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Jüdische Organisationen Europas gegen Israels Okkupationspolitik. Ein Gespräch mit Richard Kuper

Von Gerd Schumann "Sage nicht, du habest nichts gewußt", hieß das Kongreßmotto, unter dem sich 2002 europäische Juden als European Jews for a Just Peace (EJJP) zusammenschlossen in der Kritik an der Politik Israels. Nein, unter keinen Umständen wollen sie als Juden sprachlos sein, sagt Richard Kuper, EJJP-Generalsekretär, im jW-Gespräch. Niemals wollen sie dasselbe sagen müssen, was viele Deutsche gesagt haben - danach: Sie hätten nichts gewußt. Jedoch gebe es Schwierigkeiten mit der Sprache. Und das erst recht, seit Israels Unrechtspolitik Anlaß zu massiver Kritik, ja, zum Widerstand gibt - auch in Worten, die in Gegenwart und Geschichte untrennbar mit den Diktaturen dieser Welt verbunden waren und sind, mit Unterdrückung und Verfolgung. Als der Jude Richard Kuper jüngst Israel besuchte, fühlte er sich an "Szenen seiner Kindheit" erinnert: "Ich mußte an Straßensperren der israelischen Armee warten ohne einen ersichtlichen Grund. Ein Halbwüchsiger mit Gewehr besaß die Macht, mich und Hunderte Palästinenser um mich herum einfach stehenzulassen." Kuper, 1941 in Johannesburg geboren, wuchs im rassistischen Südafrika auf, ein Jude zwar, aber zum Glück ein weißer Jude: Über die Existenz entschied nicht, wie in Nazideutschland zu der Zeit, die religiöse Zugehörigkeit und ethnische Herkunft des Menschen, sondern ausschließlich die Hautfarbe. "Ich harrte in Kälte und Regen aus, damit sich endlich das Tor öffne, durch das palästinensische Bauern von der Feldarbeit zurückkehren könnten in ihre Häuser. Es ist schwierig, ein anderes passendes Wort zu finden für die Lebensbedingungen, denen Palästinenser ausgesetzt sind, als ›Ghetto‹". Zum Beispiel das Wort "Ghetto": Erzeugt dessen Verwendung in der jüdischen Bevölkerung Israels nicht geradezu zwangsläufig die Assoziation zum Holocaust? frage ich den Sprecher der EJJP, in der mittlerweile 18 jüdische Organisationen, darunter seit kurzem auch eine in Deutschland, zusammengeschlossen sind. Es sei schwierig, "eine Sprache zu finden, die sich unterscheidet von der Sprache, die benutzt wurde, um andere diktatorische Regimes zu verurteilen", beschreibt Kuper das Dilemma: "Es ist schwer, keine Vergleiche zu anderen diktatorischen Regimes anzustellen, wenn man sich die kollektiven Bestrafungen ansieht, international illegal, doch von Israel praktiziert: Ausgangssperren, Zerstörung von Häusern, Olivenplantagen, Orangenhainen." Den landräuberischen Mauerbau im Westjordanland. Die Separierung. Die fortschrittlichen Juden Europas handeln unter erschwerten Bedingungen gegen die israelische Okkupationspolitik. Einerseits argumentiert die israelische Regierung, die europäische Kritik an ihrer Politik wurzele im Antisemitismus, andererseits ist der Antisemitismus in Europa eine latent vorhandene Erscheinung, die sich auch in der Kritik am "jüdischen Staat" festmacht. Wie also können sich die kritischen Jüdinnen und Juden wehren gegen den permanenten Bruch des Völkerrechts durch Israel? Oder, wie Kuper formuliert: "Es gibt immer die Gefahr, daß Antisemitismus geweckt wird, aber wir können uns durch diese Gefahr nicht zum Schweigen erpressen lassen." Nicht schweigen heißt für die EJJP beispielsweise, die Handelsbeziehungen zwischen Israel und der EU zu kritisieren. So entfallen Steuern und Zölle beim Export israelischer Waren nach Europa, obwohl als ausdrückliche Bedingung dafür die Einhaltung von "demokratischen Prinzipien und Wahrung der Menschenrechte" in den Vertragsländern festgeschrieben wird. Die EJJP fordert nun eine sofortige Aussetzung der "Privilegien". Nein, keinen Boykott, so Kuper. Warum keinen Boykott angesichts der historisch positiven Erfahrungen, die die Anti-Apartheid-Bewegung gegen Südafrika gemacht hat, frage ich. Kuper: "Viele europäische Juden fürchten, daß, wenn es eine Kampagne gäbe, israelische Waren zu boykottieren, rechte, rechtsradikale oder faschistische Gruppen auf den fahrenden Zug aufspringen würden. Und ich glaube, das ist eine wirkliche Gefahr, die wir um jeden Preis vermeiden müssen." Also schreiben die Juden an Bundesaußenminister Joseph Fischer mit - so mein Bedenken gegenüber Kuper - recht geringen Erfolgsaussichten. Schließlich rührt sich derzeit keinerlei offizielle Kritik an Israel. Kuper: Gerade an diesem Punkt beginne die besondere Aufgabe jüdischen Handelns. "Wir hoffen, daß, wenn sich Jüdinnen und Juden laut genug in der Öffentlichkeit äußern, Joschka Fischer und andere dazu in der Lage sind, Israel laut in der Öffentlichkeit zu kritisieren, ohne die Angst haben zu müssen, daß ihnen Antisemitismus vorgeworfen wird." Der Holocaust ist nicht vergleichbar mit irgendeinem anderen Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Aber es existieren auf israelischer Seite Strukturen und Verhalten, die "es auch während der Naziherrschaft in den 30er Jahren und während des Apartheid-Systems in Südafrika später" gab, so Kuper. Auf dieser Ebene müßten gerade "wir als Juden Parallelen ziehen, weil wir damit aufgewachsen sind, daß uns gesagt wurde, die Deutschen haben immer gesagt, sie wußten von nichts. Wenn das die Deutschen gesagt haben, könnten wir jetzt auch sagen, wir wissen von nichts. Aber wir wissen, was passiert. Und also sprechen wir es aus." Quelle: junge Welt vom 06.02.2004 Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite