Noch ist Syrien nicht verloren!

Was die wirklichen Ursachen des syrischen Konfliktes sind – und worin die stärkste und wirkungsvollste Hilfe für das gepeinigte Land besteht.

Liest man über die Tragödie, die Syrien heimsucht, ist stets von einem „Bürgerkrieg“ die Rede. Irrtum, sagt der gebürtige Syrer Bassam Tibi1 in einem Artikel in der schweizerischen Weltwoche: „Der Krieg in Syrien ist kein Kampf unter Bürgern“. Wie anders war das Damaskus gewesen, das der 1944 dort geborene sunnitisch-hanafitische Araber Tibi 1962 verließ, um in Frankfurt zu studieren: Eine „Wohlstandsoase“, in der Sunniten (85 % der Bevölkerung) in Frieden mit Christen (8 %), Kurden (5 %), Alawiten (11 %) sowie Drusen, Armeniern und Assyrern lebten. In der Schule, erinnert sich Tibi, gab es unter seinen engen Freunden Christen, Kurden und Armenier. „Damals schickten die bürgerlichen Familien der Großstädte ihre Kinder zum Studium an europäische und US-Universitäten.“

Terror, Tod und Elend – nicht zuletzt weil die Assads seit dem Jahr 1970 die Religionen gegeneinander aufgebracht haben.

Terror, Tod und Elend – nicht zuletzt weil die Assads seit dem Jahr 1970 die Religionen gegeneinander aufgebracht haben.

Inzwischen hat die Toleranz einem allgegenwärtigen Hass und Fanatismus weichen müssen. Denn was Syrien heimsucht, ist kein Bürger-, sondern vielmehr ein Religionskrieg, und verantwortlich dafür macht Tibi die Alawiten, eine „schiitische Sekte“, der auch der Assad-Clan angehört. Nachdem die Alawiten früher „in Dörfern im Norden des Landes“ lebten, hätten sie begonnen, ihre Kinder an die Offiziersschulen zu schicken. Darunter auch Hafiz al-Assad, der, so Tibi, „in den Jahren seiner Diktatur (1970–2000) Syrien total veränderte, indem er die Bevölkerung in verfeindete Ethnien und Sekten fragmentierte“. Tibi spricht von einer Alawitisierung des syrischen Staates, in dem schließlich eine Minderheit von etwa elf Prozent den Staatsapparat und die Streitkräfte lenkte.

Betrachten wir die Alawiten etwas näher: Ihren Namen leiten sie von Ali Ibn Abi Talib ab, dem Schwiegersohn Mohammeds, dem sie – im Gegensatz zu den Schiiten – göttliche Verehrung zukommen lassen. Die Alawiten werden weder von den sunnitischen noch von den schiitischen Moslems anerkannt. Im Unterschied zu diesen praktizieren Alawiten weder das fünfmalige Gebet, noch pilgern sie nach Mekka; auch haben sie keine Moscheen. An ihren Gottesdiensten nehmen Frauen unverschleiert und gleichberechtigt teil. Zu ihren Zeremonien sollen auch Tänze gehören, wie sie auch von den Sufi-Orden praktiziert werden. Ansonsten halten sie Inhalt und Rituale ihrer Religion geheim, was einer der Gründe für die Ressentiments ihnen gegenüber sei. Viele Glaubensvorstellungen teilen sie mit den Drusen – beispielsweise der Glaube an die Wiedergeburt (Reinkarnation) mit sieben Transformationen. Mit den zwei Seinsstufen Gottes (Mohammed und Ali) gibt es bei ihnen auch eine Art Dreifaltigkeit. Ihre Nähe zur gnostisch-christlichen Urreligion, die ja auch noch die Tatsache der Wiederverkörperung enthielt, ist unübersehbar.

Dass es Probleme gibt, wenn ein Land von einer religiös abweichenden Minderheit regiert wird, die nur ein Zehntel der Bevölkerung ausmacht, erstaunt nicht. Zumal nicht einmal alle Alawiten ungeteilt hinter dem Assad-Clan stehen. Im September 2013 erregte ein prominenter syrischer Alawit mit den Worten „Wir sind nicht die Profiteure, sondern die Knechte der Assad-Diktatur“3 Aufsehen. Der Westen dürfe sie nicht aufgeben, sondern müsse den wahren Charakter der „krankhaften Beziehung“ zwischen Assad und den Alawiten erkennen, schrieb er: „Nur selten gelang es einem Herrscher, seine eigene Religionsgemeinschaft zu unterdrücken und zugleich dafür zu sorgen, dass sie es ihm auf Knien dankte.“

Der Assad-Clan, so der Vorwurf, hätte die geheimnisumwobene und daher Misstrauen erweckende Identität der Alawiten gezielt ausgenutzt, um die Gemeinschaft eng ans Regime zu binden. Hafiz al-Assad, der sich 1970 in Damaskus an die Macht geputscht hatte, habe die religiösen Würdenträger der Alawiten gezielt gegeneinander ausgespielt. Wenn überhaupt, habe er sie nur allein empfangen, um sie sich dienstbar zu machen, schreibt der prominente Alawit, der sich mit Decknamen Abu Zarr nennt. Ein Artikel von Le Monde Diplomatique relativiert dessen Aussagen: „Allerdings muss man den Aufstieg der Alawiten innerhalb der Armee und der Baath-Partei sowie ihre Eroberung des Staatsapparats etwas differenzierter betrachten. Hafiz al-Assad [der Vater des heutigen Herrschers] hätte den staatlichen Machtapparat nicht so leicht erobern und die Gesellschaft nicht so stark durchdringen können, hätte er nicht mittels klientelistischer Strategien und lokaler Bündnisse auch andere Bevölkerungsteile eingebunden. Das gilt vor allem für die sunnitische Mehrheit, die vor allem in der Armee, aber auch in der Wirtschaft zum Zuge kam, aber auch weitere religiöse Minderheiten wie Christen und Drusen.“ In Krisenzeiten stützte sich das Regime stärker auf seine alawitische Basis und den alawitisch dominierten Sicherheitsapparat, während es sich in Zeiten der Entspannung eher für andere Bevölkerungsgruppen öffnete. Dieses taktische Wechselspiel seines Vaters führte Assad junior im Rahmen seines neoliberalen Projekts fort, das auf hemmungslose Geschäftemacherei hinauslief.

Quellenangaben

  • 1 Bassam Tibi ist deutscher Politikwissenschaftler und Buchautor mit Syrischer Herkunft.
  • 2 Weltwoche Nr. 49 vom 3. Dezember 2015, Seite 52
  • 3 In der Zeitschrift Zenith, Ausgabe September/Oktober 2013