Jesus und Thomas, der Zwilling

Das Thomasevangelium ist die genaueste Quelle für Jesu’ wirkliche Worte. In seinen Abweichungen von den offiziellen Evangelien liegen oft genau jene kostbaren Wahrheiten verborgen, die der Kirche nicht paßten.

Dieses Mosaik zeigt den Apostel Thomas, dessen Evangelium vor einem halben Jahrhundert gefunden wurde.

Dieses Mosaik zeigt den Apostel Thomas, dessen Evangelium vor einem halben Jahrhundert gefunden wurde.

In unserem Jahrhundert gibt es zwei archäologische Funde, die unser Wissen über die jüdisch-christliche Tradition grundlegend verändert haben: die Schriftrollen von Qumran am Toten Meer und die Schriftbündel (Kodizes) von Nag Hammadi am Nil. Während die Schriftrollen vor allem Aufschluß über das Werden des Alten Testamentes liefern und über die jüdische Gemeinschaft der Essener, öffnet uns die ‚Bibliothek von Nag Hammadi, die weiblichen, intuitiven Wurzeln des Christentums, die als ‚Gnostik‘ so lange unterdrückt geblieben sind.

Das wichtigste Buch, das in Nag Hammadi gefunden wurde, ist das ‚Evangelium nach Thomas‘: „Die geheimen Worte, die der lebendige Jesus sprach und die der Zwilling Judas Thomas niederschrieb.“

Man weiß heute, daß (vielleicht schon zu Lebzeiten Jesu) Sammlungen bestanden haben, in denen Worte von Jesus, dem Großen Herrn, aufgezeichnet waren (auch Meister- oder Herrenwortegenannt), und daß die Verfasser der drei ersten Evangelien des Neuen Testamentes (Matthäus, Markus, Lukas) eine gemeinsame Quelle benutzten (genannt Spruch- oder Logienquelle ‚Q‘). Sie ist bis jetzt noch nicht gefunden worden. Auch das Thomasevangelium ist ein derartiges ‚Spruchevangelium‘, wahrscheinlich zwar nicht ‚Q‘, aber eine ähnliche Sammlung. Denn obwohl wir darin einundsechzig Meisterworte finden, die wir so oder ähnlich aus den kanonischen (offiziellen) Evangelien kennen, gibt es doch zweiundfünfzig neue, bisher unbekannte Jesusworte. Werner Hörmann bemerkt dazu: „Sie sind [Jesusworte] jedenfalls mit demselben historischen Grad an Wahrscheinlichkeit, wie dies so und nicht anders für die in der Synopse überlieferten Jesusworte gilt. Nach begründeter Auffassung gehen diese beiden Spruchevangelien, nämlich die Logienquelle und das Thomasevangelium, in die vierziger, ja sogar in die dreißiger Jahre des ersten Jahrhunderts zurück! Wir haben nichts anderes vor uns als die wichtigste Urkunde über Jesus!“ Wir können uns seiner Meinung nur anschließen. Denn vergessen wir nicht: die von uns als ‚echt‘ angesehene Evangelienliteratur ist sicher nach dem Jahr 70 entstanden, einiges, wie die Apostelgeschichte, ist von unbekannten kirchlichen Schriftstellern erst im 2. Jahrhundert verfaßt worden. Und ob Paulus ‚seine‘ Briefe um 50-60 wirklich geschrieben hat, wird von den Wissenschaftlern mehr und mehr bezweifelt.

Der Fund des Thomasevangeliums ist ein ungeheurer Glücksfall. Hätte dieser Tonkrug nicht zweitausend Jahre lang in der Erde geschlummert, wäre es bestimmt verschwunden, wie zum Beispiel ein um 200 noch vorhandenes geheimes Markusevangelium, dessen Inhalt nicht linientreu war. Denn die offizielle Kirche war bemüht, Einheit zu finden. Zuerst, um sich gegen die Feindschaft der anderen Religionen und der römischen Staatsmacht zu schützen, später um mit der Unterstützung der kaiserlich-weltlichen Autorität ein ordnendes und verbindendes Prinzip im Reiche zu sein. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der es Lehrer und Schulen zuhauf gab, und in der es allgemeine Praxis war, ein Buch unter dem Pseudonym einer bekannten geschichtlichen Person (zum Beispiel eines Apostels) zu schreiben, um ihm mehr Gewicht zu geben. Auch Schreiber, die Abschriften existierender Werke anfertigten, griffen munter in den Textfluß ein, ganz zu schweigen von den Redaktoren der verschiedenen sich bekämpfenden Fraktionen der entstehenden Kirche. Die Kirchenväter haben diese Aufgabe, nicht zimperlich, auf ihre Weise gelöst; mögen sie in Frieden ruhen.

Heute liegen Übersetzungen des Thomasevangeliums in verschiedenen Sprachen vor, die nicht durch eine kirchliche Zensur gegangen sind. Kann also Jesus nach fast zweitausend Jahren jetzt endlich ohne Maulkorb reden? Lehren die ‚christlichen‘ Kirchen, was ihr Religionsstifter (der sich übrigens nie als ein solcher begriff) gesagt hat? Hier einige Kostproben aus einer neuen deutschen Übersetzung des Thomasevangeliums. Wir hoffen, daß unsere Bemerkungen zum Denken anregen. (Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die heute allgemein übliche Nummerierung der 114Meisterworte im Thomasevangelium; als Bibel wurde die revidierte Elberfelder Fassung verwendet.)

(1)Und Er (Jesus) sagte: „Wer die Bedeutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht erfahren.“

Direkt, gerade heraus: Wer die Bedeutung der Lehre Jesu findet, wird nicht sterben. Kein Versprechen auf ein entrücktes ‚Irgendwann‘, keine benötigte Hilfestellung einer Kirche. Und da der physische Körper nicht ewig lebt, ist es doch eine offensichtliche Aufforderung, sich des Körpers bewußt zu werden, der schon immer lebte und immer leben wird – nicht irgendwann, sondern jetzt und hier. Nur Joh 8,51 sagt etwas Ähnliches (Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wenn jemand meine Worte bewahren [oder: halten!] wird, so wird er den Tod nicht schmecken in Ewigkeit), und das wurde elegant entschärft, indem man das griechische Äon mit ‚Ewigkeit‘ und nicht mit ‚Zeitalter‘ oder gar ‚Lebenszeit‘ übersetzt.

(3) Jesus sprach: „Wenn die, die euch leiten, euch sagen: ‚Seht, das Reich ist im Himmel‘, so werden die Vögel des Himmels euch zuvorkommen. Und wenn sie euch sagen: ,Es ist im Meer‘, so werden die Fische euch zuvorkommen. Das Reich ist vielmehr in eurem ‚Innen‘ und eurem ‚Außen‘. Wenn ihr euch (Selbst) erkennt, dann werdet ihr erkannt werden. Und ihr werdet wissen, daß ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid. Wenn ihr euch aber nicht erkennt, so lebt ihr in Armut, und ihr selbst seid diese Armut.“

Also doch kein ‚Himmel‘reich? Es liegt an uns (und nicht an der kirchlichen Autorität oder am Glaubensbekenntnis), ob wir schon im Reich ‚des lebendigen Vaters‘ leben und dieses Reich gleichzeitig in uns auferstehen lassen. Sind wir die Söhne und Töchter dieser stets lebenden, lebendigen Vater-Gegenwart oder lassen wir uns durch unsere eigene, selbstgemachte Armut, unsere Beschränktheit, von dieser Erkenntnis trennen?