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Die unsterblichen Toten

Wie man eine koschere Straße baut.

Von Annette Großbongardt Der Rabbi geht schnell, im Spurt fast eilt er über den weichen Asphalt. Schon im Frühjahr ist es in Tiberias am See Genezareth an manchen Tagen schön heiß. Der bärtige Schriftgelehrte will in sein Büro von "Atra Kadischa", der ultraorthodoxen Gemeinschaft, die sich um den Schutz von Friedhöfen und heiligen jüdischen Stätten kümmert. Aus den Augenwinkeln sieht er den Spielwarenhändler Schlomo Deri, der in der offenen Ladentür steht und in sein Handy brüllt. Nichts wie weg, denkt der Rabbi, bloß keine Diskussion mehr. Doch Deri hat ihn schon erspäht. "Du bist okay, Rabbi", ruft er ihm hinterher, "aber das mit der Straße hier ist eine Ungerechtigkeit." Der Rabbiner, der David Schmiedel heißt und mit seinen Eltern als kleiner Junge vor den Nazis aus Österreich floh, weiß, warum der Händler zornig ist. Fast drei lange Jahre war die Ben-Zakai-Straße, über die er jetzt läuft, eine Baustelle. In dieser Zeit sahen sich die beiden häufig. Der Spielwarenhändler war meist sauer, weil er seinen Laden wegen der Straßensperrung monatelang schließen musste. Und Schmiedel überwachte die Bauarbeiten. Ein Rabbi als Bauinspektor? Ihm ging es nicht darum, dass der Belag abgefahren war oder die Kanalisation modernisiert werden musste. Die Ben-Zakai-Straße in Tiberias wurde umgebaut, um der "Halacha", dem alten jüdischen Religionsgesetz, Genüge zu tun. Darin ist Schmiedel Experte, vor allem was die Vorschriften für Gräber angeht, die man bei Erdarbeiten unter einer Straße in Tiberias entdeckte. Die Gebeine sind uralt, etliche stammen wohl aus der Zeit, als in Tiberias noch die Römer herrschten. Die alten Knochen sorgten nun für ein aktuelles Problem: Die Nachfahren der jüdischen Priesterkaste, die "Kohanim", dürfen keine Straße benutzen, die über Gräber führt. Mit biblischen Tempelritualen haben die Priestererben von heute zwar längst nichts mehr zu tun. Aber sie halten sich an die Überlieferung ihrer Vorväter, die ihnen untersagt, Friedhöfe zu betreten, weil sie sonst "unrein" werden. Die besondere Begabung von Rabbis wie Schmiedel ist es, den modernen Alltag der Israelis trickreich in Übereinstimmung zu bringen mit den alten Geboten. Die jüdische Gesetzessammlung "Mischna", auf die auch Rabbi Schmiedel in Tiberias pochte, ist immerhin fast 2000 Jahre alt. Danach musste zwischen Gräberfeld und Straßendecke ein Hohlraum von mindestens "einer Handbreit" geschaffen werden - eine Art rituelle Pufferzone, die die gläubigen Passanten vor den verunreinigenden Gebeinen schützen soll. Die koscheren Baupläne für das komplizierte Konstrukt lieferte das Religionsministerium. Unter dem Asphalt wurden danach in zwei Schichten Hunderte u-förmiger Betonelemente versetzt aufeinander geschichtet. Sie bilden ein System von Hohlräumen, bei dem keine Verstrebung von der Straßendecke bis zum Untergrund geradlinig durchgehen darf, weil die Passanten sozusagen auf Luft gehen sollen. Von oben sieht die Straße aus wie jede andere auch. Streng kontrollierten Rabbi Schmiedels fromme Inspektoren jeden Bauabschnitt. Waren die Betonteile korrekt versetzt, die Hohlräume vorschriftsmäßig versiegelt? Mit der Taschenlampe krochen sie in die Betonelemente, um dort nach Unrat zu suchen. Dazu legte sich ein Koscher-Wächter bäuchlings auf ein Skateboard, das der Spielwarenhändler Schlomo Deri bereitwillig aus seinem Laden holte. Schmiedel duldete keine Zigarettenkippe, keine leere Chipstüte. Nicht wegen der Verschmutzung, sondern weil "der kleinste Gegenstand das Prinzip des Hohlraums zerstören würde". Der Rabbi spricht leise, fast widerstrebend über sein Wächteramt, und manchmal seufzt er ein bisschen, denn es ist ja schwer, das alles den Unwissenden zu erklären. Auch die Baufirmen hatten sich am Anfang eingebildet, sie kämen ohne ihn zurecht. Als wüssten Laien, wie man eine ordentliche koschere Straße baut. Welche normale Straße etwa hat schon ein Belüftungsrohr, das das Totenreich mit dem Diesseits verbinden soll? Das aber so gebaut sein muss, dass kein Abfall hereinweht oder sich gar Tiere ansiedeln? "Mitunter genügte ein Zigarettenpapier - und wir mussten einen Kran holen und die verlegten Teile wieder herausreißen", klagt Israel Antebbi, Generaldirektor der Stadtverwaltung, der weltliche Gegenspieler des Rabbis. Er spricht vom "kompliziertesten Projekt meiner Amtszeit". Doch manchmal, gesteht er, habe er "einfach nur gelacht". 2,7 Millionen Euro kostete die knapp einen Kilometer lange Straße. "Wer kein Kohen ist und nicht an diese Dinge glaubt", sagt Antebbi, "mag das für pure Geldverschwendung halten. Wir aber haben verstanden, wie sensibel die Sache für unsere Bürger ist." Aber auch die ultraorthodoxe Schas-Partei, die mit im Stadtrat sitzt und deren zeitweiliger Vorsitzender selbst ein Priesternachfahre ist, machte Druck. Tatsächlich dürfte dies noch lange nicht das Ende des koscheren Straßenbaus sein. Zehntausende Gräber werden unter der alten Stadt vermutet, die Herodes Antipas auf Grabstätten errichten ließ. Rabbi Schmiedel jedenfalls plant ungeduldig schon das nächste Projekt - die Hauptstraße von Tiberias. Quelle: DER SPIEGEL 23/2004 - 29. Mai 2004 Lesen Sie weiter Hintergrundinformationen zum Nahostkonflikt auf unserer News-Seite.