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Als hätte es Tschernobyl nie gegeben

Die sogenannte "friedliche Nutzung der Kernenergie" war von Anfang an nichts anderes als ein Täuschungsmanöver der US-Regierung, erstmals 1954 mit aller Macht beworben von Präsident Dwight D. Eisenhower. Hiroshima und Nagasaki sollten vergessen gemacht, die todbringende Atomenergie mit dem Schlagwort "Atome für den Frieden" salonfähig gemacht werden. Auch Hollywood leistete wie immer seinen Beitrag zur ideologischen Aufrüstung: Walt Disneys "Unser Freund, das Atom" war eine Orgie verharmlosender Propaganda.
Von Dr. Wolfgang Hingst, Wien
 
Tschernobyl
Bis heute ist die zivile Nutzung der Atomkraft in weltweit 440 Atomkraftwerken aufs engste mit der Atomwaffenindustrie verbunden. Nach dem bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Atomenergieproduktion in Tschernobyl ist die Atomlobby nur auf Tauchstation gegangen und hofft, als hätte es die Katastrophe nie gegeben, auf eine Renaissance. Wie bisher setzt sie gewissen- und verantwortungslos Täuschungen, Tricks und Desinformationen ein.
 
Dass das nukleare Establishment um seine Arbeitsplätze kämpft und erneuerbare Energiepolitik boykottiert, ist noch nicht weiter verwunderlich. Das Schlimme ist, dass die EU und die internationalen Organisationen WHO und Uno von diesen Leuten beherrscht und gegängelt werden. Empörend, dass alle Fakten geleugnet werden.
 
1990 organisierten die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), die Europäische Kommission, das Wissenschaftskomitee über die Auswirkung von atomarer Strahlung der Vereinten Nationen (UNSCEAR) und andere Organisationen das "Internationale Tschernobyl-Projekt". In einem ein Jahr später vorgelegten Bericht der IAEA hiess es, es gebe keine Gesundheitsstörungen, welche direkt der Strahlenbelastung durch den Super-GAU zugeordnet werden könnten. Die Folge war, dass internationale Organisationen und Uno keine angemessenen Hilfsprogramme für die betroffene Bevölkerung in der Ukraine und Weissrussland starteten.
 
Wichtige internationale Organisationen wie UNSCEAR, ICRP (Internationale Strahlenschutzkommission) und natürlich die NEA (Nuclear Energy Agency, Paris) leugnen nach wie vor jedwede Verbindung zwischen dem Super-GAU von Tschernobyl und dem Anstieg der Erkrankungen sogar in der Ukraine und Weissrussland. Sie behaupten, dass lediglich psychologischer Stress und Ängste die Folge waren! Ein mieser Trick: Treten gravierende Umweltschäden mit hohen Folgekosten auf, bezeichnet man die Opfer, die sich wehren, als psychisch krank.
 
Die dringend notwendige Diskussion über solche Manipulationen ist kürzlich in Zeit-Fragen aufgenommen worden. Es handelt sich um die Artikel "Klärung von Gesundheitsfolgen des Tschernobyl-Unfalls stösst auf Widerstand"1 von E. Lengfelder, H. Rabes, H. Scherb, Ch. Frenzel und "Erforschung der Tschernobyl-Katastrophe hat internationale Bedeutung"2 von Mikhail Malko. Ich möchte sie mit diesem Beitrag weiterführen und vertiefen.
 
In einem Referat anlässlich der Vierten Internationalen Konferenz "Die Kinder von Tschernobyl - Gesundheitsfolgen und psychosoziale Rehabilitation" Anfang Juni 2003 in Kiew haben E. Lengfelder u.a. behauptet, die Verleugnung der Tschernobyl-Folgen sei vor allem auf den Widerstand der USA zurückzuführen, deren Administration Regressforderungen befürchtet. Es wurde nämlich in den 50er Jahren vom US-Energieministerium radioaktives Jod absichtlich freigesetzt, um zu testen, "wie gut man die Spur einer solchen Wolke verfolgen könne". Viele Milliarden Dollar Entschädigung könnten von Schilddrüsenkrebs-Opfern eingeklagt werden.
 
Mikhail Malko, Physiker an der Akademie der Wissenschaften in Minsk, Belarus, bestreitet nicht, dass es diese unfassbaren Menschenversuche in Amerika gegeben hat, sieht aber den Grund für den Widerstand der USA anders. Die US-Administration und andere westliche Regierungen, so Malko, rechtfertigen einfach nachträglich die Politik der Perestroika, in deren Periode der Super-GAU in Tschernobyl fiel. Russland sei auch nach dem Fall der Mauer 1989 hinter dem "eisernen Vorhang" geblieben und könne die Erkenntnisse seiner Wissenschafter nicht an westliche Fachleute vermitteln. Malko schreibt:
 
"Die Befunde der belarussischen, ukrainischen und russischen Ärzte und Fachleute zeigen eindeutig, dass der Tschernobyl-Unfall die Erkrankungsraten praktisch in allen bekannten Krankheiten [...] erhöht hat."
 

Krebshäufigkeit steigt nicht nur um Tschernobyl

 
Es sei auch unrichtig, so Malko, sich nur auf den Schilddrüsenkrebs zu beschränken:
 
"Nach unseren eigenen Abschätzungen manifestierte sich in Belarus nach dem Tschernobyl-Unfall eine grosse Zahl von Magen-, Lungen-, Brust-, Schilddrüsen- und anderen Tumoren, die durch Bestrahlung induziert worden waren."
 
Ich füge hinzu: Es ist auch unrichtig, nur über die Opfer in Weissrussland und der Ukraine zu sprechen. Allein auf Grund der Cäsium-Belastung kam der bedeutende amerikanische Atomforscher John Gofman zu dem erschreckenden Ergebnis, dass es weltweit 1 Million Krebsfälle geben werde, die Hälfte davon mit tödlichem Ausgang.3
 
Im Juli 2000 wurde eine Studie publiziert, dass in der Umgebung der bayerischen Atomkraftwerke Gundremmingen, Isar und Grafenrheinfeld die Krebshäufigkeit um 20 Prozent erhöht ist. Es handelt sich vor allem um Nierenkrebs und um Karzinome des Zentralnervensystems.
 
Man weiss um die Erhöhung der Krebshäufigkeit in der Umgebung der Atomkraftwerke seit langem. Nachdem dazu zahlreiche Studien vorliegen, geschieht nichts, ausser dass neuerlich Studien in Auftrag gegeben werden. Diese Ignoranz wird in allen Bereichen an den Tag gelegt, wo Profitintessen betroffen sind. Ich habe darüber in meinem kürzlich in Zürich erschienenen Buch "Paradies oder Weltuntergang - wir haben die Wahl" berichtet. 4
 
Kein Wort verliert das internationale Atom-Establishment darüber, dass durch den SuperGAU die ganze Nordhalbkugel unseres Planeten radioaktiv verseucht wurde, dass eine "Todeszone" von 60 Kilometern Durchmesser rund um Tschernobyl überhaupt nicht bewohnt werden kann, dass 55`000 Menschen, die zu Aufräumarbeiten abkommandiert wurden, tot oder sterbenskrank sind, dass 400`000 Menschen ihre Wohnorte für immer verlassen mussten, dass der materielle Schaden, soweit er überhaupt schätzbar ist, Hunderte Milliarden Euro beträgt. Würde Mitteleu-ropa von einer solchen Katastrophe heimgesucht, wären die Schreckenszahlen noch wesentlich höher. 3,5 Millionen Menschen in Weissrussland, Russland und der Ukraine sind an den Folgen der Verstrahlung durch den Super-GAU von Tschernobyl 1986 erkrankt, ein Drittel davon Kinder. Die Zahl der Tumorkranken ist ernorm gestiegen, besonders bei Schilddrüsenkrebs und Leukämie. In Weissrussland haben sich die Leukämie-erkrankungen bei Kindern verzehnfacht - weltweit die höchste Rate.
 

Bis heute noch nicht alle Tschernobyl-Opfer geboren

 
Das Unheimlichste an Tschernobyl ist, dass die Wirkung zeitlich und räumlich nicht eingrenzbar ist, wie der promovierte Werkstoffwissenschafter Gerd Rosenkranz schrieb:
 
"Die Strahlenwolke überwand Staats- und Blockgrenzen, setzte Hunderte Millionen Menschen auch ausserhalb der Sowjetunion zusätzlicher radioaktiver Strahlung aus. Und sie tut es bis heute. Am Ende des 20. Jahrhunderts werden noch nicht alle Opfer des Tschernobyl-GAUs geboren sein. Auch vor Generationengrenzen macht diese Katastrophe nicht halt. Sie hat kein Ende." 5
 
Der österreichische Arzt Wolfgang Köstler, der Spitäler im Bereich Minsk besuchte und Hilfslieferungen organisierte, brachte erschütternde Berichte mit nach Hause. Ein hochrangiger weissrussischer Politiker erklärte ihm, er befürchte als Spätfolge der Katastrophe in Tschernobyl an die zwei Millionen Opfer.
 
Würde es zu einem Super-GAU in einem Atomkraftwerk inmitten Europas kommen, wären weite Teile Zentraleuropas in einem Umkreis von über 1000 Kilometern eine verstrahlte Atomwüste.
 
Dabei ist Tschernobyl nicht die einzige Ursache der erhöhten Radioaktivität. Hinzu kommt noch die künstliche Strahlenbelastung durch Atombombenversuche, an bestimmten Arbeitsplätzen und in der Medizin. Sie hat sich seit 1945 gegenüber der natürlichen Strahlenbelastung (Weltraum, Boden) allgemein auf ein Vielfaches erhöht. Das bedeutet, dass die Krebsrate sich schon allein deshalb massiv erhöht hat. 6
 

Die Krebsraten steigen

 
Leider zeigen die globalen Daten beim Tumorgeschehen eine sehr negative Entwicklung. Man kann es auch am Chemotherapeutika-Weltmarkt ablesen: Er hatte sich schon zwischen 1980 und 1990 verdreifacht. Der Umsatz lag Anfang der 90er Jahre bei 500 Milliarden Dollar! Die jährliche Weltkrebsrate war von 5 auf 6 Millionen Fälle gestiegen.7
 
Mittlerweile hat sich der Umsatz an Chemotherapeutika zur Krebsbekämpfung - genauer zwischen 1989 und 1999 - weltweit um mehr als das Vierfache erhöht. 8
 
Neueste Meldungen des Weltkrebsberichts der WHO verdüstern das Bild: Krebs wird weltweit zu einer noch grösseren Bedrohung. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl neuer Tumorerkrankungen um 50 Prozent auf 15 Millionen steigen. 9
 
Möglicherweise ist das noch untertrieben. Andere Prognosen gehen davon aus, dass in der nächsten Generation jeder Zweite an Krebs erkranken wird.10 Obwohl diese Horrorzahlen auf dem Tisch liegen, passiert viel zu wenig, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Die Risken werden zum Teil verniedlicht, zum Teil vertuscht.
 
Skandalös ist die Interpretation der Daten durch die WHO: Ursache der steigenden Krebsrate seien die höhere Lebenserwartung, ungesunde Ernährung und Tabakkonsum. Sicher spielen alle diese Faktoren mit. Aber man kann doch nicht Strahlenbelastung und Chemikalienflut einfach ignorieren.
 
Hans-Joachim Ehlers, Herausgeber der deutschen Zeitschrift Raum&Zeit traut der WHO generell nicht über den Weg, weil, wie er sich ausdrückt, an ihrer Spitze "die -grössten Pharma-Konzerne der Welt vereint sind. Und die haben weltweit nur eines im Sinn: Profit."11
 
Es ist ein gigantischer Skandal, dass die politisch Verantwortlichen dieser Welt die unfassbaren Steigerungsraten beim Krebs hinnehmen und keine gravierenden Gegenmassnahmen ergreifen, dass zugeschaut wird, wie die Wissenschaft immer mehr privatisiert, sprich kommerzialisiert wird.
 

Zippes Zentrifugen

 
Das Traurige ist, dass das nukleare Establishment kein Organ für alles ausserhalb seiner Welt hat: für Biologie, Medizin, Humanökologie, Kultur, Philosophie und Religion. Ein typisches Beispiel für die totale Technikgläubigkeit dieser Leute ist der Österreicher Gernot Zippe, der Erfinder von Uran-Gaszentrifugen, Reinhard Tramontana, Urgestein des Wiener Wochenmagazins Profil, hat über ihn eine äusserst aufschlussreiche Analyse geliefert und damit gezeigt, wozu die Vergötzung der Technik führt.12
 
Mit Zippes Zentrifugen lässt sich im gasförmigen Uranhexafluorid das schwerere Uranisotop U-238 vom leichteren, spaltbaren U-235 separieren. U-235 ist die Basis für das Material von Brennstäben für Atomkraftwerke ebenso wie für den Bau von Atombomben.
 
Zippe war Freiberufler, eine "Ich-AG", wie er es nennt. Diverse Dienste standen bei ihm in der Warteschleife in der Erwartung, er könne kleine "handliche Bomben" bauen. Der Erfinder gönnt sich hier ein Scherzchen: Er habe in den Vertrag immer hineinschreiben lassen, dass seine Erfindungen nur für friedliche Zwecke verwendet werden dürfen. Jedem Volksschüler muss klar sein, dass sich im Ernstfall niemand darum kümmert. Und so kam es auch. Zum Beispiel verkaufte etwa Pakistans Nuklearexperte Abdul Khadir Khan die Pläne für Zippes Zentrifugen an Libyen, Nordkorea und den Iran. Aber auch der deutsche Nuklearspezialist Karl-Heinz Schaab versorgte Anfang der 90er Jahre den Irak Saddam Husseins mit den Top-Secret-Unterlagen.
 
Dazu fällt jedem Technik-Fetischisten ein Sprüchlein ein. Das von Zippe lautet schlicht: "Mit einem Küchenmesser kann man Erdäpfel schälen oder seinen Nachbarn ermorden." Sprich: Die Technik bleibt immer rein, nur der Mensch ist böse.
 
Ohne Zippe keine Atombomben, vor allem nicht in Russland, wo er jahrelang tätig war. Einer der Väter des sogenannten "Gleichgewichts des Schreckens". Niemanden wird es wundern, dass Zippe ein glühender Befürworter von Atomkraftwerken ist - Tschernobyl hin, Tschernobyl her.
 
Auf der ganzen Welt, vor allem in Europa und Japan, laufen Hunderttausende Zippe-Zentrifugen. Es wundert nicht, dass der clevere Erfinder diese schöne Einkommensquelle nicht versiegen lassen will. Zippe plädiert für den weiteren Ausbau der Atomkraftwerke und meint, die Skeptiker würden Naturgesetze durch Ideologien ersetzen. Dabei ist es doch gerade umgekehrt.
 
Der Mann ist überhaupt ahnungslos. Nach eigenen Angaben wusste er nicht, als er für den deutschen Chemiekonzern Degussa arbeitete, welchen Arbeitgeber er sich da ausgesucht hatte. In der Nazizeit hatte sich die Firma "arisierte" Unternehmen unter den Nagel gerissen. Die Degussa erzeugte das "Pflanzenschutzmittel" Zyklon B, mit dem in den Konzentrationslagern Häftlinge "vergast" wurden. Nach dem Krieg stieg das Unternehmen in die Nuklearenergie ein.
 
Ein zweites Tschernobyl sei nicht auszuschliessen, meint Zippe, was aber gar nicht das Ärgste sei. Viele Jahre zuvor hätten die Russen in Kyschtym ein Lager mit ungesicherten Atomabfällen errichtet. Das Gebiet sei auf Tausende Quadratkilometer bis heute unbewohnbar. Dessen ungeachtet fasst Zippe einen Beharrungsbeschluss für die Atomenergie. Allein mit dem jetzt verfügbaren Uran könne man "die ganze Welt 6000 Jahre lang heizen und beleuchten". Zippe spekuliert also damit, dass die Menschen dieser Erde seit Tschernobyl nichts dazugelernt und von Sonnenenergie noch nie etwas gehört haben, dass sie sich weiter als Versuchskaninchen der Nuklearindustrie missbrauchen lassen werden. Ich hoffe, da irrt er gewaltig!
 

Unverdrossen geistert die Atomlobby

 
Noch stagniert die Atomenergieproduktion, obwohl sie sich täuschenderweise als Lösung für die Klimaprobleme andienen will. Neubestellungen von Atomkraftwerken kommen derzeit fast ausschliesslich aus Asien. Aber auch in Europa will Finnland - mit dem Segen von Brüssel - ein neues AKW bauen. Und Rumänien hat vor, den unter Ceauc-escu begonnenen Bau des zweiten CANDU-Blocks weiterzuführen. Unverdrossen geistert die Atomlobby.
 

Temelín und Bohunice ...

 
Dass sie nicht endgültig resigniert hat, zeigt auch ihr Festhalten am tschechischen Atomkraftwerk Temelín. Alte AKW werden auf- und umgerüstet. Sicherer werden sie dadurch nicht. Das Milliarden-Grab Temelín ist wie Mohovce in der Slowakei oder Pacs in Ungarn ein Zwitter aus östlicher und westlicher Technologie und daher ungeheuer störanfällig. Nach wie vor ist Europa von einem Super-GAU à la Tschernobyl bedroht.
 
Entgegen allen Beteuerungen wurden die ausserordentlich gefährlichen Reaktoren in Bohunice (Slowakei), nur etwa 50 Kilometer von der österreichischen Staatsgrenze entfernt, 1995 nicht vom Netz genommen. Das AKW Mohovce in der Slowakei wurde mit Hilfe westlicher Atommultis - Bayernwerke, Siemens, Electricité de France - gebaut. Die Reaktoren entsprechen dem Typ Greifswald in der Ex-DDR. Das Atomkombinat Greifswald wurde wegen mangelnder Sicherheit stillgelegt. Als zwei Blöcke in Mohovce den Betrieb aufnahmen, gab es in der EU keinen Widerstand, obwohl ganz Europa durch das Kombinat bedroht ist. Im Gegenteil: Finanziert wurde Mohovce durch die EBRD, die Europabank, an der Brüssel 51% hält. Österreich steuerte trotz Atomsperrgesetz 2,28% bei. Ko-Finanzier ist nämlich Euratom, ein Grundstein der EU. Und so zahlen Österreichs Steuerzahler mittelbar und unmittelbar für ihre eigene Gefährdung. Abgezockt für den Atomwahnsinn.
 
Nur eines ist bei der Atomenergie sicher: Sie ist auch ein ökonomisches Waterloo. Praktikable Lösungen für den Ausstieg aus dieser absurden Energiepolitik werden stur ignoriert. Der Bundessprecher der österreichischen Grünen, Alexander van der Bellen, hatte angeregt, Wien solle das Geld für den geplanten Kauf von Abfangjägern für die Stillegung Temelíns investieren - immerhin 2,18 Milliarden Euro! Wenn Berlin sich zu Ähnlichem hätte aufraffen können, wäre in der Politik einmal etwas Gescheites passiert! Ein noch besserer Vorschlag kam vom österreichischen Ökologen Bernd Lötsch, der eine Umlenkung der Euratom-Milliarden anregte, damit Temelín nicht ans Netz geht.
 

Schrott- und Pannenreaktor Temelín

 
Temelín geriet vor allem in Österreich zur politischen Zerreissprobe. Deutschland, das bei einer Reaktorkatastrophe ebenso betroffen wäre, wich aus Gründen der EU-Raison den Auseinandersetzungen fast vollständig aus. Die Atomenergie-Renaissance in Osteuropa ist das Werk der EU, der EBRD, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO. Die Kosten einer Gesamtsanierung osteuropäischer Atomkraftwerke werden auf bis zu 100 Milliarden Euro geschätzt. Abgesehen davon, dass auch nach dieser "Sanierung" Atomenergie nicht sicher wäre: Würde man derart gigantische Summen in erneuerbare Energie investieren, könnte der Ausstieg aus der Atomenergie in ganz Europa binnen kürzester Zeit geschafft werden.13
 
In Temelín engagiert sich der amerikanische Atom-Multi Westinghouse: Mehr als zwei Milliarden Euro wurden in dieses Kombinat investiert. Experten des deutschen Umweltministeriums haben Anfang Juli 2001 erklärt, Temelín wäre in Deutschland nicht genehmigungsfähig. Das AKW solle nicht in Betrieb genommen werden. Neuesten Analysen (u.a. "Schwarzbuch" des internationalen österreichischen Expertenteams) ist zu entnehmen, dass am Reaktordruckbehälter keine Sprödbruchanalysen durchgeführt wurden, dass der Komplex nicht erdbebensicher ist und dass das Containment nicht den Anforderungen entspricht. Es liegt über den Kontrollräumen, die bei einer Kernschmelze als erste zerstört würden. Bei den zahlreichen Versuchen, das AKW hochzufahren, zeigten sich gravierende Pannen.
 
Österreich wäre durch einen Super-GAU in Temelín, einem kleinen Ort in der Nähe von Budweis, neben Tschechien selbst durch die vorherrschende Westwetterlage am meisten betroffen. Budweis liegt nur etwa 30 Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. An schönen Tagen sind die vier AKW-Kühltürme von dort aus gut zu sehen.
 

Die Rolle der EU

 
Doch Prag mauert eisern weiter - wie in Zeiten des Kommunismus. Endlose Verhandlungen, Grenzblockaden österreichischer Anti-Temelín-Initiativen - alles vergeblich. Die EU macht's möglich: Am 5. November 1999 wurde in Brüssel ein sogenannter Kompromiss beschlossen, der in Wirklichkeit eine totale Kapitulation der österreichischen Bundesregierung war. Nicht einmal mehr Nachrüstung auf dem neuesten Stand der Technik wurde gefordert. Man gab sich mit "üblichen Sicherheitspraktiken" zufrieden. Mit Recht halten daher die Atomenergiegegner alle Umweltverträglichkeitsprüfungen, die von den Tschechen zugesagt wurden, für Augenwischerei. Energie- und Verkehrspolitik der EU zeigen in krasser Form, dass über ein kleines Land wie Österreich einfach hinweggegangen wird.
 
Als einzige und legitime Druckmöglichkeit wäre die Verhinderung des Beitritts Tschechiens zur EU geblieben, um Temelín doch noch zu verhindern. Doch davon wollen die amtierenden Politiker in Brüssel, Berlin und Wien wegen der EU-Ost-Erweiterung, die mit der Nato-Ost-Erweiterung eng verflochten ist, nichts wissen. Frankreich und Grossbritannien signalisierten als Atommächte ohnehin, dass die Kleinen in der EU nichts, aber auch gar nichts mitzureden haben. Macht ist ihnen allen wichtiger als Sicherheit und Schutz für die Bevölkerung. (Die Verantwortlichen können sich mit ihren fetten Einkommen im Ernstfall leicht in weit von Mitteleuropa entfernte Refugien zurückziehen.)
 
Schon denkt man in Brüssel laut darüber nach, die Veto-Möglichkeit überhaupt abzuschaffen. Der Kanzler-Kandidat der CSU-CDU, Edmund Stoiber, erklärte lauthals, er werde den von der rot-grünen Regierungs-koalition beschlossenen (ohnehin auf 32 Jahre prolongierten) Atomausstieg sofort rückgängig machen, sollte er Regierungschef werden. Dies ist nach wie vor die Linie der CSU-CDU - auch nachdem Herr Stoiber nicht Kanzler aller Deutschen wurde.
 
Aus vorwiegend populistischen Motiven (Wählerfang) ignorierte die "Freiheitliche Partei" (FPÖ) den Pro-Atom-Kurs ihres Regierungspartners "Volkspartei" (ÖVP) und initiierte ein Volksbegehren gegen Temelín (mit Veto-Option). Prompt rief die ÖVP zum Boykott des Volksbegehren auf - und nahm damit das volle Risiko eines Koalitionsbruches in Kauf. Wenn man sich Verlauf und Ergebnis dieses Plebiszits ansieht, hätte es in der Tat Neuwahlen geben müssen. Die schwarz-blaue Koalition wurde aber auf Biegen und Brechen gehalten.
 

Fast eine Million unterschrieb gegen Temelín

 
Das Volksbegehren gegen Temelín (14. bis 21. Januar 2002) wurde mit 915.220 Unterschriften eines der erfolgreichsten. Kein Verdienst der FPÖ, sondern einer überparteilichen Koalition der Atomgegner, deren bedeutendste Vertreter für eine Unterschrift votierten. Und sicher auch ein grosser Erfolg der "Kronen-Zeitung" mit ihrer traditionellen Antiatomblatt-Linie. Motto: "Rot-Weiss-Rot gegen Temelín!" Im Grunde nutzte die FPÖ-Spitze, besonders der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, das von der Opposition (Sozialisten und Grüne) geschaffene Vakuum. Statt sich der Atomlobby am Beispielfall Temelín zu stellen, wurde eine solche Initiative, die vor allem den Grünen zugestanden wäre, der EU-Raison geopfert.
 

Schreckensvision Atomstaat

 
"Wer Radioaktivität freisetzt, plant den Tod mit ein." J. W. Gofman wusste, wovon er redete. Sein 1970 erschienenes Buch "Poisoned Power" über die extreme Gefährlichkeit von Plutonium aus Atomkraftwerken hat uns die Augen geöffnet. "Sonnenstaat kontra Atomstaat": Um diesen Gegensatz geht es auch heute noch. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Beide können nicht gewinnen.
 
Die Atomlobby setzt vor allem auf den "categorischen Imperativ des Geldes" (Nestroy). Und über Kapital verfügen die Atom-Konzerne nicht zuletzt dank der Förderung aus Steuergeldern in rauhen Mengen. Die europäischen Atomriesen, die schon wesentliche Teile der ungarischen Elektrizitätsversorger aufgekauft haben, versuchen nun auch die österreichische Energiewirtschaft in den Griff zu bekommen. Das begann Ende 1997 in der Steiermark: Die Electricité de France (EDF), Atommulti und weltgrösster Stromerzeuger, kaufte 25% und eine Aktie an der EStAG, der Steirischen Energieholding. Das Ganze wurde in einer überfallsartig einberufenen Sondersitzung des Steirischen Landtags durchgezogen. Die Entscheidung für die EDF wurde mit den Stimmen der Volkspartei, der Sozialisten und des Liberalen Forums (das es damals noch gab) gegen Grüne und Freiheitliche durchgepeitscht. Offizieller Grund: Die Franzosen hatten um 700 Millionen Schilling mehr geboten als der Nächstbieter. Um diesen Preis wurde die Antiatomstrom-Politik Österreichs, basierend auf dem durch die Volksabstimmung am 5. November 1978 erzwungenen Atomsperrvertrag, unterminiert.
 

Ausverkauf österreichischer Wasserkraft

 
Sein wahres Gesicht zeigte auch der Rechtspopulist Jörg Haider. In einer Nacht- und-Nebel-Aktion unterschrieb er als Landeshauptmann den Verkauf von 49% der Kärntner Energieholding (KEH) an den grössten deutschen Energiekonzern RWE (Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke). Kaufpreis: 4,18 Milliarden Schilling. Die RWE ist einer der grössten Atommultis in Europa. Ein Fünftel ihres Stroms kommt aus AKW. Mit dem französischen Atomriesen EdF wird eng kooperiert. RWE ist der grösste Importeur von tschechischem Atomstrom und spitzt auf einen Kauf der Energiegesellschaft CEZ (so wie die EdF sich gerne Temelín schlucken würde). Die RWE besitzt nun durch den Kauf der KEH 31% der Kärntner Elektrizitäts AG (Kelag) und wird Österreich mit dem "Ökomascherl" Wasserkraft als Atomstrom-Drehscheibe für Mittel- und Südosteuropa missbrauchen.
 
Der Ausverkauf der österreichischen Wasserkraft diente auch bei der "Hochzeit" des österreichischen Verbundkonzerns und E.ON als Öko-Attrappe. Der Chemie- und Atomstromriese E.ON ist das Produkt einer Fusion der deutschen Konzerne Veba und Viag. Für den Kauf wurde eigens die European Hydro Power mit Sitz in Salzburg gegründet, an der E.ON mit 40% beteiligt ist. Mit wem man sich da ins Bett gelegt hat, wird sich bald herausstellen: Nach der französischen EdF ist E.ON der grösste Atomstromerzeuger in Europa.
 
Das Image Österreichs als Ökopionierland wird damit ausgehöhlt. Dem entspricht die anachronistische Förderung der Atomenergie im EU-Parlament, wo der Atomausstieg immer wieder von einer knappen Mehrheit verhindert wird - leider immer wieder auch mit Hilfe der österreichischen Abgeordneten der Volkspartei. Etwa am 24. Oktober 2000 in Strassburg, als die ÖVP-Abgeordneten Flemming, Karas, Pirker, Rack, Rübig, Schierhuber und Stenzel gegen faire Wettbewerbsbedingungen für erneuerbare Energieträger und damit für eine Fortsetzung des Atomkurses der EU stimmten. Auch 2001 gab es wieder eine Zustimmung der Regierung (also auch der FPÖ) zum EU-Milliarden-Budget für Euratom. Das EU-Parlament stimmt im gleichen Jahr für das von der Kommission vorgelegte Grünbuch zur "Versorgungssicherheit" im Energiebereich, in dem es heisst, dass nur die Atomenergie die zukünftige Energieversorgung Europas sichern könne! Solche Politiker führen zwar die Förderung erneuerbarer Energie im Munde, aber sie denken nicht ernstlich daran, sie aus ihrem Nischendasein zu befreien, was für uns alle lebensrettend wäre.
 
Die AKW-Lobby brüstet sich gern damit, Atomstrom sei enorm billig. Dabei werden die Gefahren und Schäden in betrügerischer Manier verschwiegen - siehe Tschernobyl. Ausserdem wird nach wie vor vertuscht, dass die Endlagerung von hochradioaktivem Müll nicht gelöst ist. Das Problem ist überhaupt nicht lösbar, weil Kalkulationen über viele Jahrtausende einfach unmöglich sind. Der Mensch ist in der Geschichte eine Eintagsfliege. Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von 24360 Jahren.
 
1 E. Lengfelder, H. Rabes, H. Scherb, Ch. Frenzel: Über den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Abschätzung der Gesundheitsfolgen nach Tschernobyl und der Beitrag internationaler nicht-staatlicher Organisationen zur Forschung und zur Behandlung von Schilddrüsenpathologien in Belarus. Publiziert unter dem Titel "Klärung von Gesundheitsfolgen des Tschernobyl-Unfalls stösst auf Widerstand, in: Zeit-Fragen Nr. 8, 1.3.2004, Seite 4 (Kann als Sonderdruck bei der Redaktion bezogen werden.)
 
2 Mikhail Malko: Erforschung der Tschernobyl-Katastrophe hat internationale Bedeutung. Publiziert in Zeit-Fragen Nr. 11, 22.3.2004
 
3 Wolfgang Hingst: Paradies oder Weltuntergang - wir haben die Wahl. Zürich 2003, Seite 202
 
4 Wolfgang Hingst: Paradies oder Weltuntergang - Wir haben die Wahl. Zürich 2003
 
5 Gerd Rosenkranz: Katastrophe ohne Ende, in: Der Spiegel Nr. 23, 2000, Seite 117
 
6 Wolfgang Hingst: Zeitbombe Radioaktivität. Wien 1987
 
7 Wolfgang Hingst: Immunologie. Wien 1992, Seite 83-85
 
8 www.mitwelt-online.de/custom/gesundheit.html
 
9 Christina Berndt: Der Lebensstil macht krank. Weltgesundheitsorganisation erwartet drastische Zunahme von Krebs, in: Süddeutsche Zeitung, 4.4.2003, Seite 1
 
10 www.wu-wien-wien.ac.at/insti/entrep/Austrianova-Borsch%Fcre-pdf
 
11 Wolfgang Hingst: Paradies oder Weltuntergang - Wir haben die Wahl. Zürich 2003, Seite 348
 
12 Reinhard Tramontana: Der dritte Mann, in: Profil Nr. 16, 9.4.2004, Seite 117ff.
 
13 Wolfgang Hingst: Paradies oder Weltuntergang - Wir haben die Wahl. Zürich 2003 Quelle: Zeit-Fragen 17.5.2004
 
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