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Nicht eine Sekunde!

Der Kampf gegen Arafat, der israelische Fundamentalismus und der Hang zur Selbstzerstörung

Von Richard Chaim Schneider

…Immer noch wird Israel als einzige Demokratie des Nahen Ostens bezeichnet, doch diese ist in Gefahr unterzugehen. Nicht, weil der Zionismus eine gescheiterte Ideologie ist, sondern weil er sich in den vergangenen Jahrzehnten von seinen säkularen Wurzeln entfernt hat und von religiösen und nationalistischen Gruppen okkupiert wurde.

So mancher israelische Intellektuelle denkt darüber nach, ob ein jüdischer Staat auch ein demokratischer Staat sein kann. Doch solche Denker mag man im eigenen Land überhaupt nicht. Sie gelten als Verräter oder als Verrückte, die man in ihrer akademischen Karriere beschneidet wie den Philosophiedozenten Moshe Shneer, der wohl nie einen Lehrstuhl an der Universität Tel Aviv oder Jerusalem bekommen wird.

Die Mehrheit der aufgeklärten Israelis hält den Fanatismus nationalreligiöser Gruppen und Parteien für ein Missverständnis. Diese Fundamentalisten verrieten die Ideale des Judentums, sagen sie. Doch sie irren, wie Moshe Shneer und andere immer wieder betonen. Der jüdische Liberalismus, wie ihn die Haskala, die jüdische Aufklärung, propagierte, ist gerade mal dreihundert Jahre alt. Die Wurzeln des jüdischen Fundamentalismus hingegen liegen in der Zeit des babylonischen Exils.

Als der persische König den Juden erlaubte, nach Zion zurückzukehren, machte sich nur ein Teil auf den beschwerlichen Rückweg. Unter denen, die sich, geführt von dem Gelehrten Esra, erneut im Gelobten Land niederließen, entwickelte sich bald eine ‚rassistische' Gesellschaft. In jener Zeit entstand der Begriff 'sera hakodesch', der heilige Samen, als Metapher für die jüdische Ethnie. Esra verlangte, alle Juden müssten sich von ihren nichtjüdischen Ehepartnern trennen, die sie im babylonischen Exil geheiratet hatten, ja sogar von ihren nichtjüdischen Kindern. In der Realität setzt sich Esra nicht durch, doch der Gedanke einer strikten "Mauer" zwischen Juden und Nichtjuden war geboren.

Esras Absolutismus setzte sich auf vielerlei Weise im jüdischen Denken fort. In einem Nebentext zum Talmud wird die Frage diskutiert, ob man nach einem Einsturz eines Gebäudes in dessen Ruinen nach Überlebenden graben und sich somit in Lebensgefahr begeben soll. Die Antwort lautet: Wenn wir nicht wissen, ob sich unter den Trümmern eine Jude befindet, dann graben wir, wenn wir wissen, dass sich unter den Trümmern kein Jude befindet, dann graben wir nicht. (...)

Das Problem liegt in der Gegenwart. Denn im modernen Israel haben national-religiöse Parteien und orthodoxe Rabbiner solches Denken unbefragt übernommen. Und können in ihrem Starrsinn auch noch darauf setzen, dass sie auf der Seite des göttlichen Gesetzes stehen - dank Nehemia verpflichtete sich die jüdische Elite 444 vor Christus vertraglich erneut, nur dem göttlichen Gesetz zu folgen. (...)

Doch welche Konsequenzen hat dieser Vertrag? Rabbi Akiba, die wichtigste rabbinische Gestalt des Talmuds, erklärte, dass die Rabbiner das Wort Gottes fortsetzen. Er meinte damit neben den fünf Büchern Moses die so genannte mündliche Überlieferung, die später im Talmud schriftlich niedergelegt wurde. Daraus folgt, dass die Rabbiner mit ihren Entscheidungen nicht ein eigenes, menschliches und also fehlbares Urteil fällen, sondern stets die Worte Gottes wiedergeben und somit zu "Boten der Thora" werden.

Für die Rechtsprechung des heutigen Israel ist diese Überzeugung fatal. Als der Oberste Gerichtshof vor einigen Jahren Arie Deri, damals Innenminister und Vorsitzender der sefardisch-orthodoxen Schas-Partei, zu drei Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung verurteilte, besaß der Staat zwar die Machtmittel, Deri ins Gefängnis zu bringen - doch dessen religiöse Gefolgschaft akzeptierte das Urteil keineswegs. Rabbi Ovadia Joseph, religiöser Mentor der Schas und einer der wichtigsten Rabbiner Israels, nannte Deri "Daatid Daath Thora", einen Verkünder der Thora. Auf diese Weise wird die Autorität der weltlichen Judikative langfristig untergraben. (...)

Rabbi Akiba (…) der in der jüdischen Tradition fast so verehrt wird wie Moses, [sagte]: "Es gibt nur eine Form jüdischer Existenz und das ist die des Thorastudiums. Nicht eine Sekunde darf ich das Studium unterbrechen!"

Rabbi Akiba wurde schließlich von den Römern für seine geistigen und politischen Überzeugungen (er hatte den Bar Kochba-Aufstand untersützt) "belohnt": Sie verbrannten ihn. Und nach der Legende war er glücklich, zum Märtyrer zu werden.

Die Bewunderung für sein Märtyrertum gehört zur Erziehung der "Bnei Akiba", einer national-religiösen Jugendorganisation, deren ideologische Folgen in der Siedlerbewegung zu finden sind. (...) Die Notwendigkeiten, die eine andere Zeit und andere Umstände erfordern, werden von jenen in Israel, die sich diesem falsch verstandenen Ideal verschrieben haben, schlicht abgelehnt. denn die Wahrheit liegt in den heiligen Texten, also in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart und schon gar nicht in der Zukunft. (...)

Doch nun hat das jüdische Volk wieder einen Staat. Also fordern Moshe Shneer und andere, Israel sollte sich eine post-rabbinistische Kultur geben, die alle undemokratischen Tendenzen verbannt: das Märtyrertum, die Abkehr vom Physischen zugunsten des Metaphysischen und schließlich auch die Tradition des politischen Mordes. (...) Der politische Mord gehört inzwischen als Option zur israelischen Realität. (...) Und [Ariel Scharons] Regierung greift selbst zu immer drastischeren Mitteln, wie die geplante Ausweisung oder gar Ermordung Arafats. (...)

Der Antagonismus zwischen einem demokratischen Staat und einer "absoluten Wahrheit" ist zum beinahe unlösbaren Problem Israels geworden. Will der Zionismus überleben, muss er sich von den ewigen Wahrheiten des Judentums befreien.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 18.9.2003, Seite 13