Sokrates, die Wahrheit und der Tod

Sokrates wandelte in ganz Athen umher, um seinen Mitbürgern durch bohrende Fragen den ‚Weisheitszahn‘ zu ziehen. Lesen sie hier, wie es dazu kam, daß Athen, die Hochburg der Meinungsfreiheit in der Antike, Sokrates den Giftbecher trinken ließ.

Welches waren die vier „maßgebenden Menschen“, die laut dem Philosophen Karl Jaspers „das Menschsein prägten“? Buddha, Konfuzius, Jesus und Sokrates!

Wie bitte? Sokrates? Was wir von ihm noch wissen ist sein berühmter Satz ‚Ich weiß, daß ich nicht weiß‘, und sein Märtyrertod. Was wir uns selten fragen, ist, wie es geschehen konnte, daß ausgerechnet Athen, die ‚Mutter‘ der Demokratie und der freien Meinungsäußerung, einen Philosophen zum Tode verurteilte, der sich überhaupt nicht politisch hervortat, der kein Gesetz gebrochen hatte, sondern einfach herumging und die Menschen zum Nachdenken anhielt.

Ein gefaßter und noch immer lehrender Sokrates greift zum Giftbecher, während seine Schüler trauern.

Ein gefaßter und noch immer lehrender Sokrates greift zum Giftbecher, während seine Schüler trauern.

Er macht es uns nicht leicht. Kein einziges Wort schrieb er auf – was zu jenen Zeiten noch eine verbreitete Untugend war. Noch weniger sah Sokrates sich als Missionar oder Künder neuer Erkenntnisse und Wahrheiten. Er ging einfach herum und fragte die Menschen Löcher in den Kopf. Er fragte beispielsweise: Was ist Tapferkeit? Was Frömmigkeit? Was Gerechtigkeit? Das Wahre? Das Gute? Die Angesprochenen mühten sich ab, so gut sie konnten, doch am Ende unterlagen sie immer. Der unbequeme Frager hatte ihr Wissen als Meinung oder Scheingelehrtheit entlarvt. Natürlich macht man sich nicht sehr beliebt, wenn man jedem das Gefühl gibt, unwissend wie die Nacht zu sein. Doch sollte das reichen, um einen den Giftbecher trinken zu lassen? Wohl doch nicht in einer so zivilisierten Gesellschaft wie dem antiken Griechenland!

Sokrates war eben ganz anders! ruft uns der amerikanische Politik-Journalist I.F. Stone in seinem Buch ‚The Socrates Trial‘ zu. Zeitlebens setzte Stone sich für das hohe Gut der freien Meinungsäußerung ein, wofür er in den USA mit der Freiheitsmedaille ausgezeichnet wurde. Im Vorwort merkt er noch an: „Dieses Projekt hatte seine Wurzeln in dem Glauben, daß keine Gesellschaft gut ist – wie auch immer ihre Absichten, ihre utopischen und liberalen Ansprüche sein mögen, wenn die in ihr lebenden Männer und Frauen nicht frei sagen dürfen, was sie denken“. Der Journalist lernte Altgriechisch, um die Originalschriften lesen zu können. Er wollte diesem großen Rätsel der Antike auf die Spur kommen – wie es geschehen konnte, daß die freieste Stadt der Alten Welt einen ihrer hervorragendsten Bürger umbringt, nachdem er schon jahrzehntelang hat tun dürfen, wonach der Sinn ihm stand.

Kein Freund der Demokratie

Sokrates, schreibt er, war arrogant. Ein Gegner der Demokratie. Ein politischer Aufwiegler wider Willen sozusagen, der es immerhin fertigbrachte, daß hitzköpfige, jugendliche Anhänger seiner ‚Lehren‘ nicht nur einmal versuchten, die demokratische Stadtverwaltung Athens zu stürzen. Damit wird Sokrates zum staatsgefährdenden Element.

So brillant Stones Buch in politischer Hinsicht ist, so sehr entgeht ihm die spirituelle Dimension des Frager-Philosophen. Sokrates selbst sagt einmal (in Platos ‚Apologie‘),warum er sich immer sorgsam aus den Niederungen der Tagespolitik herausgehalten hat: „Denn wißt nur, ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, Staatsgeschäfte zu betreiben, so wäre ich auch schon längst umgekommen und hätte weder euch etwas genutzt noch mir selbst. Werdet mir nur nicht böse, wenn ich die Wahrheit rede. Denn kein Mensch kann sich erhalten, der sich, sei es nun euch oder einer andern Volksmenge, tapfer widersetzt und viel Unrechtes und Gesetzwidriges im Staate zu verhindern sucht.“ Notgedrungen müsse er deshalb ein zurückgezogenes und kein öffentliches Leben führen, wenn er für die Gerechtigkeit streiten wolle.

Damit stellt sich Sokrates schon quer zu dem, was die Alte Welt vom Bürger erwartet. Er soll sich als ‚zoon politikon‘, als ‚politisches Tier‘ gebärden und gefälligst aktiv an den Entscheidungen der Polis beteiligen. Wer es nicht tut, ist nicht nur apolitisch, sondern auch antidemokratisch und damit schon einmal ziemlich verdächtig. Denn die Polis (‚Stadt‘) ist eine Gemeinschaft freier Männer, die sich selber regieren und stolz darauf sind.

Nicht, daß Sokrates sich völlig von den Geschäften des Staates ferngehalten hätte. In seiner Jugend kämpfte er tapfer als Soldat, und einmal wollte es das Schicksal, daß er durch das Los zum Präsidenten eines Gerichts berufen wurde, das über das Leben von zehn Admirälen zu bestimmen hatte, denen man vorwarf, sie hätten nach einer Schlacht die Überlebenden und die Toten nicht aus dem Meer geborgen. Die Angeklagten argumentieren, die stürmische See hätte das völlig verunmöglicht. Sokrates glaubt ihnen, spricht sie frei, doch das Gericht als Ganzes beschließt: Hinrichtung. Später erkannten die Athener das Fehlurteil, das die Toten natürlich auch nicht wieder lebendig machte. Der nächste bekannte Justizirrtum sollte dann Sokrates selbst das Leben kosten.

Sokrates ist also suspekt, weil er die ‚heiligen‘ Bürgerpflichten mißachtet; und die Athenische Demokratie ist immerhin den Göttern geweiht. Sokrates geht noch weiter, indem er sagt, die Volksherrschaft sei nicht die letzte aller Weisheiten, da das Volk im Grunde eine Herde sei, die eines Hirten bedürfe. Die Herde habe niemals die Fähigkeit, sich selbst zu regieren. Xenophon zitiert Sokrates, daß es die Sache des Herrschers sein müsse, zu befehlen, und die Sache der Beherrschten, zu gehorchen.

Uff! Da hatte sich das alte Griechenland in mühseligem Kampf von der Tyrannenherrschaft befreit, und nun kam da einer daher und predigte die Rückkehr zum alten System als genau das Richtige, Seligmachende...! Mehr noch: Ein Königtum pries er als das Maß aller Dinge!

Wäre Sokrates einfach ein fanatischer, dumpfköpfiger Polemiker gewesen – man hätte ihn nicht ernst nehmen müssen. Doch Sokrates predigte stets die Ethik als das oberste der Prinzipien. In allem, was er tat, strebte er nach dem Erhabensten. Von ihm stammt die Erkenntnis, daß der Mensch über den ‚Logos‘ verfügt – über Sprache und Vernunft, was ihn vom Tierreich unterscheidet, und was seinen Schüler Plato und dessen Schüler Aristoteles die Möglichkeit gibt, die Idee der Wissenschaft zu formulieren. Über ihr, sagt Sokrates, muß immer die Ethik als höchste Wächterin wachen.

Sokrates, der Wahrheitssucher

Eine Erkenntnis, die nicht erst heute, sondern auch schon damals Unbehagen verbreitete. Der Begriff vom ‚Zweck, der die Mittel heiligt‘ war auch den alten Griechen nicht unbekannt – die menschliche Natur ist eben die menschliche Natur. Und so, wie manchen das Wort des Sophisten Protagoras sehr gelegen kam, nämlich, daß der „Mensch das Maß aller Dinge“ sei, so verkündeten Sokrates und auch sein Schüler Plato, „Das Maß aller Dinge sei Gott“! Für beide gab es ein kosmisches Sinnzentrum, ein Weltgesetz im Sinne Buddhas.

Sokrates folgert daraus, daß es erstens wahres Wissen gibt, daß ihm zweitens ein Ziel innewohnt und daß dieses immer in Richtung auf einen absoluten Wert hingeht. Wissen ist also nichts Beliebiges, nichts, was man heute mal so und morgen ganz anders definiert. Solches Wissen ist Pseudowissen und deshalb wertlos. Es verbessert den Menschen nicht. Nur Wissen, das den Weg zur ethischen Vollkommenheit zeigt, ist etwas wert und damit auch wahr. Und, fordert Sokrates, es ist die Pflicht des Menschen, diesem Wissen zu folgen bis zu seinem Urgrund. – Ist es da nicht passend, daß Sokrates ausgerechnet in jener Stadt wirkt, die Pallas Athene geweiht ist, seit alters her die Göttin der Weisheit und Wahrheit?