Eine Reise ins Innere der Welt

Die wahre Geschichte von zwei Nordmännern, die 1829 auszogen, um das Land jenseits des Nordwindes zu suchen - und es auch fanden.

Wir schreiben das Jahr 1829. Die Welt steht am Beginn einer neuen Zeit. Die absolutistischen Monarchien wanken, stattdessen brechen die ‚goldenen Tage der Bourgeoisie’ an. Südamerika befreit sich aus den letzten Fesseln der Kolonisation. In England beginnt das, was fälschlicherweise ‚industrielle Revolution’ genannt wird, doch in Wahrheit die schleichende Besitznahme des Kapitals über den Menschen ist. Gioacchino Rossini komponiert seinen ‚Wilhelm Tell’. Alexander von Humboldt bricht auf Geheiß des russischen Zaren zu einer Forschungsreise nach Sibirien auf. Balzac schreibt seine ‚menschliche Komödie’. Drei große Dichter sind gerade ein Jahr alt: Leo Tolstoi, Henrik Ibsen und Jules Verne.

Die Geschichte. die sich in den Jahren 1829 bis 1831 zuträgt, und von der wir hier berichten, klingt so phantastisch, daß sie einem der Bücher Jules Verne's entsprungen sein könnte: Olaf Jansen, ein l9 Jahre junger Norweger, erlebte sie zu einer Zeit, da man sich vor Stephensons ‚Rokkett’-Lokomotive ängstigte, und die Männer der Schöpfung zwecks Wahrung ihrer Haltung begannen, sich einen Vatermörder umzuschnüren. Was Olaf Jansen in jenen Jahren erfuhr, stellt die Entdeckungen der berühmtesten Eroberer in den Schatten. Und wie viele bedeutende Menschen mußte er für das, was er entdeckt hatte, bitter büßen. Doch beginnen wir von vorn:

Olaf Jansen wurde am 27. Oktober 1811 in der kleinen russischen Stadt Uleaborg am Bottmischen Meerbusen geboren – sozusagen ‚an Land gespült’, denn seine Eltern waren gerade mit dem Schiff in der Baltischen See unterwegs, als sich das Baby ankündigte. Sein Vater, Jens Jansen, stammte selbst aus dem Hohen Norden Skandinaviens, nahe der Lofoten Inseln. Als Fischer verdiente er sich seinen Lebensunterhalt. Sohn Olaf wuchs in Stockholm auf, wo die Familie lebte. Mit vierzehn Jahren befand sein Vater ihn für alt genug, ihn auf seinen Fischzügen zu begleiten.

"Ich erinnere mich gut. wie wir Stockholm am dritten Tag des Aprils 1829 mit unserer Fisch-Schaluppe verließen." erzählte er am Ende seines Lebens einem Freund. Wie hätte er den Beginn jener Reise vergessen können, die ihm später 28 Jahre Kerkerhaft bescheren sollte?

Sie segelten mit Kurs auf die Lofoten-Inseln. Sein Vater war bester Laune, da er hoffte, wie letztes Jahr an der Küste von Franz Josef-Land Elfenbeinzähne zu finden. Sie hatten ihm ein hübsches Geld eingebracht. Am 23. Juni 1829 erreichten sie Spitzbergen. Sie ankerten in der Wijade Bucht, fischten dort und segelten dann weiter durch den ‚Hinlopen Strait’, immer dem Nord-Ost-Land entlang. Plötzlich kam ein starker Wind aus Südwest auf, und Vater Jansen wollte ihn nutzen, um Franz Josef-Land zu erreichen, wo er im Jahre zuvor die großen Elfenbeinfunde gemacht hatte. "Niemals zuvor oder seither habe ich so viele Seevögel gesehen wie damals. Sie waren so zahlreich, daß sie die Felsen der Küstenlinie völlig bedeckten und den Himmel verdunkelten."

Einige Tage lang segelten die Jansens der Küste Franz Josef-Lands entlang. Schließlich kam ein günstiger Wind auf, der ihnen ermöglichte, zur Westküste zu segeln. Nach 24 Stunden gelangten sie zu einer wunderschönen Bucht.

"Man konnte kaum glauben, daß dies der Hohe Norden war. Der Platz war grün und mit Vegetation bedeckt, und obwohl die Grünfläche nicht mehr als ein oder zwei 'acres' (ca. 4'000 bis 8'000 Quadratmeter) umfaßte, war die Luft warm und mild. Dies war vermutlich der Ort, wo sich der Einfluß des Golfstroms am stärksten auswirkte. "An der Ostküste hatte es zahlreiche Eisberge gehabt, doch hier an der Westküste waren wir in offenem Wasser. Weit im Westen von uns konnten wir wieder Eis erspähen, und noch weiter westlich türmte das Eis sich wieder zu Hügeln auf. Doch genau vor uns, in exakt nördlicher Richtung, lag offene See."

Olaf Jansens Vater glaubte, daß die nordischen Götter Odin und Thor nicht bloß eine Legende waren, sondern tatsächlich existierten, in einem Land, das weit jenseits des Nordwindes lag. "Es gibt viele alte Legenden, mein Sohn, die sagen, daß hoch oben im Norden ein Land liegt, das viel schöner ist als alles, was je ein Sterblicher erblickt hat. Dies Land, erzählten uns die Mythen, ist von den Auserwählten bewohnt."

"Meine jugendliche Vorstellungskraft wurde vom Eifer und der religiösen Inbrunst meines Vaters angefeuert, und ich schrie: ‚Warum nicht in dieses schöne Land segeln? Der Himmel ist klar, der Wind günstig, und vor uns liegt offene See.’ Mein Vater schaute mich an, und freudige Überraschung spiegelte sich auf seinen Zügen: ‚Mein Sohn, bist du willens, mit mir auf Entdeckungsfahrt zu gehen – weiter zu segeln als jemals ein Mensch gegangen ist?’ Natürlich, sofort! ‚Sehr gut’, antwortete er. ‚Möge der Gott Odin uns beschützen.’"

Die Sonne stand tief am Horizont, da es noch früher Sommer war. Gute vier Monate würden ihnen bleiben, bevor die Arktis wieder in die ewige Nacht des Winters versank. Nach sechsunddreissig Stunden war Franz Josef Land außer Sicht, und sie gerieten in etwas, was wie eine starke Strömung in nord-nordöstlicher Richtung aussah. Weit im Osten und Westen hatte es Eisberge, doch ihr kleines Boot schlängelte sich geschickt durch die engsten Kanäle.

"Am dritten Tag gelangten wir zu einer Insel, die in offener See lag. Mein Vater beschloß zu landen und das Eiland zu erkunden. Die Insel war frei von Wald, doch fanden wir große Mengen Treibholz an ihrem nördlichen Ufer angeschwemmt. Einige der Baumstrünke waren vierzig Fuß lang (ca. l4 Meter) und maßen zwei Fuß (ca. 70 cm) im Durchmesser. Nach einem Tag hißten wir wieder die Segel und nahmen Kurs nach Norden auf."

Etwas war eigenartig: Statt arktisch kalt war es hier im hohen Norden, wo noch kein Mensch hingelangt war, wärmer und angenehmer als in Hammerfest an der nord-norwegischen Küste. Vater und Sohn aßen zum ersten Mal seit etwa dreissig Stunden. "Nachdem wir die Mahlzeit von Herzen genossen hatten, sagte ich meinem Vater, daß ich wohl etwas schlafen würde, denn ich begann mich sehr schläfrig zu fühlen. ‚Sehr gut’, antwortete er, ‚ich werde weiter Ausschau halten.’ Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte; alles was ich weiß, ist, daß ich sehr unsanft von einer äußerst heftigen Erschütterung unserer Schaluppe aufgeweckt wurde.

Zu meiner Überraschung fand ich Vater tief schlafend. Ich schrie ihn an, so laut ich konnte, er sprang augenblicklich auf die Füße, und hätte er nicht sogleich das Seil gepackt, wir wären ohne Zweifel in die siedenden Wellen gestürzt."

Ein heftiger Schneesturm tobte, und der Wind kam direkt von achteraus und trieb das Fischerboot zu einer halsbrecherischen Geschwindigkeit an. Unverzüglich holten sie die Segel ein. Das Boot schlingerte unkontrolliert durch eine Schlucht aus Eisbergen, nur in nördlicher Richtung lag ein offener Kanal. Doch würde dies so bleiben? Genau vor ihnen hatte sich ein dunstiger Nebel ausgebreitet, schwarz wie eine ägyptische Nacht über der Wasserlinie, und weiß mit Dampfwolken in der Höhe – soweit man sie erblicken konnte, denn diese Wand aus Nebel zerfloß im heftig tobenden Schneesturm. "Bedeckte sie einen tückischen Eisberg oder ein anderes Hindernis, an dem unser Boot zerschellen würde? Oder war es bloß das Phänomen eines arktischen Nebels? Wir sahen keine Möglichkeit, es zu entscheiden."

Wie durch ein Wunder entgingen sie dem Untergang. Das kleine Schiff schaukelte und taumelte hin und her, als ob eine unterirdische Faust in einen tückischen, verschlingenden Strudel reißen wollte. Fast der gesamte Proviant der Jansens wurde über Bord gespült, und hätten sie sich nicht selber an die Schiffsmasten festgebunden, sie wären in die tobende See gespuckt worden.

"Über dem ohrenbetäubenden Tumult der stürmischen See hörte ich die Stimme meines Vaters: ‚Sei mutig, mein Sohn’, schrie er, ‚Odin ist der Gott der Gewässer, der Gefährte der Tapferen, und er ist mit uns. Fürchte dich nicht!’ Mir schien, als gäbe es keinen Ausweg mehr, einem fürchterlichen Tod zu entrinnen. Das kleine Boot füllte sich immer mehr mit Wasser, der Schnee fiel so stark, daß er einen ganz blind machte, und die Wellen leckten mit schäumenden Zungen über die Reling. Es war nur eine Frage der Zeit, wann wir an einem Eisberg zerschellen würden, denn die gewaltigen Wellen hoben uns turmhoch aus dem Wasser empor und peitschten uns im nächsten Augenblick tief in den Schlund der See - gerade, als ob wir bloß eine kleine Muschel wären. Wir sahen uns eingesperrt in riesige, wankende Wände aus tobenden Wellen."