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Toyota-Belegschaft: Selbstmorde und Depressionen

Der profitabelste Autokonzern der Welt beutet viele seiner Mitarbeiter aus.

Von Kamata Satoshi

ToyotaToyota ist das profitabelste Unternehmen Japans. Für das Steuerjahr 2004 beträgt der Netto-Unternehmensgewinn, laut Bericht, 1,16 Billionen Yen ($10,5 Milliarden) - bereinigter Gewinn nach Steuern, wohlgemerkt. Es ist das erstemal in der Geschichte des japanischen Kapitalismus, daß der Gewinn einer Firma die Billionen-Marke (Yen) knackt. Zwar hat Toyota 1,3 Millionen Autos weniger verkauft als Weltmeister General Motors, und Toyotas Gesamtumsatz beim Verkauf liegt um circa $22,7 Milliarden hinter GM. Toyotas Profite aber sind doppelt so hoch. Das beweist, wie konsequent Toyota Kostensenkungsmaßnahmen betrieb. Bei einem Ranking der profitabelsten Unternehmen weltweit, kommt Toyota auf Platz 4 (Nr. 1: ExxonMobil). Läßt man Ölfirmen und Banken weg, ist Toyota aber die Nr. 1 - nämlich beim produzierenden Gewerbe. "Ringe selbst noch ein trockenes Tuch aus", lautet die Toyota-Profitdevise. Über das Leid der "ausgerungenen" Subunternehmer, das Elend der Toyota-Arbeiter, habe ich viel geschrieben.

Fast 10 000 Zeitarbeiter

Die Adresse der Toyota-Zentrale lautet: Toyota-Cho (Stadt) Nr. 1, Toyota-Shi (Großstadt). Mit dem Zug sind es rund 50 Minuten bis in die zentral-japanische Stadt Nagoya. Früher hieß die Großstadt Toyota-Shi Koromo - ein schöner Name, der an Priestergewänder erinnert. Aber die Familie Toyoda, die den Konzern Toyota gründete, änderte Koromo schlicht in Toyota. Übrigens ist dies der einzige Fall in Japan, daß eine Großstadt nach einer Familie bzw. eine Stadt nach einer Firma umbenannt wurde. Es ist Morgen, und ich stehe vor der Toyota-Zentrale. Eine Gruppe Männer in weißen Oberhemden geht vorüber. Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Techniker des Technikzentrums, das auf der anderen Straßenseite liegt. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit. Da sie nichts mit der Öffentlichkeit zu tun haben, wäre ein Anzug anscheinend überflüssig. Allein dieses Beispiel verdeutlicht das Selbstbewußtseins eines Weltkonzerns in der Provinz.

Von der Zentrale gleich um die Ecke liegt das Toyota-Stammwerk. Hier werden Fahrgestelle für Lastwagen und andere Teile produziert. Ich beobachte, wie ein Langtransporter durch das Werkstor einfährt. Vor 31 Jahren habe ich mich 6 Monate lang Morgen für Morgen durch dieses Tor geschleppt. Ich war ein sogenannter "Zeitarbeiter" und baute Transmissions-Teile zusammen. Über diese Erfahrung habe ich ein Buch verfaßt: 'Auto Factory of Despair: The Diary of a Seasonal Worker'. Ein Blick auf das Werk - von der Straße aus - genügt, um mir die Erinnerung an meine damalige Erschöpfung wachzurufen. Trotzdem fühle ich eine gewisse Nostalgie für das Werk. Gerne würde ich jetzt hineingehen und mich umsehen. Früher konnte man von der öffentlichen Straße aus hineingehen, heute steht dort ein großes Pförtnerhaus; es wirkt wie eine Autobahnmautstelle. Die Öffentlichkeit hat nur noch beschränkt Zugang. Damals betrug mein Monatslohn - alles in allem, inklusive Überstunden und Nachtzuschlag - 79 000 Yen (was heute umgerechnet $720 entspricht). Heute wirbt Toyota in großen Zeitungsannoncen für "Zeitarbeitskräfte" und verspricht umgerechnet $2300 monatlich - das Dreifache dessen, was man vor 31 Jahren erhielt. Damals, 1972, konnte man den Unternehmensprofit in der Regionalzeitung 'Chunichi shimbun' nachlesen - Überschrift: 'Das erste Unternehmen im Land, das einen Profit von 32 Milliarden Yen erwirtschaftet, sichert sich das zweite Jahr in Folge den 'Top Earnings Spot''. Diesen Platz an der Sonne beim Profit ('Top Earnings Spot') konnte Toyota die letzten 3 Jahrzehnte stets behaupten - außer während einer Zeit in der 70ger-Ölkrise. Der aktuelle Profitstand - 1,16 Billionen Yen - ist mehr als das Dreißigfache der Gewinne zu meiner Zeit.

Ich gebe Ihnen eine weitere Zahl. Damals hatte Toyota 41 000 Beschäftigte, heute sind es 65 000 - ein Anstieg um rund 50%. Dennoch stiegen die Profite um das Dreißigfache. Im Falle Toyotas wäre es zu kurz gegriffen, lediglich von "Arbeitskostensenkung" zu sprechen, eher schon von blanker "Menscheneinsparung". Die Zahl der "Zeitarbeiter" - so wie ich damals - stieg seither drastisch. Früher waren es etwa 3 000, heute heißt es: "Wir beschäftigen rund 10 000" (Toyota-Chef Okuda Hiroshi). Das Statement Okudas stammt vom Mai - als die Presse nachfragte, ob Toyota nicht gewillt sei, einige der überflüssigen Beschäftigten des krisengeschüttelten Unternehmens Mitsubishi Motors zu übernehmen. Der Ausdruck "beschäftigen" trügt hier allerdings. Zeitarbeiter im Niedriglohnbereich sind nicht dazu da, beschäftigt zu werden - eher schon abgehalftert. Eigentlich sollte man ja meinen, einer wie Okuda - zudem Vorsitzender des japanischen Unternehmerverbands Nippon Keidanren -, schäme sich, bei der Zeitarbeit bis ans Limit zu gehen, während man gleichzeitig die höchsten Profite weltweit einstreicht. Schließlich gilt Zeitarbeit als Inbegriff prekärer Beschäftigung. Überdies werden 70% der Toyota-Profite in Nordamerika und sonstigen Ländern erwirtschaftet - ein Umstand, mit dem das Weltunternehmen sogar noch prahlt.

Von der 'Stadt der Sorgen' zur 'Stadt der Geheimnisse'

Ich treffe mich mit alten Freunden - Toyota-Arbeitern. Die rapide Ausweitung der Unternehmens-Operationen im Ausland führt, laut ihrer Aussage, dazu, daß viele Arbeiter als Ausbildungsleiter ins Ausland geschickt werden. Folge: zuwenig Arbeiter in den (japanischen) Werken. Bei der Einstellung von Zeitarbeitern würde man jene bevorzugen, die bereits Erfahrungen am Autofließband haben - die könnten sofort mit der Arbeit loslegen. Minimale Vertragsdauer ist 4 Monate. Maximal werde für 2 Jahre und 11 Monate beschäftigt. Langfristige Zeitarbeiter lösen die sogenannten "Saisonarbeiter" (Synonym für Wanderarbeiter) ab. Es sind diese Zeitarbeiter, die die Supergewinne aus dem Fabrikboden stampfen.

Vielerorts in Japan gelten Büroangestellte über 50 mittlerweile als überflüssige Arbeitskraft. Für Jobs wie beispielsweise das Reparieren von Computern werden heute vielfach Vertragsmitarbeiter von außen angeheuert. Deren Lohn liegt um mehr als die Hälfte unter dem, was regulär Beschäftigte verdienen.

Zurück zur Autofirma. Seit April gilt ein neues Tarifsystem, das große Unzufriedenheit auslöst. Gemäß der neuen Regelung wird die altersabhänige Entlohnung durch ein System kompetenzspezifischer Löhne ersetzt. Am meisten verdienen jetzt Arbeiter in den Dreißigern und Vierzigern, ab 51 gibt es Lohnabzug. "Die Löhne werden nicht nur eingefroren, schlimmer, sie werden praktisch gekürzt", sagen die Arbeiter und haben ein gemischtes Gefühl. "Wir verdienen immer noch mehr, als die Leute in anderen Firmen. Trotzdem, warum streicht das Unternehmen das ganze Geld ein?" Beschwert sich jemand bei der lokalen Gewerkschaftsführung, lautet die drohende Antwort: "Zeig' mir eine Firma, die dich für das Geld, das du verdienst, anstellen würde" - die Früchte der "Harmonie zwischen Gewerkschaft und Management". Die Finanzkrise beim Nachbarn Mitsubishi Motors trägt ihr übriges dazu bei, daß die Arbeiter des Weltkonzerns Nr. 1 schlicht zugrundegehen.

Toyota war stets darauf bedacht, daß am Arbeitsplatz Krisenstimmung herrscht - um die Löhne zu drücken. Als ich dort arbeitete, hielt das Management der Frühschicht regelmäßig einen Vortrag, in dem es warnte: Nissan holt auf, wir müssen in den amerikanischen Markt vorstoßen, GM ist mächtig, laßt uns nicht enden wie Mitsubishi. Auf diese Weise manipulierte Toyota, um die Löhne auf Durchschnittsniveau halten zu können und im Innern mehr und mehr Cash-Reserven anzuhäufen. Resultat: Heute gibt es Produktionsstätten in 26 Ländern, Toyota verfügt über ein Gesamtvermögen von 22 Billionen Yen ($200 Milliarden) und die "Toyota-Bank" über bare Mittel in Höhe von 2,2 Billionen Yen ($20 Milliarden). Die jährlichen Tarifverhandlungen beschränken sich darauf, daß man sich mit der Gewerkschaft trifft und darüber redet, daß "Wettbewerbsfähigkeit Vorrang hat". Die Arbeiter und Subunternehmen dürfen's ausbaden. Die Gewerkschaft ist absolut zahnlos, innerhalb Toyotas gibt es keine Gegenmacht. Auf diesem Hintergrund ist auch eine Reihe von Skandalen zu sehen, die den Toyota-Chef und Vorsitzenden des Unternehmerverbands in Verwunderung versetzen: Laut Erlaß des japanischen 'Labor Standard Bureau' darf Toyota keine unbezahlten Überstunden mehr verlangen. Das Finanzamt von Nagoya fand heraus, daß Toyota 5 Milliarden Yen ($45 Millionen) zuwenig Steuern abführte, und es gibt Beschuldigungen, daß das Unternehmen die Testfragen der nationalen Automechanikerprüfung durchsickern ließ. Alles miese, kleine Schweinereien, die eines Weltklasseunternehmens unwürdig sind. Toyota denkt eben immer noch wie ein Provinzunternehmen.

Ich unterhielt mich mit meinen Freunden über einen Unfall, der sich im Mai ereignete. Frühmorgens war ein 33jähriger Arbeiter von einer Metallpresse zu Tode gequetscht worden. Dann kamen wir auf das Thema Selbstmorde zu sprechen. Elitetechniker der Entwicklungsabteilung töten sich als Folge von Überarbeitung; auch bei der Gewerkschaftsführung gab es Selbstmorde. In den letzten zehn Jahren, so meine Freunde, sei die Zahl depressiver Kollegen dramatisch gestiegen. Inzwischen erscheinen in der Gewerkschaftszeitung regelmäßig Artikel, in denen psychologische Behandlungsmöglichkeiten aufgeführt sind. In einem Bericht vom 27. November 2003 über ein Treffen des Gremiums für Arbeitsmanagement heißt es: "Das Unternehmen sieht in der hohen Rate an psychischen Erkrankungen eine ernste Situation". Der Report - in Fettdruck - kommt einer Notstandserklärung gleich. Bei einem Gewerkschaftstreffen vergangenen Monat wurde die Gewerkschaftsführung gefragt, was man inzwischen unternommen habe. Schließlich sei ja von einer "vordringlichen Angelegenheit, die angegangen werden muß", die Rede gewesen. Als Gewerkschaft habe man Toyota gedrängt, Präventiv- und Früherkennungsmaßnahmen zu ergreifen und für Nachsorgeangebote für aufgrund mentaler Probleme beurlaubte Arbeiter zu sorgen, lautete die Antwort: "Signifikante Fortschritte konnten aber nicht erzielt werden".

Bei den Tarifverhandlungen im Frühjahr katzbuckelte die Gewerkschaft vor der Firmenleitung anstatt zu fordern. "Wenn mentale Gesundheit vor die Hunde geht, ist das nicht nur ein individuelles Problem sondern kann zu einer Reduktion des 'personal drive' (Personalmotivation) führen, der Quelle der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und zum Verlust wertvoller Arbeitskraft". Solange es nur darum geht, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, die "zur weiteren Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Toyotas führt", sind die Chancen, daß die Selbstmordrate gebremst wird, allerdings gering.

Ich führe ein Gespräch mit Toguchi Massashi, 67. Sein Vater war Toyota-Arbeiter. In seiner Jugend hörte Massashi immer wieder, wie Leute im Badehaus der Firmensiedlung sagten: "In der Fabrik ist schon wieder ein tödlicher Unfall passiert". Massashi sitzt seit sieben Perioden im Stadtrat - als Abgeordneter gegen Toyota. "Da ich in Toyota-City lebe", sagt er, "werde ich gefragt, was für eine Art Firma Toyota eigentlich ist? Das weiß niemand, antworte ich dann". Vor 31 Jahren prägte Toguchi den Ausdruck "Stadt der Sorgen". Ein Toyota-Bürgermeister nach dem andern; von den 40 Stadträten kamen 9 aus den Toyota-Werken. Rund 83,7% der Fabrikarbeiter der Stadt arbeiten heute in den Autowerken oder in Fabrikan, die mit der Autoindustrie zusammenhängen - Werke, die 95,5% der industriellen Produktion Toyota-Cities erzeugen. Dies vor Augen stattete ich dem Leiter des örtlichen Finanzamts einen Besuch ab. Ich fragte ihn, ob er mir sagen könne, wieviel Toyota zum prozentualen Steueraufkommen der Stadt beiträgt. Diese Zahl habe er noch nie berechnet, lautete dieAntwort. Das kann nur bedeuten, daß er ohne Genehmigung des obersten Burgherrn nichts sagen darf. Vor 31 Jahren war Toyota zu 81% an der örtlichen Gewerbesteuer beteiligt, 1997 nur noch zu 68%. Die neuen Zahlen sind ein Geheimnis. Vielleicht sollte man besser von der "Stadt der Geheimnisse" sprechen.

Anmerkungen

Kamata Satoshi ist einer der führenden Investigativ-Journalisten Japans. Anfang der 70ger arbeitete er als Saisonarbeiter bei Toyota und schrieb über diese Erfahrung einen Bestseller: 'Japan in the Passing Lane. Insider's Account of Life in a Japanese Auto Factory'. Der vorliegende Artikel über seinen neuen Besuch beim Unternehmens- Stammsitz erschien am 2. Juli 2004 in 'Shukan Kinyobi'.

Der Text wurde von John Junkerman - für ZNet 'Japan Focus' - ins Englische übersetzt. Junkerman ist Autor und Filmemacher und arbeitet in Tokio. Sein neuer Dokumentarfilm heißt: 'Power and Terror: Noam Chomsky, Gespräche nach 9/11', Japan 2002.

Quelle: ZNet Kommentar 24.10.2004