslage in seinem Lande ein Hindernis für die EU-Mitgliedschaft sein könnte. Die Türkei sei in den letzten 15 Jahren mit einem sehr ernsthaftem "separatistischem Terrorismus" konfrontiert gewesen, aber wenn einige westliche Regierungen aufgehört hätten, die PKK zu ermuntern, wäre der Demokratisierungsvorgang viel weiter fortgeschritten. Also nicht die Unterdrückung der kurdischen Minderheit ist Schuld an der entstandenen Lage, sondern "gewisse westliche Regierungen..." Wie bekannt die Formel doch klingt!
Weiter meinte Ecevit: "Wir sind Teil Europas - geschichtlich, geographisch und in gewissem Maße auch kulturell und wir sind viel weiter entwickelt als gewisse Länder vor denen sich die Tür der Mitgliedschaft geöffnet hat". (Zum Vergleich: Das Bruttosozialprodukt Griechenlands in 1996 betrug pro Kopf 11.460 $, das der Türkei 2.830 $; sogar das Portugals belief sich 1996 auf 10.160 $! Wie kann man sich vor sachlichen Zahlen derart verblendet erweisen!).
Die Türkei werde weiterhin mit den Vorurteilen derjenigen konfrontiert, die an das Kleine Europa-Modell des Jacques Delors und des Helmut Kohl glauben, nämlich daß die EU nicht über die Grenzen des Christentums hinaus expandieren sollte. "Es ist kein Geheimnis, daß einige in Westeuropa die EU als eine christliche Institution betrachten. Dies ist eine anachronistische und unrealistische Verhaltensweise" meinte Ecevit schließlich. Solche Äußerungen signalisieren eine beachtliche nationalistische Verblendung und Arroganz.
Auch der Wahlsieger von 2002, Erdogan, befleißigt sich mit Rückenwind aus den USA einer dramatisch überheblichen Sprache. Ohne einen festen frühen Termin für Beitrittsverhandlungen will er sich nicht zufrieden geben.
Die Interessen der USA sind anders als die der Europäischen Union.
Es gibt keinen Grund für ein schlechtes Gewissen der Europäischen Union oder insbesondere der Deutschen. Dies gilt auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Wenn sich die amerikanische Außenpolitik derzeit beflissen an die türkische Linie annähert und die Länder der Europäischen Union ständig ermahnt, die Türkei als Mitglied aufzunehmen, dann sollte nicht übersehen werden, daß dies nur getan wird, weil man damit eigene geostrategische Interessen Amerikas vertritt. Die Position der USA in der Türkei erklärt sich aus ihrem Interesse am Öl im Bereich des Golfes und des Kaspischen Meeres und den israelischen Interessen. Infolge der sinkenden Akzeptanz der USA in den arabischen Ländern und der Labilität ihrer Regime erscheint die Türkei als stabiler und verläßlicher Partner. Den Amerikanern wäre es offenbar gleichgültig, ob eine millionenfache Einwanderung von Türken nach Deutschland aufgrund einer EU-Aufnahme erfolgt. Offenbar sind sie auch bereit zu akzeptieren, daß in der Türkei das Militär und nicht eine Zivilregierung das letzte Wort haben. Von Menschenrechten ganz zu schweigen. Hier stimmen europäische und amerikanische Interessen eben nicht überein. Gelassen abwarten bis sich bessere Einsichten durchsetzen, sollte die Devise sein. Die Union hat keine Veranlassung amerikanischem Druck nachzugeben. Es bleibt bedauerlich und schädlich für unsere Interessen, daß die Bundesregierung sich einer selbstverschuldeten Schwächung ausgesetzt hat als sie vor der Bundestagswahl das Verhältnis zu den USA belastete und nun um Kompensation bemüht ist. Ein selbstbewußtes deutsches Auftreten scheint derzeit nicht möglich. Schade.
Einem Verbündeten wäre man eine klare Antwort schuldig.
Durch die Eiertänze der EU war mehr oder weniger der Eindruck entstanden, wenn denn nur die Menschenrechtsfrage in der Türkei einigermaßen befriedigend beantwortet werde, sei der Weg für den Beitritt offen. Die Türkei jedoch muß unbeschadet einer möglichen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft die Verbesserung der Menschenrechtslage erreichen. Das ist sie sich selbst und den Menschenrechten und nicht vor allem der Gemeinschaft schuldig. Zweifellos ist die Einhaltung der Menschenrechte eine wichtige Voraussetzung für den Beitritt eines Landes, aber keineswegs die entscheidende Bedingung.
Die von der EU gepflegte Fehleinschätzung ist genauso abzulehnen wie die folgende von der Türkei gepflegte drohende Behauptung, nur eine Mitgliedschaft in der EU werde die Türkei vor Islamismus bewahren und sie als Partner Europas erhalten.
In der Türkei wurde schon die Frage der Aufnahme in die Zollunion und nun die Vollmitgliedschaft als Voraussetzung dafür angesehen, daß nur so der Weg der Türkei in den Fundamentalismus, Islamismus und weg von Europa vermieden werden könne. Die Krise des Kemalismus in der Türkei ist durch die Mitgliedschaft in der NATO und Zollunion nicht verhindert worden. Auch die Vollmitgliedschaft in der EU würde daran nichts ändern. Die Hoffnung, die Türkei werde durch eine bloße Mitgliedschaft in der Union ihre Probleme lösen ist ein Irrtum. Das heißt: Die mögliche Mitgliedschaft in der EU darf nicht für den Zweck instrumentalisiert werden, die inneren Probleme der Türkei zu lösen. Nicht die Einbeziehung der Türkei in die Europäische Union wird die Türkei von ihren Problemen befreien, sondern die Türkei muß ihre Probleme lösen, ehe sie Mitglied werden kann.
Es ist jedenfalls an der Zeit deutlich zu sagen, daß die Türkei in der Europäischen Union in absehbarer Zeit keinen Platz hat. Für die absehbare Zukunft spricht alles dafür, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, sie der EU näher zu bringen, nichts spricht dafür sie als Vollmitglied in die Union aufzunehmen.
Die Gründe sind offenkundig:
1. Das Ende europäischer Identität durch Masseneinwanderung.
Eine Aufnahme in die Europäische Union würde über kurz oder lang zu einer Freizügigkeit mit einer millionenfachen Einwanderung von türkischen Muslimen nach Europa führen. Es mag möglich sein, die Freizügigkeit im Vertragstext um einige Jahre hinaus zu zögern. Einerseits kann diese Frist nicht zu lang sein, andererseits wird man in der Praxis Einreisende aus einem Mitgliedsland nicht zurückweisen können, auch wenn sie illegal einreisen.
2. Die Türkei als größter und ärmster Staat: EU-ungeeignet.
Zum frühestmöglichen Zeitpunkt, den Optimisten nennen, d.h. in mindestens zehn Jahren würde die Türkei bevölkerungsmäßig das größte Land in der Europäischen Union sein und - nach Lage der Dinge - wirtschaftlich immer noch das ärmste. Die Bevölkerungszahl der Türkei mit 68,8 Millionen entspricht schon jetzt in etwa der der zehn neuen Beitrittsländer. Jedes Jahr kommt etwa eine Million dazu. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen wie die Polit-Machos der Türkei in den europäischen Gremien auftreten.
3. Die teure Türkei
Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derzeit und für absehbare Zeit so desolat, daß eine Aufnahme zur Schwächung der Gemeinschaft führen müßte. Die Inflation ist seit Jahren erheblich. Sie lag und liegt zwischen 40 und 100 %. Die Privatisierung ist unzulänglich. Der Staat ist hochgradig verschuldet. Die Korruption ist beachtlich. Mitglieder der Regierung und der Behörden sind stark involviert. Nur drei Länder überschreiten das Maastrichter Kriterium der Staatsverschuldung am Bruttoinlandsprodukt: Malta mit 65 %, Bulgarien mit 66 % und die Türkei mit 123 %.
4. Mangel an Menschenrechten
Die Verletzung der Menschenrechte und die ungelöste Kurdenfrage, lassen die Türkei nicht als geeignetes Mitglied der Europäischen Union erscheinen. Seit Jahrzehnten haben alle Ministerpräsidenten Besserung versprochen und in der Tat minimale Schritte geleistet, die aber allesamt nicht zu einer Lösung des Problems geführt haben. Folter, das Verschwindenlassen von Personen unter quasi staatlicher Beteiligung, die Weigerung, die Kurden als Volksgruppe mit entsprechenden Rechten zur Kenntnis zu nehmen und anderes mehr machen die Türkei nach wie vor zu einem Staat, der es mit den Menschenrechten nicht ausreichend ernst meint.
5. Demokratische Defizite
Die Türkei sieht sich gern als funktionierende parlamentarische Demokratie. Dies kann mit gutem Grund bezweifelt werden. Zwar ist der bestimmende Einfluß des Militärs nicht klar gesetzlich festgelegt. Aber die Armee hat keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich als Wahrer des Kemalismus versteht und sich zur Wahrung desselben in die Politik einmischt.
6. Die "laizistische" Türkei
Vielfach wird die Türkei gerade deshalb als europafähig beschrieben, weil sie ein laizistisches Land sei. Diese These ist problematisch bis unzutreffend. Der Laizismus ist in der Türkei - soweit vorhanden - keine selbstverständliche Größe, die durch Aufklärung und Sekularisation von unten gewachsen ist. Vielmehr wurde dieser Laizismus den Türken durch die Reform Atatürks aufgezwungen.
Insofern ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß die Befürworter eines Beitritts der Türkei nicht an einer Festigung und Vertiefung der Union interessiert sind, sondern eben an einer Lockerung durch Erweiterung. So könnte denn am Ende einer Entwicklung der Tod durch Überdehnung und Erweiterung stehen.
Ex oriente lux, das stimmt immer noch insofern dort die Sonne aufgeht. Aber das Licht kommt längst nicht mehr von dort. Dort wurde weder die Glühbirne erfunden noch hat es dort das gegeben, was wir die Aufklärung nennen.
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