Angriff auf die Freiheit der Bürger?

Der Europäische Haftbefehl ersetzt die bisherige Auslieferungspraxis für Straftaten innerhalb der EU und stellt sich immer mehr als das heraus, was er in Wirklichkeit ist: Ein Gesetz, das gegen die elementarsten Grundrechte verstößt und die Freiheit jedes einzelnen Bürgers bedroht.

EU-Haftbefehl

Jeder EU-Bürger kann in die Fänge des Europäischen Haftbefehls geraten - nicht nur Verbrecher.

Durch den heute in der ganzen Union gültigen EU-Haftbefehl wird es denkbar, daß ein Staatsbürger für eine Handlung in seinem Heimatland bestraft wird, obwohl das entsprechende Verhalten dort gar nicht strafbar ist, sondern nur in dem Land, das um Auslieferung ersucht hat. Es ist nicht einmal unbedingt notwendig, die Tat im auslieferungsersuchenden Land begangen zu haben. Ohne weitere Überprüfung der Fakten kann der Bürger bei Vorliegen einer von 32 aufgelisteten Straftaten (siehe Kasten in der Druckausgabe) von seinem Heimatland überstellt werden. Was als Delikt gilt, ist weitgehend unbestimmt und sehr von der Auslegung einzelner Richter und von der Rechtssprechung eines ausländischen Staates abhängig.

So reicht es dann auch, wenn man gegen nur ein einziges Gesetz der insgesamt 25 Strafgesetzbücher der EU-Staaten verstoßen hat. Verhaftet kann man schon werden, wenn man nur verdächtigt wird, etwas Unerlaubtes getan zu haben. Auch hier prüft der eigene Staat nicht, ob der Verdacht zu Recht besteht - er liefert erst einmal aus. Durch diese Vorgangsweise wird allerdings der Rechtsstaatsgrundsatz "Nulla poena sine lege" ("Ohne Gesetz keine Strafe") verletzt, der besagt: Bestrafen darf ein Staat nur Taten, die er selber als Unrecht definiert hat. Abtreibung beispielsweise ist in Irland ein Tötungsdelikt. Deutsche Ärzte müssen nun laut der Zeitung Die Zeit theoretisch damit rechnen, in Dublin verurteilt zu werden.

Voraussetzung für eine Verhaftung ist, daß die aufgelisteten 32 Delikte in dem Mitgliedsstaat, der den Haftbefehl ausstellt, mit mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Dabei besteht auch die Gefahr einer Haftverbüßung im Ausland - dann nämlich, wenn das Heimatland die Rücküberführung verweigert und es keine gesetzliche Regelung gibt, die einen schützt.

Ohne Geld und Dolmetscher in der Fremde

Das maßgebende Recht für die Ausstellung eines EU-Haftbefehls sind die Strafgesetzbücher der EU-Länder. Über Gesetzesänderungen in jedem einzelnen EU- oder Schengen-Land sollte man sich also jederzeit auf dem Laufenden halten. Natürlich sind fast alle Strafgesetzbücher in einer fremden Sprache geschrieben - genauso wie die Richter und Anwälte im Falle eines Prozesses vor Gericht eine andere Sprache sprechen. Das uneingeschränkte Recht auf einen Dolmetscher wurde nichtsdestotrotz aus dem ursprünglichen Entwurf der Europäischen Kommission herausgestrichen. Auch ein Pflichtverteidiger im Ausland ist nicht vorgesehen. Der Rechtswissenschaftler Daniel Rohlff meint dazu: "Es liegt auf der Hand, daß derjenige, der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wird, vielfach auf die Hilfe eines Dolmetschers angewiesen ist. Der Europäische Haftbefehl begnügt sich mit dem Hinweis, daß die Beiziehung eines Dolmetschers sich nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des Vollstreckungsstaates bestimmt." Im Klartext heißt das: Einen Dolmetscher bekommt man möglicherweise nur dann, wenn es in demjenigen EU-Land, in das man ausgeliefert wird, rechtlich vorgesehen ist.

Auch die Vermögenswerte eines Verdächtigen können ohne weiteres beschlagnahmt werden auf die bloße Vermutung hin, dieses Vermögen stamme aus einer Straftat. In einem internen Papier der EU über die justizielle Zusammenarbeit in Schengen als "fester Bestandteil der EU Verträge" steht außerdem Folgendes geschrieben: "Was die Vollstreckung von Strafurteilen und anderen Gerichtsentscheidungen anbelangt, so soll sichergestellt werden, daß Gerichtsbeschlüsse aus einem Mitgliedstaat in der gesamten EU durchgesetzt werden - dazu gehören beispielsweise die Verhängung von Geldstrafen, die Beschlagnahmung von Vermögen oder bei Straftätern der Entzug bestimmter Rechte." Diese Maßnahmen kann das ausländische Gericht bereits bei der Erstellung des EU-Haftbefehls beantragen.

Das sind aber noch nicht alle Fakten. Der Europäische Haftbefehl kann prinzipiell auch auf Straftaten angewandt werden, die vor der Ratifizierung (1.1.2004) begangen wurden - es sei denn, es gibt anders lautende Bestimmungen, wie etwa in Österreich. Man kann den Haftbefehl außerdem nicht nur auf die 32 angeführten Delikte anwenden, sondern auch auf jede andere Straftat, wenn der Delinquent in einem Mitgliedsstaat rechtskräftig zu einer Haftstrafe von mindestens vier Monaten verurteilt wurde, oder wenn eine vorläufige Entscheidung zur Festnahme ergangen ist und auf die Straftat mindestens ein Jahr Freiheitsentzug steht.

Was ist Cyber-Kriminialität?

Es ist nun wichtig, aus der Liste der 32 aufgeführten Straftaten jene herauszufiltern, die auch für jeden anständigen Bürger problematisch werden können. Da gibt es beispielsweise die Straftaten des Terrorismus und der Korruption, die selbst laut Rechtsbüchern sehr dehnbare Begriffe sind, welche in den Strafgesetzbüchern der 25 EU-Mitgliedstatten unterschiedlich definiert werden. Gerade der scheinbar eindeutige Straftatbestand des Terrorismus - von politischer Seite meist als Hauptursache für die Einführung des Europäischen Haftbefehls angepriesen - ist begrifflich nicht eindeutig geklärt. Die Teilnahme an einer politischen, regierungskritischen Demonstration kann etwa in der Türkei (wenn sie der EU beitritt) und in Slowenien als "terroristischer Umsturzversuch" gewertet werden. Dort gilt öffentliche Kritik an der Regierung nämlich als Strafdelikt.

Es ist zum jetzigen Zeitpunkt fraglich, ob man auch die Haft in einem dieser Länder verbüßen müßte, wie es von einigen Leuten befürchtet wird. Manches deutet darauf hin. So hat die EU-Kommission dem finanziell armen Litauen bereits 30 Millionen Euro als Soforthilfe zur Verfügung gestellt, um die Haftkapazitäten des Landes kurzfristig zu verdreifachen. Prinzipiell ist aber in Deutschland und Österreich die Möglichkeit einer Rückführung ins Heimatland vorgesehen (siehe Länder-Kasten). Auch bei der Umweltkriminalität ist weitgehend unbestimmt, welche Straftaten genau damit gemeint sind.

Bei manchen Straftatbeständen ist selbst der Rechtsstatus ein Problem. So fällt die Produktpiraterie laut dem ehemaligen österreichischen Justizminister Dieter Böhmdorfer zur Gänze ins Privatrecht, ist also (zumindest in Österreich) nicht Sache des Strafrechts. Auch der interessante Begriff der Cyberkriminalität, bei dem es sich um ein aus rechtlicher Sicht bisher unbekanntes Delikt handelt, fällt eigentlich ins Zivil- und nicht ins Strafrecht, wie Rechtsexperten zugeben. Betroffen ist nahezu jeder, der sich einmal etwas ohne Bezahlung vom Internet heruntergeladen hat. Daraus ist ersichtlich, daß der Europäische Haftbefehl nicht nur gegen die Schwerkriminellen vorgeht - jeder Bürger der EU muß künftig bangen, etwas Verbotenes getan zu haben.

Bei Delikten wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kritisieren Rechtsexperten ebenfalls die Verschwommenheit der Begriffe. Fallen etwa Schotten-, Ostfriesen- oder Österreicherwitze unter Fremdenfeindlichkeit? Es wäre tatsächlich möglich.
Der Straftatbestand der Fälschung von Zahlungsmitteln kann für Regionalwährungsherausgeber Probleme bringen. Und illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen könnte bei Flohmarktbetreibern oder Ebay-Verkäufern zu einer potentiellen Straftat führen; für manche ‚Ebayer' ist Produktpiraterie (wie Sie laut Medienberichten bei Ebay -Verkäufern durchaus vorkommt) ebenfalls eine Gefahr. Die Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt schließlich könnte das Kirchenasyl, wie es etwa in Spanien praktiziert wird, beenden. Es verwundert nicht, daß die Juristin Sabine Grunser wie viele andere Rechtsexperten der Meinung ist, die vagen Begriffsbestimmungen mache "die Feststellung, ob es sich um eine derartige Straftat handelt, äußerst unsicher". Weil die Delikte nicht genau definiert sind, wird "der Auslegung Tür und Tor geöffnet", wie der Rechtswissenschaftler Nikolaus Seitz anmerkt. Und genau hier liegt das Hauptproblem des Europäischen Haftbefehls - in seiner Willkür.

Der Spiegel hält in einem am 8. Juli 2003 erschienen Artikel fest: "Was bei Terroristen oder Nazi-Tätern sicher begrüßenswert wäre, hätte in der europäischen Wirklichkeit eine Menge unerwünschter Nebenwirkungen. Jeder EU-Bürger sähe sich möglichen Freiheitseingriffen aus den bald 25 Mitgliedstaaten ausgesetzt - wo er doch normalerweise selbst die Strafrechtsordnung seines eigenen Landes nur im Ansatz kennt."
Laut dem neutral und keineswegs EU-kritisch geschriebenen Rechtsbuch Der Europäische Haftbefehl von Daniel Rohlff wurde dessen ursprüngliche Ziel, nämlich das Auslieferungsverfahren effektiver zu gestalten, nicht erreicht. Außerdem mache "die Globalisierung des Verbrechens" nach wie vor "ein Ausweichen der Täter in außereuropäische Länder möglich, in denen die Erleichterungen des Europäischen Haftbefehls nicht greifen."

Verletzung von Grund- und Menschenrechten?

Der europäische Haftbefehl (EuHB) führte auch bei den offiziellen Stellen zu er(n)sten Reaktionen. DasUN- Flüchtlingskommissariat UNHCR intervenierte bereits sehr früh - am 1. Oktober 2001 - und wies "auf die Gefahr hin, daß Flüchtlinge und Asylsuchende durch eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat ihren Status und die daraus resultierenden Rechte verlieren".

Sorgen sollte man sich aber auch um die Grund- und Menschenrechte sowie die Gültigkeit der Verfassung machen. Auf diesen Aspekt weißt der Rechtswissenschaftler Rohlff hin: "Zu kritisieren ist, daß der Gesamtkomplex grund- und menschenrechtlicher Vorbehalte nicht ausdrücklich geregelt wurde. (...) Direkte Hinweise auf die Geltung von Grund- und Menschenrechten finden sich zwar in den Erwägungsgründen, sie bleiben aber in einem Maße vage, daß weiterhin Diskussionsbedarf besteht."

Über Grund- und Menschenrechte besteht also Diskussionsbedarf, und es besteht durchaus die Möglichkeit, daß sich der Europäische Haftbefehl über Menschenrechte und staatliche Grundrechte hinwegsetzen wird. So weist auch das UNHCR darauf hin, "die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention soll nicht lediglich in der Begründung, sondern auch im Rahmenbeschluß selbst klargestellt werden." Dies sei "auch im Hinblick auf die Tatsache wichtig, daß der Erweiterungsprozeß der Europäischen Union auch Beitrittskandidaten (oder potentielle Beitrittskandidaten) umfaßt, in denen die Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte weniger entwickelt sind."

Im Klartext: In potentiellen Beitrittsländern wie etwa der Türkei (mit deren Einstellung zu den Menschenrechten) hat der Europäische Haftbefehl im Falle eines Beitritts genauso Gültigkeit wie in den übrigen EU-Ländern.