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USA: Tabakindustrie bezahlte Lungenkrebsstudie

New York – Vor anderthalb Jahren beeindruckte eine US-Studie die Fachwelt: Fast 90 Prozent aller Lungenkrebstodesfälle könnten durch regelmäßiges Screening mit der Spiralcomputertomografie verhindern werden, berichtete ein International Early Lung Cancer Action Program (I-ELCAP) im New England Journal of Medicine (NEJM 2006; 355: 1763-1771). Jetzt wurde bekannt, dass die Studie von der Tabakindustrie gefördert wurde. 
Die meisten Lungenkrebserkrankungen sind eine Folge des Rauchens. Die Diagnose eines Bronchialkarzinoms kommt in der Regel einem Todesurteil gleich. Nur sehr selten werden die rasch wachsenden Malignome in einem Stadium entdeckt, in dem eine kurative Operation möglich ist. Im fortgeschrittenen Stadium kann eine Chemotherapie die Überlebenszeit nur um weniger Monate verlängern, den Krebs aber nicht besiegen. Alle bisherigen Bemühungen einer Früherkennung waren in der Vergangenheit gescheitert.
Vor diesem Hintergrund mussten die Ergebnisse des I-ELCAP für Aufsehen sorgen. Die Gruppe um die Radiologin Claudia Henschke von der Weill Cornell Universität in New York behauptete nämlich auf der Basis von mehr als 30.000 Untersuchungen, dass eine jährliche Spiral-Computertomografie 85 Prozent aller Bronchialkarzinome in einem Frühstadium erkennen kann und eine sofortige Operation fast I-ELCAP Prozent der Patienten das Leben retten könnte.
Auch wenn Kritiker die Schlussfolgerungen der Studie sofort infrage stellten – mangels Kontrollgruppe ist die Evidenz der Studie in der Tat gering –, sprach die American Cancer Society damals von „sehr aufregenden Befunden“. Diese Formulierung wäre sicherlich nicht gefallen, wenn die US-Krebsgesellschaft gewusst hätte, dass die Studie mit Geldern eines Tabakkonzerns gesponsert wurde. Fördermittel der Tabakindustrie gelten in den USA als „Blutgeld“. Schon öfter hatten die Hersteller in der Vergangenheit verdeckt Forschungsvorhaben gefördert, die die Schädlichkeit des Rauchens in Zweifel ziehen sollte. 
Im aktuellen Fall drängt sich die Vermutung auf, dass die Forschungsergebnisse die Folgen eines langjährigen Tabakkonsums verharmlosen könnten. Denn wenn die Ergebnisse einer Studie ergeben, dass fast 90 Prozent aller Lungenkrebsfälle rechtzeitig erkannt werden können, verlieren die Todeswarnungen auf den Schachteln einen Teil der abschreckenden Wirkung.
Dass ein im Screening entdeckter Tumor einen größeren, überaus riskanten operativen Eingriff nach sich zieht, dürften die meisten Menschen nicht realisieren. Noch schwerer sind die Bedenken zu vermitteln, dass sich unter den entdeckten Tumoren auch solche befinden könnten, von denen gar keine Gefahren ausgehen. Die Studie des I-ELCAP, die auf ein weltweites Medieninteresse stieß, lässt sich durchaus als Marketing-Erfolg der Hersteller interpretieren.

Entsprechend empört äußerte sich ein Sprecher der American Cancer Society gegenüber der New York Times, die bei ihren Recherchen auf den verdeckten Interessenskonflikt gestoßen war. „Wenn sie Blutgeld verwenden, müssen sie dies den Leuten auch erzählen“, sagte Otis Brawley von der American Cancer Society. Was die Gruppe um Claudia Henschke sogleich zurückwies.
Tatsächlich erwähnen die Autoren in der Studie, dass sie Gelder von einer „Foundation for Lung Cancer: Early Detection, Prevention & Treatment“ erhalten haben. Nur ist nicht ohne weiteres ersichtlich, dass sich hinter dieser Stiftung die Tabakindustrie verbirgt. Auch der Chefredakteur des New England Journal of Medicine (NEJM), Jeffrey Drazen, Boston, will dies nicht gewusst haben. In diesem Fall wäre die Studie nicht publiziert worden, sagte Drazen gegenüber der New York Times. In seiner Zeit als Chefredakteur sei keine einzige Studie publiziert worden, die mit Mitteln der Tabakindustrie gesponsert wurde.
Und Jerome Kassirer, ein früherer Chefredakteur des NEJM und Autor eines Buchs über Interessenskonflikte in der biomedizinischen Forschung, vermutet sogar, dass die Stiftung einzig aus dem Grund ins Leben gerufen wurde, um die Finanzierung durch die Tabakindustrie zu verschleiern. Das wies die Industrie sogleich zurück. Die Vector Group, die nach eigenen Aussagen die Stiftung zwischen 2002 und 2003 mit rund 3,6 Millionen US-Dollar ausstattete, kann darauf verweisen, dass die Förderung keineswegs geheim gewesen sei.
Tatsächlich weist eine Pressemitteilung der Liggett Group (eine Tochter der Vector Group) vom Dezember 2000 auf die geplante Förderung  hin. Nur die Summe, in der Pressemitteilung 2,4 Millionen US-Dollar, stimmt nicht. Offenbar waren diese Angaben im Peer-Review-Prozess nicht recherchiert worden. Was nicht weiter verwundert. Der Name der Stiftung “Foundation for Lung Cancer: Early Detection, Prevention & Treatment” assoziiert nicht unbedingt eine Beziehung zur Tabakindustrie. 
Die Publizität der NEJM-Studie hatte dazu geführt, dass verschiedene US-Staaten über eine Förderung der Spiral-Computertomografie nachdachten, obwohl die American Cancer Society seinerzeit geraten hatte, zunächst die Ergebnisse des National Lung Screening trial (NLST) abzuwarten. Diese Studie des US-National Cancer Institute hat bis Februar 2004 fast 50.000 frühere oder aktuelle Raucher eingeschlossen.
Anders als in der I-ELCAP gibt es eine Kontrollgruppe, in der die Probanden sich nur einer herkömmlichen Röntgenuntersuchung des Thorax unterziehen, was nach derzeitigem Kenntnisstand keine Früherkennung erlaubt. Die randomisierte Studie verspricht validere Daten als die I-ELCAP. Die Ergebnisse werden allerdings nicht vor Ende des Jahrzehnts vorliegen.

Quelle: Ärzteblatt