Schalom, freies Amerika!

Nirgendwo auf der Welt leben so viele Juden wie in der USA: nämlich 5.8 Millionen - gegenüber 4.6 Millionen in Israel. Die meisten kamen beim "grossen Exodus" zwischen 1880 und 1920 ins neue, "gelobte Land" Amerika. Heute nehmen sie jene Stellung ein, die einst die WASPs (Weissen Angelsächsischen Protestanten) innehatten - nämlich diejenigen der Elite der Gesellschaft, welche die Träume, Wervorstellungen und Ziele des heutigen Amerikas prägt.

Nachdem viele christliche Glaubensflüchtlinge im 17. und 18. Jahrhundert nach Amerika emigriert waren; nachdem bitterarme Iren, Süditaliener und andere 'Wirtschaftsflüchtlinge' im 19. Jh. in der Neuen Welt auf ein besseres Auskommen hofften; nachdem Schwarzafrikaner als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden und ihr unmenschliches Los sich zum Schandfleck auf dem Rock der jungen Nation weitete, gab es ein weiteres Volk, das in den Vereinigten Staaten das 'gelobte Land' erblickte - ein 'Neues Jerusalem': Die Juden. "...Seitdem dämmert der Welt die Erkenntnis, daß wir Zeugen eines zweiten Auszuges sind, der in kurzem das Aussehen der Juden auf der westlichen Halbkugel zu ändern verspricht", prophezeite hellsichtig Leo St. Levi, von 1900 bis 1904 Vorsitzender des jüdischen Ordens B'nai B'rith.

"Der Amerikanische Traum ist eine jüdische Erfindung", zitiert Neal Gabler in seinem Buch An Empire of Their Own - How the Jews invented Hollywood eine Frau namens Jill Robinson. Beide Aussagen deuten darauf hin, wie prägend für das Amerika von heute die Ankunft von Millionen (vorwiegend) osteuropäischer Juden Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts werden sollte-und welche Macht sie über die Sehnsüchte und Träume der Amerikaner erlangen würden.

Man kann daher das Amerika von heute nicht würdigen, ohne zurückzublicken nach Ellis Island, wo laut jüdischem Lexikon zwischen 1901 und 1907 jeden Tag knapp 300 Juden die Immigrationskontrolle passierten. Der allererste Jude, der den Boden der Neuen Welt betrat, war indes Luis de Torres, ein vielseitiger Sprachenkenner, der Kolumbus auf seiner ersten Reise begleitete. "Bis in die Mitte des 17. Jhdts. war die Meinung verbreitet", heißt es im Jüdischen Lexikon, "daß die in Amerika vorgefundenen Indianer die verlorenen zehn Stämme Israels seien."

1654 ließen sich 27 arme Juden im damaligen Neu Amsterdam nieder - jener Stadt, die heute New York City heißt und die größte 'jüdische' Stadt der Welt ist. 1695 ist die erste Synagoge in New York nachweisbar. Daß das Judentum den Anspruch erhebt, zu den geistigen 'Vätern' des neuen Amerika zu gehören, geht aus den folgenden Passagen im Jüdischen Lexikon hervor: "Die Reverends Jonathan Mayhew und Samuel Langdon, wie alle Puritaner, knüpften ihre politischen Predigten und Programme geradezu an den Fluch des altisraelitischen Königtums und die republikanischen Prinzipien der jüdischen Theokratie an. So wirkte altjüdischer Geist bei den Unabhängigkeitsbestrebungen Amerikas ideologisch entscheidend mit, und es ist bemerkenswert, daß nach der Etablierung der freien nordamerikanischen Republik diese als 'Gottes amerikanisches Israel' und Washington als 'der amerikanische Josua' bezeichnet wurden. (...) Die 'Unabhängigkeitsartikel' des jungen Staates waren es auch, die die erste Verkündung der Gleichberechtigung darstellten, die die Juden in irgendeinem Lande erhielten."

Amerika gibt es nicht!

Die Juden, welche besonders in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Amerika einwanderten (ihre geschätzte Zahl stieg von 50'000 anno 1848 auf 938'000 im Jahre 1897; Jüd. Lexikon), kamen zu einem großen Teil aus den 'Schtetls' im europäischen Osten. Es war eine abgeschottete, nach innen gerichtete Welt, in der Humor (heute eine der gepriesenen jüdischen Eigenschaften) in jeglicher Form streng verboten war, und man auch dem Lernen nicht viel abgewinnen konnte - außer gewissen Studien des Talmuds und der jüdischen Mystik. So kam es, daß im Vorwort des ersten Werks über Geographie, das 1803 in Rußland in Hebräisch erschien, darüber geklagt wird, daß sehr viele große Rabbiner die Existenz des amerikanischen Kontinents verneinten und sagten, daß er eine Unmöglichkeit darstelle.

Die straffe und hierarchische Organisation der osteuropäischen Jüdischen Gemeinden brachten die immigrierenden Juden auch nach Amerika mit. Sie trafen ihre Glaubensgenossen nicht nur in der Synagoge, sondern auch in jüdischen Logen, Vereinen und Gesellschaften. Dachorganisation all dieser Verbindungen war in New York die Kehilla, auch Kahal genannt (Gemeinde, Verwaltung, Versammlung). Im Grunde oblag der Kehilla die Verwaltung oder Regierung der Juden in der Diaspora. Im New York der zwanziger Jahre verfügte die Kehilla bereits über ihr eigenes Gerichtswesen und erließ eigene Gesetze. Bei ihrer Gründungsversammlung waren 222 jüdische Vereine unter ihrem Dach vertreten, nach gut einem Jahr waren es bereits 688, darunter drei Verbände, die wiederum 450 Vereine hinter sich hatten. Wie mächtig die Kehilla war, kann man daraus ersehen, daß die jüdische Bevölkerung New Yorks nach dem 1. Weltkrieg rund 1,5 Millionen zählte, und daß in ihrer Hauptversammlung im Jahre 1918 so wichtige Männer saßen wie Jacob G. Schiff, Louis Marschall (Präsident des Amerikanischen Jüdischen Komitees), Otto A. Rosalski, Richter am General Sessions Court; Adolph Ochs, Eigentümer der New York Times, Otto H. Kahn vom Bankhause Kuhn, Loeb & Co. Und Benjamin Schlesinger, der Kontakte zu Lenin in Moskau unterhielt; im weiteren Joseph Schlossberg, Generalsekretär der Vereinigten Konfektionsarbeiter Amerikas (mit 177'000 Mitgliedern); Max Pine, der ebenfalls Kontakte zu den Bolschewisten Rußlands unterhielt, und die Arbeiterführer David Pinski und Joseph Baron deß. Zu den wichtigsten Mitglieder-Organisationen der Kehilla gehörten die Zentral-Konferenz der amerikanischen Rabbiner, der Rat reformierter Rabbis des Ostens, die unabhängigen Orden B'naiB'rith, Freie Söhne Israels, B'rith Abraham, B'rith Scholom, die Vereinigung der amerikanischen Zionisten, sowie orthodoxe und Reformjuden.

Der Kehilla oblag es, die Rechte der Juden in Amerika zu wahren. Dies, obwohl eine politische Schrift aus jener Zeit festhält, "Niemals sind jüdische Rechte in Amerika angetastet worden" und ein Rabbi namens Elias L. Salomon gar erklärte, "Es gibt keinen denkenden Juden außerhalb Amerikas, dessen Augen nicht auf dieses Land gerichtet sind. Die Freiheit, welche die Juden in Amerika genießen, ist nicht das Ergebnis einer mit nationalem Selbstmord erkauften Emanzipation, sondern das natürliche Produkt der amerikanischen Zivilisation."

Nicht, daß die jüdische Bevölkerung Amerikas die ihnen zugestandene Freiheit nicht zu schätzen gewußt hätte. Diese war ihr so kostbar, daß sie sich ermutigt fühlte, ihre eigene Kultur, ihre eigene Religion mit allen daraus entstehenden weltlichen Konsequenzen zu leben. Die Kehilla forderte daher unter anderem (erfolglos), daß der Sabbat als amtlicher Ruhetag offiziell anzuerkennen sei und die Juden berechtigt würden, am Sonntag ihre Geschäfte, Fabriken und Theater geöffnet zu halten. Sie forderte auch die Aufhebung der Weihnachtsfeiern in öffentlichen Schulen, in Polizeibüros; es sollte ferner verboten werden, öffentlich Weihnachtsbäume aufzustellen und Weihnachtslieder zu singen. Diese Forderungen wurden mancherorts erfolgreich durchgesetzt. Städtische, staatliche und bundesstaatliche Regierungen sollten es künftig auch unterlassen, in irgendeiner Weise in öffentlichen Dokumenten und Versammlungen auf Christus hinzuweisen, weil man dies als diskriminierend für den eigenen Glauben empfand.

(Auch noch 1998 wurde in Halifax anläßlich des überkonfessionellen Gedenkgottesdienstes für die Opfer des Swissair 111-Absturzes den beiden christlichen Geistlichen als einzigen die Auflage gemacht, um die religiösen Gefühle Andersgläubiger nicht zu verletzen, weder den Namen Jesus Christus zu erwähnen, noch aus dem Neuen Testament zu zitieren.)