Die letzten Tudors

Elisabeth I. hatte zwei geheimgehaltene Söhne, deren Schicksal kaum unterschiedlicher hätte verlaufen können: Der eine wurde zum Architekten der Zukunft der Menschheit, der andere endete auf dem Schafott.

Wahrheit ist die Tochter der Zeit, nicht der Obrigkeit.

Sir Francis Bacon
Sir Francis Bacon

Robert Graf von Essex

Sir Francis Bacon und Robert Graf von Essex.

Lady Ann Bacon war eine gute Wahl. Als Frau von tadellosem Ruf und Format, tief religiös, der klassischen Sprachen mächtig, dabei gütig und voller Herzlichkeit, würde sie die perfekte Pflegemutter für den erstgeborenen Sohn der Königin abgeben. Ihre erzieherischen Qualitäten hatte sie schon als Hauslehrerin des jungen Königs Edward unter Beweis gestellt, und ihr Gatte Nicholas war als Großsiegelbewahrer Englands ohnehin eine Vertrauensperson der Königin. Die Taufe des Kleinen fand am 25. Januar 1561 statt, wie die erste Seite des Taufbuchs der Londoner Kirche St. Martin-in-the-Fields verrät: Baptizatus fuit Mr. Franciscus Bacon.

Sir Francis Bacon

Francis Bacon wirkte als Eingeweihter aus dem Hintergrund und überließ den Thron James I.

Wir befinden uns im Zeitalter der versteckten Hinweise, der Zahlen- und Buchstabenrätsel, der sprechenden Bilder, der kryptischen Bemerkungen mit tieferem Sinn. Der Taufeintrag ist solch eine kryptische Bemerkung, denn kein neugeborener Säugling wurde damals „Mister“ genannt. Keiner der anderen Söhne von Nicholas Bacon hatte diesen Titel erhalten. War er vielleicht eine geheime Respektbezeugung seiner Pflegeeltern? Ein Sich-Verneigen vor dem Säugling, der richtigerweise Francis Tudor und nicht Francis Bacon hieß? Und der nach geltendem Recht der rechtmäßige Erbe des Throns von England war? Dies würde erklären, warum erst einiges später, mit anderer Tinte und in anderer Schrift hinzugefügt wurde: „Filius Dm Nicho: Bacon Magni Anglie Sigilli Custodis“ – Sohn von Nicholas Bacon, dem Großsiegelbewahrer von England.

Die wenigen Geschichtsforscher, die der Wahrheit um Francis Bacon auf die Spur gekommen sind, haben noch weitere Hinweise gefunden. Beispielsweise in dem Satz, den ein Zeitgenosse über Nicholas Bacon schrieb: „He was the Lord Keeper of England and a Father to Francis Bacon.“ – „Er war der Großsiegelbewahrer von England und ein Vater für Francis Bacon.“ Nicht „the father of“ – „der Vater von”, sondern „a father for“. Er hatte die Rolle des Vaters übernommen, ohne der leibliche zu sein.

Dr. Rawley war Kaplan, Vertrauter und Freund von Francis Bacon. Als solcher kannte er das Geheimnis von dessen Geburt, doch hätte er es niemals verraten. Er griff zur bewährten Methode der Verschlüsselung, indem er schrieb, Francis Bacon, „die Glorie seiner Zeit und Nation“, sei im „York House oder York Place im Strand1   geboren“ worden. Ein Baby, das an zwei Orten gleichzeitig geboren wird, ist doch recht selten. Was also bedeutete das „oder“? Daß Dr. Rawley nicht sicher war, wie der Ort hieß? Das ist ebenso unwahrscheinlich, wie daß heutzutage jemand nicht wüßte, ob die englische Königin im Buckingham-Haus oder im Buckingham-Palast wohnt. Denn während York House der Name des Daheims von Nicholas Bacon war, so war York Place der Name des Palasts der Königin,2 dessen Namen in England jeder kannte. Während der Uneingeweihte die Zeile überlesen mochte, ohne hinter das Geheimnis zu kommen, enträtselten sich die Worte jenem, der es verstand, zwischen den Zeilen zu lesen: Francis war im Palast der Königin zur Welt gekommen

Das Kind in Purpur

Fünf Jahre, nachdem Sir Francis Bacon 1626 verstorben war, erschien in Frankreich die erste Biographie über ihn. Deren Autor, Pierre Amboise, gehörte eindeutig zu den „Eingeweihten“, die die geheime Wahrheit kannten, sie aber nicht offen aussprechen durften: „Er war dem Purpur geboren und aufgezogen in Erwartung einer großen Karriere. Er verbrachte einige Jahre seiner Jugend mit Reisen in Frankreich, Italien und Spanien. Er sah sich dazu bestimmt, eines Tages das Steuer des Königreiches in seinen Händen zu halten.“

Ich sehe und schweige.

Regierungsprinzip von Elisabeth I.

Das „Purpur“ war die Farbe der Könige; Reisen in andere Länder unternahmen im jugendlichen Alter nur Hochadlige, und mit dem „Steuer des Königreichs“ war natürlich der Thron Englands gemeint.

Es gibt ein Kindheitsporträt von Francis, auf dem das Baby in Purpur gekleidet ist und in der rechten Hand einen Apfel umklammert – sowohl ein altes Symbol für Wissen wie für Macht – man denke an den Reichsapfel, den ein Herrscher in Händen hält. Das Baby hat braune Augen wie seine Mutter Elisabeth und sein Vater Robert Dudley, während in der Bacon-Familie graublaue Augen vorherrschten. Am interessantesten ist vielleicht die schlecht sichtbare, doppelte Kette, die das Baby trägt. Sie hat zwei Anhänger. Der obere zeigt einen schlanken bärtigen Adligen, dessen Erscheinungsbild auf Dudley paßt, nicht aber auf Sir Nicholas Bacon, der sehr korpulent war. Zeigt der untere das Porträt seiner Mutter, der Königin? Versteckte der Maler das Medaillon deshalb unter dem anderen Anhänger?

Lady Ann Bacon unterlief einmal ein verräterischer Lapsus, der prompt von unbekannter Hand beinahe unkenntlich gemacht wurde. In einem Brief schrieb sie nämlich über Francis Bacon: „He was his Father’s first chi…“. Der Rest des Wortes ist eingeschwärzt. Wie mochte das Wort gelautet haben? „Choice“, wie einige Forscher vermuteten? Doch dann hätte Lady Bacon eine Lüge geschrieben, denn Francis war kaum die „erste Wahl“ von Nicholas Bacon. Oder hätte dieser ihn sonst in seinem Testament einfach schmählich übergangen, während all seine anderen Kinder von ihm erbten? Nein. Lady Bacon hatte geschrieben, daß Francis seines Vaters „erstes Kind“ (child) war. Und damit ungewollt preisgegeben, daß er nicht der Sohn von Nicholas sein konnte, denn dieser hatte schon Söhne aus erster und aus der zweiten Ehe mit Anne – und alle waren sie älter als Francis. Doch war Francis sehr wohl das erste Kind seines leiblichen Vaters Robert Dudley.

So wundert es uns denn auch nicht, daß Lady Deventer von Kunow den Namen „Francis Bacon“ im Stammbaum der Bacon-Familie nirgends finden konnte. Bestimmt hätte man das berühmteste Mitglied des Clans nicht übergangen, wäre es ein leiblicher Bacon gewesen!

Als Francis zwei Jahre alt war, bat die Königin Sir Nicholas Bacon, ein Herrenhaus in Gorhambury bei St. Albans zu bauen. Das war erstens angemessener, zweitens gesünder (Kinder wachsen besser auf dem Land auf) – und drittens nicht weit vom Herrensitz ihres Premierministers und Staatssekretärs Lord Burleigh gelegen, den sie gerne im Sommer besuchte. So konnte sie ihren Sohn ab seinem vierten Lebensjahr jedes Jahr auf unauffällige Weise sehen und seine Erziehung überwachen.

Doch auch bei Hofe war ihr Kind schon früh willkommen. Es fiel durch einen außergewöhnlich großen Hinterkopf auf, der, wie man vermutete, tatsächlich eine außergewöhnliche Intelligenz und universelle Auffassungsgabe beherbergte. Darüber hinaus verfügte der Dreikäsehoch über Wortwitz, Schlagfertigkeit und Esprit und entzückte damit schon bald die Würdenträger bei Hofe. Die Königin liebte es, seine Intelligenz auf die Probe zu stellen und ergötzte sich an seinen altklugen, doch stets höflichen Antworten. Als sie den damals Fünfjährigen einmal fragte, wie alt er denn sei, erwiderte er formvollendet: „Zwei Jahre jünger als Ihrer Majestät glückliche Herrschaft!“ – was die Königin entzückte. In Anspielung auf das Amt seines „Vaters“ nannte sie ihn gern „meinen jungen Siegelbewahrer“.

Der Herzog von Norfolk platzte im Jahre 1569 – Francis war acht Jahre alt – einmal ungewollt in eine Familienszene, wie er in seinen Confessions („Geständnissen“) erwähnt. Die Königin weilte mit ihrem Hofstaat gerade auf seinem Anwesen: „Als der Hof in Guilford war, begab ich mich unabsichtlich in die Privatgemächer der Königin und fand Ihre Majestät auf der Türschwelle sitzend und mit einem Ohr dem Kind lauschend, das für sie sang und auf der Laute spielte und mit dem anderen Ohr Leicester, welcher an ihrer Seite kniete. Leicester stand auf, während die Königin weiter dem Kind zuhörte.“ Norfolk wagte nicht, Spekulationen über die Identität des Kindes anzustellen, kämpfte er doch zu jener Zeit gerade gegen den Vorwurf des Verrats. Da war es nicht ratsam, den Zorn der Königin zu erregen.

Als Francis zwölf Jahre alt war, begab sich die Königin extra nach Gorhambury und ließ für diese Gelegenheit eine Terrakottabüste vom Knaben anfertigen, welche seine außerordentliche Gehirn-Entwicklung zeigte.3

Eine erschütternde Eröffnung

Als Francis dreizehn Jahre alt wurde, waren die schönen, ländlichen Jahre in der Nähe von St. Albans vorbei. Er wurde an die Universität von Cambridge geschickt. Die Wahl des College weist wieder auf seine wahre Herkunft hin: Anders als die Bacons, die traditionell ans Bennet’s College gingen, wählte er das Trinity, das auch sein richtiger Vater, der Graf von Leicester besucht hatte und das von seinem Großvater, König Heinrich VIII. gegründet worden war. Auf dem Studienplan standen Griechisch, Latein, Spanisch, Italienisch, Französisch und Hebräisch. Francis fand die Ausbildungsmethoden ziemlich mangelhaft. Statt sich darüber zu beklagen, ging er unverzüglich daran, Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. So ein ganz gewöhnlicher Student war er ohnehin nicht. Kaum angekommen, wurde er unter die persönliche Obhut des College-Vorstehers gestellt, den die Königin alsbald zu einem ihrer persönlichen Kaplane ernannte. So konnte sie jederzeit erfahren, wie ihr Ältester sich machte.

Doch wenn Cambridge einfach verbesserungswürdig gewesen war, dann war das Gray’s Inn eine wirkliche Plage. Als Francis mit fünfzehn an die Londoner Advokatenschule verfrachtet wurde, haderte er mit dem Schicksal. Hätte es nicht unzählige Wissensgebiete gegeben, die seiner Aufmerksamkeit würdiger gewesen wären als die listenreiche, zänkische Juristerei?

Die Erlösung sollte nicht lange auf sich warten lassen, und sie kam als Eklat. Alles deutet darauf hin, daß Francis im Jahr 1577 – er war sechzehn – herausfand, daß die Königin seine leibliche Mutter war.4 Ein Gespräch der Königin mit Francis in jenem Jahr berichtet davon: „Du bist mein eigener Sohn, doch sollst du, obwohl wahrlich königlich an frischem und meisterhaftem Geist, weder England noch deine Mutter beherrschen, noch über künftige Untertanen jemals regieren.“

Wir wissen nicht, wie der junge Mann auf die Eröffnung reagierte. Jedenfalls schien es der Königin sicherer, ihn für ein paar Jahre außer Landes zu schicken. Francis Bacon selbst erwähnte diesen Auslandaufenthalt einmal in einem Brief: „Auf Geheiß Ihrer Majestät ging ich mit Sir Amyas Paulet nach Frankreich. (…) Seit jener Zeit habe ich den Dienst an Ihrer Majestät zu meinem Lebenszweck gemacht.“5 Und auch hier sieht die Königin zu, daß sie die Kontrolle über Francis behält: Sie erhebt seinen Begleiter nämlich kurzerhand in den Ritterstand und ernennt ihn im Jahr darauf zum Botschafter von Frankreich.

Währenddem Francis in Frankreich weilte, starb sein Pflegevater, Sir Nicholas Bacon. Unverzüglich eilte er nach England zurück. Wie schon erwähnt, hatte Nicholas dem jungen Francis in seinem Testament keinen Penny hinterlassen, was aber niemanden zu wundern oder zu befremden schien. Selbst Francis kannte ja nunmehr den Grund dafür.

Quellenangaben

  • 1 „Strand“ ist der Name der Verbindungsstraße zwischen der City of London und der damals noch davon getrennten City of Westminster. Der Name bezieht sich auf das Themse-Ufer, das in früherer Zeit gleich neben der Straße verlief.
  • 2 Sein offizieller Name war Whitehall. Er brannte im Jahre1698 ab, doch heißen noch heute ein Viertel und eine Straße in London „Whitehall“.
  • 3 Parker Woodward in seiner Bacon-Biographie.