Zu Hause und auf der Straße, in der Bank und im Supermarkt - Amerika überwacht seine Bürger. Im Kampf gegen den Terror laufen Bilder und Daten im Department for Homeland Security zusammen. Der Widerstand gegen diese Art regierungsamtlicher Vorsorge wächst.
Von Thomas Fischermann
Sollen sie ihn doch einen Besessenen nennen. Sollen sie ruhig sagen, er leide an Verfolgungswahn. Tausende hat er schon rings um den Washington Square in New York geführt, jedes Wochenende, seit mehr als sieben Jahren, und im Lauf der Zeit hat er sich daran gewöhnt, dass ihn die Leute skeptisch anschauen, ihn, den schmalen 45-Jährigen in seinem seriösen dunklen Anzug, der als Beruf "Korrekturleser" angibt. Weitere Fragen zu seinem bürgerlichen Leben wimmelt er mürrisch ab, das sei nicht von Interesse, interessant sei der Grund für seine Führungen. Bill Brown will zeigen, dass in seiner Stadt die Späher und Lauscher überall versteckt sind, in den Baumwipfeln, auf Simsen, an Laternenmasten. Und immer gehen Bill Browns Stadtführungen gleich aus. Am Ende guckt keiner mehr skeptisch. Am Ende wissen alle, dass er Recht hat. Unpatriotisch ist, wer sich nicht durchleuchten lassen will.

Für Bill Brown fing die Sache 1996 an. Der damalige New Yorker Bürgermeister Rudi Giuliani, ein eiserner Kämpfer für Recht und Ordnung, hatte gerade polizeiliche Überwachungskameras an einigen öffentlichen Plätzen aufhängen lassen. Brown und ein paar Freunden passte das nicht, sie hatten eine Abneigung gegen staatliche Überwachung aller Art. Sie organisierten Theater vor den Kameras, stumme Aufführungen, halb aus Spott und halb aus Protest, für die unbekannten Zuschauer hinter ihren Überwachungsbildschirmen. Als sie daran den Spaß verloren, begann Brown seine Stadtführungen.
Heute sind Studenten einer Medienklasse der New York University dran. Gleich über dem Eingang ihres Universitätsgebäudes, an der Westseite, zeigt Brown, hängen Kameras der ersten Generation. Klobige Röhren, die noch wie richtige Kameras aussehen. "Aber die kann man leicht austricksen", sagt Brown, und deswegen haben sie vor ein paar Jahren zusätzlich eine Kamera der zweiten Generation danebengehängt. Sie fällt kaum auf, sieht eher aus wie eine Lampe. Sie kann um 360 Grad rotieren und "in einer Zeitung vier Straßen weiter mitlesen", sagt Brown. Noch spannender die dritte Generation, die ihre Bilder ohne Kabel drahtlos in ferne Zentralen funkt, die im Dunkeln sehen kann, Gesichter erkennt und bei Bewegungen automatisch mitzoomt. Doch davon erzählt er nur, im Washington Square hat er solche noch nicht gefunden.
Bill Brown zeigt den Studenten auch, wo die Überwacher sitzen, zwei Drogenfahnder der örtlich zuständigen sechsten Division, die in einem Bus an der Südseite des Washington Square die Bilder der Kameras verfolgen. Der Bus steht hier Tag und Nacht geparkt, die blaue Farbe blättert an einigen Stellen ab, aus dem Dach steigen Kabelstränge in Baumwipfel und auf Laternenmasten hinauf. Früher haben sich die Männer in dem Auto von den Stadtführungen noch provozieren lassen, da sind sie wütend aus dem Bus gestürmt. Ein junger Beamter hat einmal geprahlt, dass er an der Kasse des nahen Theaters "jedes Geldstück mitzählen" könne. "Und wer weiß, wohin der noch so alles schaut, meine Damen", sagt Bill Brown und grinst.
Die komplette Zahl der privaten und polizeilichen Kameras in New York kennt Bill Brown nicht - viele tausend sind es. Doch er schätzt, dass sie sich seit dem 11. September 2001 mindestens verdoppelt hat. Alle paar Wochen aktualisiert er seine detaillierte Straßenkarte, die zumindest alle von ihm erspähten Kameras verzeichnet. "Seit den Terroranschlägen werden Kameras schon gleich in die Architektur neuer Gebäude eingeplant, so sind sie viel schwerer zu entdecken. Nur gegen den Terror", sagt Bill Brown, "nützt das ganze Spähen nichts. Hier am Washington Square haben sie bestimmt noch keinen Terroristen gefangen."
Aniak, Alaska. "Meine Frau", sagt Mark, "liebt es hier." Die Männer im Diamond Willow Café lachen grimmig in sich hinein. Das war offenbar ein Witz, doch viel Näheres ist Mark dazu nicht zu entlocken. Es ist später Vormittag im Diamond Willow Café, der Wirt serviert Kaffee und Spiegeleier. Die Männer von Aniak - derbe, wohlgenährte Gestalten, einige in Fischerstiefeln - sitzen an der Bar und starren vor sich hin. Ab und zu fällt ein Wort über die vielen Lachse in diesem Jahr oder den Beginn der Beerensaison. Das Leben in Aniak, sagt Mark, als er ein wenig auftaut, habe sich doch als härter herausgestellt als ursprünglich gedacht. Vor sechs Jahren kam er aus Kalifornien in das kleine Nest im Westen Alaskas, um sein Leben als Rentner zu beginnen. In den 600-Seelen-Ort, wo im Sommer die Sonne nur kurz um Mitternacht untergeht und im Winter fast nie aufgeht. Zweimal in der Woche spielen die Einwohner Bingo, und ansonsten hat jede Hütte ihre Satellitenschüssel für den Fernsehempfang - nicht gen Himmel gerichtet, sondern fast parallel zum Boden, um knapp über der Krümmung des Horizonts noch das Signal der fernen Satelliten aufzufangen. "Ich gehe nicht zurück", sagt Mark, "es gibt zu viele Leute in der Stadt."
Die Tundra- und Steppenlandschaften im Westen Alaskas mögen atemberaubend sein. Doch wer nicht nur für ein paar Sommerwochen zum Fischen oder Wandern hierher fliegt, sondern länger bleibt, für den wird das Leben schnell karg. Aniak ist eine ungeordnete Sammlung von Holzhäusern, zwischen denen Fässer und Benzinkanister und Baumaschinen herumstehen. Die Landepiste des Flughafens ist hier die Lebensader. Straßen gibt es nicht, Flussfahrten sind Tagestouren, und im Winter kommt man mit dem Schlitten oder Snowbob gerade mal in den benachbarten Ort Bethel, wo sie sogar ein paar Ärzte haben. Zwischendurch gibt es immer wieder Zeiten, in denen man völlig festsitzt und vor lauter Schnee auch kein Flugzeug starten kann. "Den Leuten hier ist ihre Freiheit viele, viele Opfer wert", sagt Paul, der Psychologe des Dorfes. Leute wie er werden von der Regierung Alaskas königlich bezahlt, um für ein paar Jahre an entlegene Orte wie Aniak zu ziehen. Die Dunkelheit, die Einsamkeit, der Lagerkoller ist hier Grund vieler Depressionen und geschiedener Ehen.
Orte wie Aniak spielen eine große Rolle in der Folklore der USA, im Traum vom Einsiedlerleben an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Leute wie Mark, die alles hinter sich lassen wollen, zieht es seit je in die entlegenen Winkel von Alaska. Eine Gegend, in der niemand Auskunft geben muss, wenn er nicht will. Weshalb sich auch flüchtige Kriminelle, die in anderen Bundesstaaten gesucht werden, oft für dieses Exil am Rand des Eises entscheiden. Oder flüchtige Familienväter, die sich vor den Unterhaltszahlungen drücken. Sie leben in Einsiedlerhütten auf dem Berg oder in einem der winzigen Dörfchen mit 20, 30, 50 Einwohnern, wie es sie hier ringsherum gibt. In Alaska, heißt es, kann ein Mann sich noch ein Haus zusammenzimmern, ein Gewehr kaufen, und man wird ihn in Ruhe lassen.
Damals, nach den Terroranschlägen vom 11. September, dauerte es nur ein paar Tage, bis die Welt den Drahtziehern in die Augen schauen konnte. Fotos und Videomitschnitte der Attentäter machten die Runde, von Mohammed Atta zum Beispiel, wie er in Florida Geld aus einem Bankautomaten zog. Die Hijacker waren am Check-in-Schalter in Portland zu sehen, beim Bezahlen an einer Tankstelle, beim Betreten eines Motels. Alles aufgezeichnet von Überwachungskameras. Binnen weniger Stunden und Tage hatten Agenten der Bundespolizei FBI umfangreiche Dossiers über die Attentäter zusammengestellt. Listen ihrer Geldüberweisungen, ihrer Flugreisen in vergangenen Jahren, Telefonanrufe, E-Mails, Einkäufe. Sogar ihrer Nachrichten vom 10. September 2001: "Das Spiel beginnt", und: "Morgen ist die Stunde null." Viel davon ließ sich einfach mit Hilfe von Mausklicks beschaffen, ohne dass ein Agent vom Schreibtisch aufstehen musste. Nur leider, all die Erkenntnisse kamen zu spät.
Für die Bush-Administration, allen voran der raubeinige Generalstaatsanwalt John Ashcroft, war die Antwort klar: Die Gesetzeshüter hatten immer noch zu wenige Befugnisse. 45 Tage nach den Anschlägen hatte Ashcroft im Kongress eine Reihe neuer Gesetze durchgepeitscht, das wichtigste der so genannte Patriot Act. Er enthielt eine lange Wunschliste der Geheimdienste und Polizeitbehörden, von zusätzlichen Abhörrechten bis hin zu unangemeldeten Hausdurchsuchungen, vom einfacheren Abfangen privater E-Mail-Kommunikation bis zur Nutzung privater, kommerzieller Datenbanken für staatliche Zwecke. Wünsche, die der Kongress in den Jahren zuvor immer wieder abgelehnt hatte. Doch diesmal stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit zu. Die Zeiten hatten sich geändert. "Wer friedliebende Leute mit dem Gespenst verlorener Freiheiten erschrecken will, dem sage ich: Ihre Taktiken helfen nur den Terroristen", erklärte Ashcroft.
Ein weiteres Jahr später entstand das Department of Homeland Security, das sich als Ministerium für Heimatsicherheit übersetzen lässt und das die Aufgaben etlicher verstreuter Sicherheitsbehörden unter einem Dach vereint. Der kürzlich eröffnete Anbau des Ministeriums in Washington, das "Operationszentrum", könnte einem Albtraum des Überwachungsskeptikers Bill Brown entnommen sein. Als der zuständige Minister Tom Ridge und Vizepräsident Richard Cheney Anfang Juli zu einem Fototermin luden, um die Einsatzzentrale der Weltöffentlichkeit vorzustellen, standen sie vor flackernden Computerbildschirmen und Wänden voller Monitore mit Live-Übertragungen aus allen Winkeln der USA. Karten, Bilder von Überwachungskameras, Satellitenübertragungen, Daten von "mehr als 35 Agenturen". Darunter der CIA und die Post, die Küstenwache und die Drogenfahndung, das Transportministerium und viele Geheimdienst- und Polizeibehörden. Das Wirtschaftsministerium, dessen FinCen-Netzwerk schon seit Jahren internationale Finanzströme auf der Suche nach Geldwäsche durchforstet. Das Gesundheitsministerium, das eine elektronische Liste aller gemeldeten Arbeitskräfte in den USA führt. Die Einreisebehörde, die heutzutage Ausländern Fingerabdrücke abnimmt. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche laufen deren Spähergebnisse durch Datenleitungen quer durch Amerika, bis nach Washington. "In Sachen Datenschutz sind die USA der Wilde Westen", sagt Barry Steinhardt, ein Datenschutzexperte der Bürgerrechtsgruppe American Civil Liberties Union.
Auch in Aniak, in Alaska, hat sich seitdem etwas geändert. Wer von einem Dörfchen zum nächsten will oder gar in die nächstgelegene Großstadt Anchorage, der musste schon immer fliegen. In Aniak hat sogar der Bürgermeister eine kleine Fluggesellschaft, der Hausarzt arbeitet nebenbei als Pilot und fliegender Briefträger, kleine Büros von Buschpiloten säumen die kurze Landebahn. Doch an den Eincheck-Schaltern, meist kleine Tische in einer Holzhütte, hängt neuerdings ein Schild: "Alle Passagiere haben ihre Ausweise vorzuzeigen". Auch die drei Eskimo-Schulmädchen aus der nahen Siedlung Crickle Creek, die sich gerade im zwei Flugstunden entfernten Fairbanks den Film Spiderman II angeschaut haben; auch Elena Phillips, die einmal im Monat ihre Indianersiedlung verlässt, ins Flugzeug steigt und im überteuerten Supermarkt von Aniak einkauft. In Alaska hat das vielen Leuten nicht gefallen.
"Hier in Alaska will man in Ruhe gelassen werden", sagt Jim Harrison. "Und jetzt sollen alle Leute bei jedem Flug ihre Daten angeben und danach in eine zentrale Datenbank wandern? Das ist nichts als ein Schleppnetz der Polizei." Harrison ist Pilot und außerdem Rechtsanwalt. Das Thema liege ihm "irgendwie sehr am Herzen", sagt er. Harrison gehört zu einer Schule libertärer Rechtsdeuter, die Ausweiskontrollen an Flughäfen für schlichtweg verfassungswidrig halten: Schließlich räumt die Verfassung jedem Amerikaner das Recht ein, ohne interne Passkontrollen in seinem Land herumzureisen. "Und in Alaska", sagt er, "sind die Leute zum Überleben darauf angewiesen, Flugzeuge zu benutzen."
Harrison erhob Klage. Zunächst, gemeinsam mit zwei Reisebürobetreibern und zwei örtlichen Bürgerrechtlern, gegen ein neu geplantes Luftfahrt-Überwachungssystem namens Capps II, das Passagierdaten sammeln, mit zentralen Datenbanken abgleichen und dann verdächtigen Reisenden den Einstieg verweigern sollte. Das Programm ist nun vorläufig eingestellt, angeblich aus "technischen Gründen", doch Harrison will auf der Hut bleiben. "Wir warten jetzt auf die Einführung im zweiten Anlauf", sagt er. Schließlich sind Ausweise weiterhin vorzuzeigen, auch Daten werden an Flughäfen weiter gesammelt, und das Heimatsicherheitsministerium testet in Los Angeles bereits ein Nachfolgesystem. Darin können Vielflieger eine ausführliche Sicherheitsüberprüfung beantragen - und bekommen dafür im Gegenzug einen Ausweis, der biometrische Informationen enthält und sie schneller durch die Sicherheitskontrollen flitzen lässt. "Das ist eine ›Ich bin kein Terrorist‹-Karte", spottet Bill Scannell, ein Bürgerrechts-Aktivist aus Washington. "Tim McVeigh, der Oklahoma-City-Bomber, hatte als ehemaliger Soldat eine weit reichende militärische Sicherheits-Clearance. Er wäre für diese Karte höchst qualifiziert gewesen."
Michelle Green hätte sich freilich eine solche Karte gewünscht, als sie im Januar einen Dienstflug von ihrer Heimatstadt Fairbanks in Alaska nach Seattle antrat. Die alleinerziehende Mutter arbeitet seit 16 Jahren bei der amerikanischen Luftwaffe und ist dort zuständig für logistische Aufgaben in aller Welt. Was jahrelang Routine war, dauerte plötzlich ungewöhnlich lange: Das Bodenpersonal überprüfte ihre Papiere wieder und wieder, telefonierte mit Sicherheitsexperten in Chicago, nach einer 45-minütigen Verspätung durfte Green an Bord. Auf dem Rückflug eskalierte die Situation dann. Am Check-in-Schalter bekam sie die lapidare Auskunft, sie stehe auf einer No-Fly-Liste und dürfe von Fluggesellschaften nicht befördert werden. "Die wurden wirklich sehr unhöflich. Ich sagte, ich bin Soldatin, und ich muss zurück zu meinen Kindern in Alaska. Die Antwort war: Wir können Sie nicht mitnehmen." Ein Mitglied des Bodenpersonals habe ihr sogar gesagt, das sei doch ein "kleiner Preis für ein wenig mehr Sicherheit nach dem 11. September".
Irgendwo auf der Welt muss es eine Namens-Doppelgängerin von Michelle Green geben, die im Zusammenhang mit Terrorermittlungen auf die No-Fly-Liste geraten ist. Doch genau weiß Michelle Green das bis heute nicht. Das Problem mit der No-Fly-Liste ist nämlich, dass sie streng geheim ist, Teil der amerikanischen Terrorgesetzgebung. Es gibt keinen Amtsweg, keine Beschwerdestelle, kein Einspruchverfahren. Green fliegt seither mit ihrer Geburtsurkunde "und einem Stapel von Papieren" um die Welt und richtet es so ein, dass sie bereits Stunden vor dem Abflug am Airport ist. Verzögerungen erlebt sie jedes Mal. "Bewegen Sie sich nicht!", hat sie jemand vom Bodenpersonal kürzlich angeherrscht. "Kein unschuldiger Amerikaner sollte sich solchen Erniedrigungen unterziehen müssen", empört sich Green.
Doch offenbar ist es gar nicht so schwer, auf die No-Fly-Liste zu kommen. Die New Yorker Bürgerrechtsorganisation ACLU hat eine lange Liste von Fällen zusammengestellt: katholische Nonnen aus Wisconsin, die an einer Friedensdemonstration teilgenommen hatten. Jan Adams und Rebecca Gordon aus Kalifornien, die ein pazifistisches Magazin namens War Times herausgeben. Ein Anwalt aus Belleville in Illinois, eine 22-jährige Studentin am Middlebury College in Vermont und so weiter. Für Michelle Green hat die No-Fly-Liste freilich einen besonders bitteren Nachgeschmack: Eine Flugsperre ist hier wie ein Gefängnisurteil.
Nach dem Schock der Terroranschläge hatte es ein paar Monate und Jahre gedauert. Doch inzwischen verschafft sich eine breite Front von Aktivisten, Autoren und investigativen Journalisten Gehör, um gegen einen Überwachungsstaat amerikanischer Machart zu protestieren. "Ich bin immer noch frei", steht zum Beispiel auf einem Sticker, den der libertäre Multimillionär John Gilmore aus San Francisco verbreitet. Neben den Schriftzug hat er ein Bild von Osama bin Laden montiert. "Wie steht es um Sie?"
Gilmore gibt nach eigenen Angaben rund 200000 Dollar im Jahr aus, bezahlt drei Anwälte und einen Pressesprecher im Kampf gegen die Überwachung und Einschränkung seiner Freiheiten. Gerade läuft seine neueste Klage gegen Generalstaatsanwalt John Ashcroft an, weil der ihn nicht ohne Ausweis innerhalb der USA fliegen lassen will. Im vergangenen Sommer ließ British Airways ein Flugzeug umdrehen und John Gilmore von Bord befördern, weil er einen Button mit der Aufschrift "Als Terrorist verdächtigt" trug und sich auch weigerte, diesen abzunehmen.
Doch nicht nur fundamentalistisch geneigte Exzentriker haben sich dem Kampf gegen den Großen Bruder verschrieben. Bücher mit Titeln wie Lost Liberties ("Verlorene Freiheiten"), The Electronic Eye ("Das elektronische Auge"), The Soft Cage - Surveillance in America from Slave Passes to the War on Terror ("Von Sklavenausweisen zum Krieg gegen den Terror") und The War on Our Freedom ("Der Krieg gegen unsere Freiheiten") füllen heute Regale in amerikanischen Buchhandlungen. Bürgerrechtsorganisationen veröffentlichen Studien mit flammenden Titeln wie Freedom under Fire ("Freiheit unter Feuer") oder Bigger Monster, Weaker Chains ("Wachsendes Monster, schwächere Ketten"). Eine Reihe von Sicherheitsexperten ist nämlich davon überzeugt, dass der Großteil der amerikanischen "Heimatverteidigung" - einschließlich Überwachung - teures Theater sei. "Wir können tausendfach so viele Leben retten, wenn wir mit dem gleichen Geld die öffentliche Gesundheitsvorsorge förderten", rechnet Marvin Minsky vor, ein prominenter Mathematiker am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Viele Schutzmaßnahmen hätten "vor allem einen psychologischen Nutzen", urteilt Gregg Easterbrock von der Brookings Institution in Washington. "Eine riesige Geldverschwendung" geißelt der Washingtoner Sicherheitsexperte Bruce Schneier: "Politiker bevorzugen Sicherheitsmaßnahmen, die so aussehen, als werde etwas getan. FBI-Agenten in Arabisch auszubilden wäre eine gute Idee, aber davon sieht man nichts. Ausländern Fingerabdrücke abzunehmen ist dagegen sichtbar, auch wenn es kaum etwas nützt."
Andere Kritiker sorgen sich um die klassischen Probleme des Datenschutzes: Es geht ihnen ganz grundsätzlich um die Grenzen der Staatsgewalt, um Beschränkungen des Horchens und Spähens. Oder sie fürchten, dass mit der Menge der gesammelten Daten auch die Zahl der Fälle steigt, in denen etwas schief geht und beobachtete Amerikaner sich in bürokratischen Albträumen wiederfinden - so wie Michelle Green, das Opfer der No-Fly-Liste. Der kanadische Soziologe David Lyon kritisiert Überwachung als eine Art Zwangs- und Normierungsmittel. Überwachungssysteme legten ein Standardverhalten fest, und alle Abweichungen seien verdächtig und machten Abweichlern das Leben schwer. Ob man nun an einer Anti-Bush-Demonstration teilgenommen habe, sich in Friedensgruppen engagiere oder schlicht zu einer arabischen oder muslimischen Minderheit gehöre.
Die größte Angst geht freilich vor dem um, was Anthony Romery, Chef der Bürgerrechtsbewegung ACLU, chilling effects genannt hat: dass die Angst vor einem panoptischen Überwachungsstaat zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung führt. Es mag ein simpler Versprecher gewesen sein oder sogar ein Freudscher Fehler, als der ehemalige Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, erklärte, Amerikaner sollten künftig "aufpassen, was sie sagen". Doch die Bürgerrechtler von ACLU und anderen Organisationen wollen Hunderte Fälle von Bespitzelung und Einschüchterung durch die gestärkten Strafverfolgungsbehörden registriert haben. Friedliche, angemeldete Demonstranten wurden verhört, kritische Professoren und Studenten. Ein Ladenbesitzer in Jersey City verlor seine Lizenz, Lottotickets zu verkaufen, weil Kunden der Lotteriekommission von seinen "antiamerikanischen" Tiraden berichtet hatten. Der Aktivist Seth Goldberg, der in seinem Koffer Anti-Kriegs-Schilder von Seattle nach San Diego beförderte, fand nach der Ankunft den schriftlichen Kommentar eines Gepäckkontrolleurs vor: "Wir schätzen Ihre antiamerikanische Einstellung nicht!"
Wie hatte Orwell geschrieben? "Es war gefährlich, an öffentlichen Plätzen seine Gedanken wandern zu lassen", sinnierte sein Protagonist Winston Smith in 1984, "Kleinigkeiten konnten verraten. Ein nervöser Tick, ein unbewusster ängstlicher Blick - alles Anhaltspunkte dafür, man habe etwas zu verbergen."
"Wenige Leute haben begriffen, dass eine Überwachung à la Orwells Big Brother längst nicht mehr auf die Welt der Bücher und Filme beschränkt ist", sagt Barry Steinhardt, der Datenschutzexperte der Bürgerrechtsgruppe American Civil Liberties Union. Überwachungsgeräte wie Kameras und Mikrofone sind über die Jahre so preiswert geworden, dass 66 Prozent der Staatspolizeibehörden sie routinemäßig einsetzen. Doch einen Unterschied gibt es zu Orwells Ozeania: Die Flut preiswerter Überwachungstechnik hat vor allem im Privatsektor fruchtbare Anwendungen gefunden. Die Betreiber von Warenhäusern, Schulen, Sportstätten und Sozialwohnungen setzen Überwachungskameras heute routinemäßig ein. Hat sich Orwells Großer Bruder in eine Flut kleiner, privatwirtschaftlicher Brüder verwandelt? "Ein wesentlicher Faktor, der den Trend zur Überwachung vorantreibt, ist die wirtschaftliche Nutzung", sagt Barry Steinhardt. Braintree, Massachusetts. Im Stop & Shop-Supermarkt kann man für 2,50 Dollar eine Familientube Zahnpasta der Marke Crest Whitening kaufen. Man muss aber etwas dafür tun. Normalerweise kostet die Tube 3,29 Dollar, fast ein Drittel mehr, aber alle Inhaber einer Kundenkarte können das Sonderangebot nutzen. Der Weg führt also zum Stop & Shop Card Sign Up Center, wo eine lustlose Angestellte ein Formular herüberschiebt. Name. Wohnort. Telefon. "Ich brauche dann noch einen amtlichen Lichtbildausweis, aus dem Ihre Adresse hervorgeht", sagt sie.
Für Katherine Albrecht sind solche Geschäftspraktiken das Böse schlechthin. "Ich hasse diese Karten", sagt die junge Frau, die im Norden von Boston lebt und gerade eine Doktorarbeit in "Verbrauchererziehung" am Massachusetts Institute of Technology schreibt. In den vergangenen Jahren hat sie sich als Aktivistin gegen "Einzelhandels-Überwachung" einen Namen gemacht, wie sie es nennt. "Die meisten Leute haben keine Ahnung, in welchem Umfang sie beim Einkaufen ausgeschnüffelt werden", sagt sie. Sie führt es gern vor. Besonders gut geht das im Stop & Shop, der größten Supermarktkette in Neuengland, die am Rand von Braintree eine Art Modell-Laden mit ihren neuesten Einkaufstechnologien betreibt.
Man merkt das gleich. "Willkommen" zeigt der kleine Bildschirm am Rand des Einkaufswagens an. Er erwartet jetzt, dass man seine Kundenkarte durch das Lesegerät zieht. Ein Foto des Ladenmanagers erscheint und wünscht viel Spaß, und das tun auch die Poster, die von der Decke hängen. "Sparen Sie Zeit! Sparen Sie Geld! Haben Sie Spaß!" Spaßmacher vom Dienst ist hier der so genannte shopping buddy, der kleine Bildschirm am Einkaufswagen. Stop & Shop will seinen Kunden mit Computerhilfe zur Seite stehen - und nebenbei viel über seine Kundschaft in Erfahrung bringen.
Wo man hier Saft finden kann? Man tippt "Saft" in den den shopping buddy, der zeigt eine Karte des Ladens an, und man fährt hin. Entlang der Regale erfährt man auf dem Bildschirm von Sonderangeboten, denn Kameras und Infrarotsensoren ermitteln ständig den Aufenthaltsort. Der eingebaute Scanner weiß jederzeit, welche Produkte sich im Wagen befinden. "Früher gab es Sonderangebote einfach so", sagt Katherine Albrecht, "welchen zusätzlichen Komfort soll das bieten?" Vom Ladenmanager Vincent Sciaraffa will sie lieber wissen, wofür die ganzen Daten gebraucht werden. Warum muss man seinen Ausweis zeigen, seinen Wohnort preisgeben, bevor man billig shoppen darf? "Das System erfordert es!", sagt Sciaraffa, weiß sichtlich keine bessere Antwort und deutet auf die Infrarotsensoren in der Decke. Auf das System. "In der Welt der Computer", sagt er, "sind solche Daten viel, viel wert."
Den Eindruck hatte Albrecht auch, als sie 1999 ihre Organisation Caspian (Customers Against Supermarket Privacy Invasion & Numbering) gründete und seither mit Fernsehauftritten wie auf Branchenkonferenzen Krawall schlägt. "Solche Karten erlauben es den Händlern, nie dagewesene Datenmengen über die Einkäufe und Gewohnheiten ihrer Kunden zu sammeln", sagt sie. Bei Stop & Shop zum Beispiel werde längst auch ein System namens Smart Mouth entwickelt. Es könne Millionen von Kundendaten auf ihre Ernährungsgewohnheiten hin auswerten - ob man zum Beispiel zu viel Fett, Zucker oder Salz zu sich nehme. Bei einer Branchenkonferenz will Albrecht erfahren haben, dass das Management solche Daten schon einmal mit Krankenversicherern austauschen wollte. Als ein kalifornischer Kunde namens Robert Rivera vor einiger Zeit im Vons-Supermarkt auf einer Jogurtlache ausrutschte, wollte er den Markt wegen seiner gebrochenen Kniescheibe verklagen. Nach Auskunft seines Anwalts konterte der Supermarkt: Die Kaufgeschichte von Herrn Rivera deute darauf hin, dass der Mann Alkoholiker sei. Das werde man vor Gericht verwenden.
Längst sind es nicht mehr nur die Einkäufe selbst, die in den Datenbanken landen. Die Systeme der Firma Envirosell zum Beispiel erlauben es Supermarktbesitzern, jeden Kunden mit automatischen Kameras bei seiner ganzen Einkaufstour zu begleiten - und sogar auf sein Gesicht zu zoomen, wenn er irgendwo länger verweilt. Andere Firmen von IBM bis Brickstone, ShopperTrak bis KartSaver bieten vergleichbare Technologien an. Ein Unternehmen namens AccuData aus Florida verspricht Supermarkt-Managern, ihre Daten mit zusätzlichen Informationen aus anderen Datenbanken anzureichern - und ein noch kompletteres Bild ihrer Kundschaft zu erstellen.
Im Einzelnen mag es trivial erscheinen, was sich in solchen privaten Datenbanken findet: Pizzalieferanten und Taxigesellschaften lesen häufig gleich von ihrem Telefon die Nummer des Anrufers ab, kennen die passenden Namen ihrer Kunden samt Adressen, auch wenn die aus Datenschutzgründen in keinem Telefonbuch eingetragen sind. Mobiltelefonbetreiber können die Aufenthaltsorte ihrer Nutzer nachvollziehen - und einige haben begonnen, ihnen gezielte Nachrichten, Informationen und Werbung bereitzustellen. Web-Seiten halten fest, was Konsumenten kaufen oder sich nur anschauen. Banken und Finanzinstitute sammeln (und verkaufen) Details über die finanziellen Verhältnisse ihrer Kunden.
Den größten Wachstumsmarkt bei Internet-Suchmaschinen, erklärt eine Mitarbeiterin bei Yahoo!, "sehen wir in der Personalisierung der Suchergebnisse". Wer freilich mehrere solcher Datenbanken über die gleiche Person zurate zieht, kann erschreckend komplette Dossiers über sie erhalten: über Lebensgewohnheiten, Interessen und Vorlieben, Lebensstile, persönliche Probleme und sexuelle Orientierungen, politische Neigungen, finanzielle Verhältnisse, Familienstand und so weiter. How to Get Anything on Anybody, lautete in den USA eine Bibel für Privatdetektive, deren Autor Lee Lapin Schritt für Schritt durch die Nutzung solcher Quellen führt. Etliche Agenturen bieten solche Dienste inzwischen im Internet an: Man gibt ihnen einen Namen, eine Telefonnummer oder ein Autokennzeichen, und zurück kommt eine Lebensgeschichte.
Datensammler der Privatwirtschaft sind auch einem anderen, alten Problem zu Leibe gerückt: "Das Problem ist nicht, die Daten zu sammeln", erläutert der Sicherheitsexperte Bruce Schneier von der kalifornischen Sicherheitsfirma Counterpane, in den USA ein viel gefragter Kommentator zu solchen Fragen. "Das Problem ist zu entscheiden, welche Daten das Analysieren und Interpretieren wert sind."
In Supermärkten, beim Durchforsten von Finanztransaktionen in großen Banken, beim Auswerten von Mausklicks und Kreditkartentransaktionen im Internet gelingt es einigen Unternehmen seit einigen Jahren, erfolgreich Nadeln im elektronischen Heuhaufen zu finden. Kreditkartenfirmen etwa nutzen solche "Data Mining"-Techniken, um verdächtige Abbuchungen zu entdecken und lieber noch mal beim Besitzer einer Kreditkarte nachzufragen. Die kalifornische Firma Tacit hat ein System entwickelt, das alle E-Mails eines Konzerns durchforsten kann und dann mit Hilfe künstlicher Intelligenz Informationen über die Expertise und die Beziehungsnetzwerke von Mitarbeitern ermittelt. Mehrere Pharmafirmen setzen es inzwischen ein, auch der CIA tut es. Schnell kaufte sich bei Tacit ein Kapitalgeber namens In-Q-Tel ein, eine Art Investitionsfonds des CIA zur Förderung vielversprechender Unternehmen, der einer ganzen Schar solcher Data-Mining-Firmen unter die Arme griff.
Beim CIA herrscht großer Bedarf an Informationen über diese verborgenen Zusammenhänge: Wer weiß, vielleicht können Mieterstatus, Einkäufe, Abonnements, Essensgewohnheiten, Reiselust und eine Liste aller Telefonanrufe irgendwann doch offen legen, wer ein Terrorist ist und wer nicht?
Eine der wichtigsten Veränderungen im Patriot-Gesetz bestand für den CIA und andere Agenturen darin, dass Schranken zwischen vielen bislang separat geführten Datenbanken fielen. Jetzt dürfen etwa die Bundespolizei und die Einwanderungsbehörde viele Informationen austauschen, und vor allem wurde der Zugriff amtlicher Stellen auf private Datenbanken erheblich erleichtert. Datenbanken von Supermärkten zum Beispiel dürfen ganz ohne Durchsuchungsbefehl ausgewertet werden, Marketingexperten und Datensammler werden gewollt oder ungewollt zu Instrumenten der staatlichen Überwachung. In einigen Fällen ist es Firmen nun untersagt, ihre Kunden zu informieren, wenn sich Gesetzeshüter nach ihnen erkundigen. Erst vor wenigen Wochen urteilte ein Bundesgericht, dass das FBI ohne Durchsuchungsbefehl bestimmte E-Mail-Daten bei Internet-Firmen einsammeln könne. Die amerikanische Wirtschaft hat offenbar keine Bedenken: Im Dezember 2002 ergab eine Umfrage bei großen amerikanischen Unternehmen, dass 57 Prozent auch "ohne Durchsuchungsbefehl" Kundendaten an Strafverfolgungsbehörden weitergeben würden - wenn es denn dem Kampf gegen den Terror nützte.
Das bisher ehrgeizigste Projekt zum Auswerten privater Datenbanken wurde im vergangenen Jahr nach Protesten im Kongress wieder auf Eis gelegt: Das "Total Information Awareness"-Programm des Pentagon erschien den Washingtoner Abgeordneten am Ende doch zu unheimlich. Eine Vielzahl von Data-Mining-Techniken sollte angewendet werden, um staatliche und private Informationsquellen zu einer "virtuellen zentralen gewaltigen Datenbank" zusammenzufassen. Der bedrohlich klingende Name half dem Projekt wohl genauso wenig wie das vorgesehene Logo: ein allsehendes Auge auf einer Pyramide mit dem Motto "Wissen ist Macht".
Doch inzwischen ist Total Information Awareness als eine Sammlung von Nachfolgeprogrammen wieder auferstanden. Eines davon heißt The Matrix - kurz für Multistate Anti-Terrorism Information Exchange. Es kann aus einer Fülle privater und staatlicher Datenbanken "Dossiers" über verdächtige Einzelpersonen anfertigen - und mit Hilfe künstlicher Intelligenz automatisch nach "Anomalien" suchen, die auf terroristische oder kriminelle Tätigkeiten deuten.
Toronto,Munk-Zentrum
So sieht es also aus, wenn eine Gruppe Hacker zusammenhockt und in fremde Computersysteme eindringt. Im Keller des Munk Centre for International Studies in Toronto sitzt Nart Villeneuve im verwaschenen lateinamerikanischen Rebellen-Shirt und mit Bartflaum rings um beide Wangen. Sein Kollege David Warde-Farley war offensichtlich lange nicht mehr in der Sonne, und vor beiden flackern Computer, ein paar Bildschirmschoner mit Bildchen aus dem Film The Matrix und einer mit einer hüpfenden Kuh. "Sehen Sie, das sind Rechner in Iran", sagt Nart und deutet auf einige lange Kolonnen von Zahlen und Symbolen. "Da können Sie genau sehen, wenn bestimmte Web-Seiten von der staatlichen Zensur gefiltert werden."
Das Munk-Zentrum gehört sicher zu den ungewöhnlichsten Arbeitsorten für Computerhacker. "Wir dringen in Netzwerke auf der ganzen Welt ein und suchen nach Spuren für Überwachung und Zensur", sagt Ronald Deibert, der hier das Citizen Lab leitet. Bei Professor Deibert lernt man Hacken für einen guten Zweck. "Fassen wir es so zusammen", sagt Deibert, "wir entwickeln Methoden, um herauszufinden, wo auf der Welt Abhör- und Zensureinrichtungen ins Internet geschaltet sind. Viele Länder filtern die Inhalte, auf die ihre Landsleute zugreifen können. China zum Beispiel verbot zeitweise den Zugriff auf die Suchmaschine Google."
Natürlich hat Deibert seine Gründe, warum er so etwas nicht in den Vereinigten Staaten aufzieht, sondern in Kanada. In der Vergangenheit waren es vor allem Länder wie Iran und der Irak, Burma, China oder die Vereinigten Arabischen Emirate, für die sich seine Hackerstudenten interessierten. Doch inzwischen durchleuchten sie häufiger auch elektronische Schnüffelaktivitäten beim großen Nachbarn USA - und amerikanische Behörden haben sich schon einige Male bei Deiberts Chefs in der Universität gemeldet. "Ich tue das hier unter dem Mantel der wissenschaftlichen Freiheit", sagt der Professor. "Hier in Kanada gibt es viel Respekt für so etwas."
Deibert ließ auf den Computern seines Instituts zum Beispiel ein System installieren, das dem berüchtigten Carnivore-System des FBI angeblich sehr ähnlich ist: "Wir testen es, und wir schauen uns natürlich auch Instrumente an, es zu umgehen. Es ist sehr schwierig, Überwacher auf diesem technischen Wege wirklich aufzuspüren", gibt Deibert zu, "viel schwieriger als das Dokumentieren von Zensur in China."
Doch Deibert und seine Studenten versuchen es zumindest, schon aus Gründen des politischen Engagements und um dem Trend zum wachsenden Überwachungsstaat einfach etwas entgegenzusetzen. Es war der Physiker und Science-Fiction-Autor David Brin, der 1998 in seinem Essay The Transparent Society ("Die gläserne Gesellschaft") zum Gegenspähen aufrief. "Die Kameras kommen", sagte er fatalistisch voraus, doch das allein sei nicht schlimm. Solange nicht ein totalitärer Staat mit anonymen Wächtern die Kameras in der Hand habe, sondern jeder Bürger zurückspähen und durch die gleichen Linsen schauen dürfe. "Die grundlegende Frage, wer die Kameras kontrolliert, wird über Souveränität und Freiheit entscheiden", fand Brin.
Professor Deibert gehörte vor ein paar Jahren zu den Ersten, die zum "Welt-Unterwachungstag" aufgerufen hatten: Menschen in aller Welt sollten Sicherheitskameras fotografieren und ins Internet stellen. Das Citizen Lab mit seinen freiheitsliebenden Hackern ist der nächste Schritt, die Version für das Internet-Zeitalter. "Wir bauen hier ein Netzwerk zum Überwachen der Überwacher", sagt Deibert, der wohl militanteste Streiter gegen Big Brother. Während andere auf zivilen Ungehorsam setzen, wie jener Millionär aus San Francisco oder wie Bill Brown, der die Obrigkeit mit seinen trotzigen Stadtführungen in New York provoziert, versucht Ronald Deibert, den Feind mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen.
Quelle: DIE ZEIT, 34/2004
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