Seien Sie gewarnt: Dieser Artikel ist nichts für schwache Nerven. Eine neuartige Krankheit namens Morgellons verbreitet nicht nur in den USA Angst und Schrecken. Als Ursache vermutet man Chemtrails und/oder genmanipulierte Nahrung.
Sie schrie aus Leibeskräften. Ihr Rücken fühlte sich an, als würde er von Hunderten Bienen zerstochen. Sue Laws saß im Keller ihres Hauses, wo sie noch am Computer für die Firma ihres Ehemanns Tom arbeitete. Aufgeschreckt rannte dieser die Treppe hinunter und stürzte zu ihr hin, um Sue das Hemd hochzuziehen. Doch da war nichts. Weil Sue ihm nicht glaubte, bedeckte Tom ihren Rücken mit Klebeband und zog es vorsichtig wieder ab. Anschließend betrachteten sie es unter dem Vergrößerungsglas. „Jetzt entdeckten wir sie. Das Klebeband war voller winziger roter Fasern“, erinnert sich Sue an jene Nacht im Oktober 2004. Natürlich dachten die beiden, es müsse sich um Kleidungsfasern handeln – obwohl Sue gar keine roten Kleider trug.
Im Verlauf des nächsten Monats wurde Sue von immer stärkerem Juckreiz heimgesucht. Jede Nacht schienen Tausende von winzigen Käfern unter ihrer Haut herumzukrabbeln und sie zu stechen und zu beißen. Schlafen konnte sie nicht mehr. Hatte sie Flöhe? Sue und Tom rissen vorsichtshalber alle Teppiche raus. Reagierte sie allergisch auf Schimmel? Die beiden entfernten alle Tapeten, sandstrahlten Wände und Böden, engagierten einen Kammerjäger.
Jeden Morgen war Sues Hälfte des Bettlakens mit körnigen schwarzen Punkten bedeckt. Dann entdeckte sie Blutströpfchen, die aus ihrer Haut zu quellen schienen. Sie waren überall. Das Bettzeug täglich in Ammoniak zu waschen half gar nichts. Bald brachen auf ihrer Brust, ihrem Nacken und Rücken, an Armen und Beinen und sogar im Gesicht schmerzhafte gallertartige Läsionen auf, die einfach nicht ausheilen wollten. Stundenlang stand Sue unter der Dusche, badete in Essig und Meersalz, bedeckte ihren wunden Körper mit Babypuder. Vergeblich. Ihre Gelenke begannen zu schmerzen. Ihr Gedächtnis ließ nach. Das Haar begann auszufallen und die Zähne zu faulen. Aus Angst, Menschen anzustecken, ließ Sue niemanden mehr ins Haus und ging selbst nicht mehr vor die Tür.
Die 47jährige Kosmetikerin Lalani Duval läßt ihre Enkel seit über einem Jahr nicht mehr in ihre Nähe, seit das pausenlose Jucken anfing. Dreimal wollte sie sich schon eine Kugel in den Kopf schießen. „Jede Nacht reinige ich mein Bett sechsmal mit dem Staubsauger. Das Zeug kommt wie Würmer aus meinen Augen heraus. Es ist die Hölle.“
Was sich wie das Script eines drittklassigen Hollywood-Schockers liest, ist bitterer Ernst. Diesmal hat die Wirklichkeit die Fantasie eines Drehbuchschreibers eingeholt, wenn nicht gar überflügelt. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch Brigid Schulte, Reporterin bei einer der renommiertesten Zeitungen der Welt. Schultes Artikel, aus welchem obige Fallbeispiele entnommen sind, erschien am 20. Januar 2008 im Magazin der Washington Post und löste landesweit Wellen aus. Sein Titel: The Mystery of Morgellons – Morgellons, die mysteriöse Krankheit.
Knapp zwei Jahre zuvor, am 18. Mai 2006, strahlte der US-amerikanische Nachrichtensender KGW einen Beitrag zum gleichen Thema aus. Darin ging es um den Fall der Hausärztin Dr. Drottar, unter deren Haut ebenfalls „Käfer krabbelten“. Zudem, so der Bericht, würden oft „schwarze oder blaue Haare“ aus ihrer Haut quellen. „Ich dachte, mit Asbest in Berührung gekommen zu sein und daß Asbest-Fasern aus meiner Haut kämen“, erzählte die Ärztin. „Ich habe lange, dünne, haarähnliche Fasern herausgezogen, die äußerst scharf waren und meine Fingernägel regelrecht durchstechen konnten.“ Das fühlte sich an, als schneide man sich an heißem, zerbrochenem Glas. Neben diesen körperlichen Schmerzen stellte sich auch eine chronische Müdigkeit ein, und Dr. Drottar fiel in schwere Depressionen. Heute ist sie arbeitsunfähig. So wie viele ihrer Leidensgenossen.
Die großen amerikanischen Fernsehsender CNN, NBC und ABC griffen das Thema zwar auf, doch noch heute findet man auf den offiziellen medizinischen Internetseiten kaum Informationen zu der Morgellonschen Krankheit oder dem Morgellonschen Syndrom, wie das neuartige Leiden auch genannt wird. Zu seinen Symptomen gehören stechende Juckreize und das Gefühl, etwas bewege sich unter der Haut fort, so wie schwarze Körner, die sich auf oder unter der Haut bilden und Kleider zerschneiden. Hinzu kommen wunde Läsionen – auch an Stellen, die mit der eigenen Hand nicht erreicht und aufgekratzt werden können, sowie blaue, rote, grüne, durchsichtige oder weiße Fasern, die unter stechenden Schmerzen aus den Wunden hervorwachsen. „Diese Fasern sind wie biegsames Plastik und bis mehrere Millimeter lang. Unter der Haut sind sie zickzackförmig gefaltet. Obwohl manchmal so fein wie Spinnwebfäden, sind sie reißfest genug, um die Haut mitzureißen, wenn man an ihnen zieht.“ Mit diesen Worten wird ein Patient in einem Artikel zitiert, der in der Ausgabe vom 15./21. September 2007 des New Scientist erschien. Neurologische Symptome umfassen mentale Verwirrung, den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses sowie Halluzinationen und Sehstörungen. Psychische Probleme wie Depressionen bis hin zum Selbstmord sind bei dieser Leidenspalette leicht nachvollziehbar – und belegt.
Werden Dermatologen mit Morgellons konfrontiert, haben sie meist noch nie etwas davon gehört. Oft diagnostiziert man bei diesen Patienten einen eingebildeten „Parasitenwahn“ und sie erhalten Psychopharmaka statt Antibiotika. Das Problem, so glauben die Mediziner, liege in deren Kopf, und nicht unter deren Haut. Eine häufig vorschnelle „Diagnose“, wie eine Studie an der weltberühmten Mayo-Klinik in Rochester (Minnesota) ergab: Nahmen sich die Ärzte nämlich genügend Zeit, bereits mit Parasitenwahn abgestempelte Patienten zu untersuchen, so verließen mehr als die Hälfte von ihnen das Konsultationszimmer mit Rezepten gegen reale Ursachen für ihren Juckreiz in der Tasche.
Sue Laws hatte leider nicht so viel Glück. Keiner der von ihr aufgesuchten Ärzte wollte ihr Glauben schenken. Deshalb versuchte sie sich schließlich selbst zu helfen und fand die Morgellons Research Foundation (morgellons.org), eine Organisation, auf deren Internetseite sich Betroffene wie Sue Laws selbst registrieren können. Waren es Anfang 2006 noch 2’000 Menschen, so haben sich bis Mai 2008 bereits über 12’000 leidende Familien eingeschrieben. Experten halten diese Zahl jedoch nur für die Spitze des Eisbergs.
Die in Guilderland, New York, ansässige und von privaten Spenden getragene Morgellons Research Foundation wurde 2002 von der Biologin Mary Leitao ins Leben gerufen. Ein Jahr zuvor war die Haut ihres damals zweijährigen Sohns unter der Lippe plötzlich aufgeplatzt und es traten rote, blaue, schwarze und weiße Faserbüschel aus der Wunde aus. Diese hatte die Laborantin nur mit Hilfe ihres Mikroskops entdeckt. Mindestens acht verschiedene Ärzte konnten dem Kind weder helfen noch eine Ursache für die sich auf den ganzen Körper ausbreitenden Symptome feststellen. Während ihrer Recherchen stieß Letao auf einen Brief aus dem Jahr 1690, worin von Kindern aus dem Languedoc die Rede war, denen auf unerklärliche Weise rauhe Haare aus dem Rücken wuchsen. Diese Krankheit – was immer sie war – wurde als Morgellons bezeichnet. Fortan übernahm Leitao diesen Namen als Bezeichnung für das neuzeitliche Leiden ihres Kindes. Ob aber zwischen Morgellons von heute und jener Krankheit aus einem früheren Jahrhundert überhaupt ein Zusammenhang besteht, ist völlig offen, ja geradezu unwahrscheinlich.
Ärzte, die ihre Patienten nicht gleich als „eingebildete Kranke“ abstempelten, verordneten hochwirksame Medikamente gegen Parasitenbefall – ohne Erfolg. Manche Menschen waren so verzweifelt, daß sie sich vom Tierarzt Wurmkuren besorgten und schluckten.
Selbstverständlich gibt es Hypochonder mit einer krankhaften Angst vor Bazillen, die regelmäßig Ärzte heimsuchen und kostbare Konsultationszeit verschwenden. Und natürlich sind in manchen Fällen die aus angeblichen Morgellons-Läsionen entfernten ‚Haare‘ nichts weiter als Textilfasern oder Tierhaare, wie jene Mediziner behaupten, die Morgellons als Krankheit kategorisch ablehnen.
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