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Der erste Freitag im Ramadan

Israelische Besatzungssoldaten erschießen einen wehrlosen alten Palästinenser, der von Bethlehem nach Ostjerusalem zum Gebet pilgern wollte - und sein Enkelsohn muss zuschauen.

Von Kristen Ess Es ist der erste Freitag im Ramadan. Mindestens 400 ältere Palästinenser verließen morgens ihr Heim in Bethlehem, um sich auf den kurzen Weg zu machen und in Ost-Jerusalem in der Al-Aksa-Moschee zu beten. Der Tripp zur wichtigsten Moschee Palästinas dauert an sich nicht länger als 20 Minuten. Stunden später sind die Leute immer noch nicht angekommen. Ein Rechtsanwalt der UNO, der in einem UN-Jeep versucht, Bethlehem zu verlassen, schaut mich entgeistert an und sagt: "Sie haben scharfe Munition benutzt. Aber dies ist eine Gruppe alter Leute. Einen Mann haben sie in den Kopf geschossen, und ein kleiner Junge schaute zu. Ich sah ihn gerade vorübergehen. Sein Gesicht ist tränenüberströmt". Israelische Soldaten hatten den Checkpoint von Bethlehem nach Jerusalem geschlossen. Heute Morgen steht auf der Titelseite der Zeitung 'Al Quds', Bethlehem sei wieder einmal komplett abgeriegelt. Die Israelische Besatzungsarmee - zu den wahren Gründen, für diese Dinge schweigt sie stets. Schließlich gibt es keinen Grund, Menschen jahrelang als Gefangene in ihren Städten und Häusern festzuhalten. Die IOF* behauptet dies lediglich, jedes Verbrechen gegen das palästinensische Volk geschähe aus Gründen ihrer "Sicherheit". Aber Sicherheit ist nicht die Frage für einen, der in einem aufgerüsteten Panzer sitzt oder auf einem Bulldozer oder im Apache-Helikopter hoch über einem Flüchtlingslager oder für einen, der sein Gewehr an die Schläfe eines alten Mannes hält, der - den Enkelsohn an der Hand - am ersten Ramadan- Freitag zum Gebet gehen will. Die israelischen Soldaten an Bethlehems nördlichem Checkpoint hatten den Leuten gesagt, keiner kommt hier durch. Sie müssten alle wieder nach Hause. Eine halbe Stunde später - die Leute hatten sich nicht gerührt -, sagten die israelischen Soldaten, nur wer eine "Erlaubnis" habe, dürfe durch. Eine Weile später sagten die israelischen Soldaten, nur Leute über 45 könnten durch. Und die ganze Zeit ließen sie keinen Einzigen durch. Einige Leute fingen an, auf dem Boden des Checkpoints ihre Gebete zu verrichten. Aber andere Ältere bewegten sich nach vorne zu. Eine junge Frau beschreibt mit Tränen in den Augen: "Die Leute wollten es einfach nicht länger hinnehmen. Sie fingen an und gingen los". Ein Journalist und Augenzeuge beschreibt die folgenden Minuten: "Viele der Leute gingen einfach durch. Einige rannten, andere gingen. Und die Soldaten verloren einfach die Kontrolle. Sie fingen an zu schießen. Und sie schossen auch Tränengas ab und akustische Bomben. Sie schlugen Leute. Mit dem Gewehrkolben schlugen sie auf den Schädel eines Mannes ein." Bereits zuvor in der Woche hatte die IOF am Container-Checkpoint im Nordosten Bethlehems Tränengas verschossen und Palästinenser schwer verprügelt. Die Straßen, die nach Bethlehem führen bzw. aus Bethlehem heraus - falls sie nicht voller israelischer Soldaten mit Jeeps und Gewehren stecken -, sind von israelischen Bulldozern aufgegraben. Sämtliche Bewohner der Region Bethlehem sitzen in der Falle. Viele habe ihre Stadt seit Jahren nicht mehr verlassen. Ein Mann ist schwerverletzt. Man hat ihn auf den Kopf geschlagen Mehrere Leute in Handschellen sieht man im Rückteil der Jeeps. Andere hält man in den Feldern neben dem Checkpoint fest. Es gibt keine zuverlässige Einschätzung, wieviele von ihnen in israelischen Gefängnissen landen werden bzw. ob man die Leute wieder freilässt. Während ich mich entferne vom Rasierklingenzaun, der in die Erde vor dem Checkpoint einschneidet, sehe ich rund 35 ältere Leute, die mit vorgehaltener Waffe in einer Reihe aufgestellt werden. So warten sie, bis sie an der Reihe sind, die neue Einrichtung des Checkpoint zu durchlaufen. Die IOF hat einen Metalldetektor installiert - etwa 3 Meter hoch oben. Die jeweilige Person muss allein stehen. Er oder sie gibt ein perfektes Ziel für die israelischen Heckenschützen ab, und jeder kann die demütigende Durchsuchung mitansehen, die nun folgt. Kristen Ess ist eine freie Journalistin und Aktivistin aus New York City. Sie hat in Westbank und Gazastreifen mit belagerten palästinensischen Familien zusammengelebt. Ess berichtet für 'Free Speech Radio News' u. 'Pacifia network', und produziert eine Wochenschau für CKUT in Montreal. Sie schreibt für das Magazin 'Left Turn', für 'Electronic Intifada' u. 'The Palestine Chronicle'. Kristen Ess Artikel gibt es in deutscher, italienischer, französischer und arabischer Übersetzung. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über das Leben unter Okkupation im Gazastreifen. Anmerkung d. Übersetzerin * Kristen Ess nennt die Israelische Armee (IDF = Israeli Defense Force) "IOF" = Israeli Occupation Force, also Israelische Okkupationsarmee Übersetzt von: Andrea Noll Quelle: ZNet 31.10.2003 Lesen Sie weitere interessante Artikel auf unserer News-Seite