Der Körper weiß genau, was er braucht

Arzt und Patient müssen zu einem völlig neuen Verständnis füreinander gelangen und die Einheit mit ihrem eigenen Körper wiederfinden. Nur so ist unser Gesundheitswesen zu retten. Ein praktischer Arzt teilt hier die Erfahrung seines Berufslebens, damit wir uns nicht mehr als hilflose Opfer fühlen, wenn wir das nächste Mal zum Arzt oder in die Klinik gehen.

"Dir und deiner Familie wünsche ich die Pest an den Hals!" Seit die Gesundheitsreform in Kraft ist, erhält die deutsche Gesundheitsministerin Ulla Schmidt Hunderte solcher Schmähbriefe. Der Stern schrieb in seiner ersten Ausgabe des Jahres 2004: "Die Patienten müssen sich einer noch die da gewesenen Schröpfkur unterziehen. Ob beim Arztbesuch, Medikamentenkauf oder Klinikaufenthalt - überall werden die gesetzlich Krankenversicherten zur Kasse gebeten, erstmals auch Sozialhilfeempfänger, Geringverdiener und chronisch Kranke."

Mit der Reform sollen die Krankenkassen Deutschlands um bis zu zehn Milliarden Euro entlastet werden. Geld, das künftig die Versicherten zu berappen haben. Dabei steigen die bürokratischen Kosten der Kassen ins Uferlose. 1991 hatten diese noch 94 Euro pro Mitglied für die Verwaltung ausgegeben; 2002 waren es bereits 157 Euro.

Kein Wunder, daß die Versicherten auf die Kassen ebenso schlecht zu sprechen sind wie auf die Ärzte, die nun zumindest in Deutschland erst einmal zehn Euro Praxisgebühr verlangen müssen. Für die Medien ist die Gesundheitsreform ein gefundenes Fressen. Emotionen verkaufen sich gut, und wo's ums Geld geht, sind schließlich alle betroffen. Die Mißstimmung zwischen Arzt und Patient wird damit erst recht angeheizt.

"Dieser Keil, der zwischen den Arzt und seinen Patienten getrieben wird, ist gefährlich für unser bereits angeschlagenes Gesundheitssystem, aber auch symptomatisch." Sven Peter Moritz ist selbst Arzt, wenn auch ein ungewöhnlicher. Das hat er mit seinen revolutionären Ansichten über Diabetes bewiesen (ZS 41, Seite 18). Moritz träumt von einem Gesundheitswesen, das nicht länger die Krankheit in den Mittelpunkt stellt, sondern die Gesundheit. Aus diesem Grund sagt der Arzt aus tiefster Überzeugung: "Unser Bewußtsein liegt leider oft im Krieg mit unserem Körper."

Was er damit meint? "Wir sind nicht unser Körper, sondern wir bewohnen ihn bloß. Unser Körper ist ein eigenständiges, intelligentes Wesen, das sehr wohl weiß, wie es sich gesund erhalten muß. Es ist unser Bewußtsein, welches die meisten Krankheiten in einem an sich gesunden Körper auslöst."

Doch die meisten Menschen betrachten ihren Körper als eine Art Maschine, die bei Funktionsstörungen mit äußerer Hilfe repariert werden muß. "Wenn aber der Körper sich grundsätzlich gesund erhalten kann, dann bedeutet dies, daß jede wahre Heilung von innen kommt, von uns selbst", hält Sven Peter Moritz dagegen und fährt fort: "Suchen wir Hilfe von außen - was manchmal notwendig ist -, so müssen wir uns immer bewußt sein, daß dies eine symptomatische Behandlung auf Zeit ist. Deshalb haben wir immer größere Probleme im Gesundheitswesen."

So wünscht sich der Arzt denn auch einen Paradigmenwechsel in der Medizin, fort von einem krankheitszentrierten Modell der Pathogenese (Krankheitsentstehung), hin zu einem gesundheitsbezogenen und sich an den Fähigkeiten des Körpers orientierenden Präventionsmodell. Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe und Streßforscher Aaron Antonovsky prägte hierfür einen eigenen Begriff: die Salutogenese, was soviel bedeutet wie die ‚Entstehung des Heils oder Glücks'.

Die Salutogenese fragt nicht, was uns krank macht, sondern weshalb Menschen trotz widrigster Umstände gesund bleiben. Bin ich bereits krank, soll ich also nicht fragen, welches von außen zugeführte Medikament mich schnellstmöglich wieder gesund macht. Nein, ich muß mich fragen, wie ich meinem Körper dabei helfen kann, seine Selbstheilkräfte wieder zu aktivieren.

"Wir müssen letztlich wieder eine partnerschaftliche Beziehung zu unserem Körper aufbauen", fordert Sven Peter Moritz, "und den ihm innewohnenden Kräften vertrauen."

Heilsamer Schlaf

Diese These unterstützt eine im Oktober 2003 vorgestellte Studie der Universität von Stanford. Dort fanden Forscher heraus, daß Schlafen die Krebsheilung fördert. Während eines gesunden Schlafes schüttet der Körper nämlich die Hormone Melatonin und Cortisol aus. Melatonin beseitigt die freien Radikale im Körper, welche sonst krebsfördernde Zellmutationen auslösen könnten. Cortisol hilft bei der Regulation des Immunsystems und steuert jene ‚Killerzellen', die gegen Tumore wirken. Ob bei Fieber, Grippe, Kopfweh etc. - Schlaf gilt seit jeher als gutes ‚Hausmittel' für alle möglichen Beschwerden. Warum eigentlich?

"Weil der menschliche Geist während des Schlafes vorübergehend den Körper verläßt", erklärt Sven Peter Moritz. "Dann kann sich der Körper am besten regenerieren." Der Arzt lacht: "Für wenige Stunden ist der Körper die Behinderungen los, die unser Bewußtsein ihm dauernd auferlegt."

Manchmal ist es sogar besser, wenn der Körper nicht einmal durch einen Arzt behindert wird. Die Zeit publizierte im November 1994 eine krasse Statistik: Darin wurden nämlich die Todesraten in verschiedenen europäischen Ländern jener Zeit betrachtet, als dort breitangelegte Ärztestreiks stattfanden. Eigentlich hätte man erwartet, daß während der Streiks signifikant mehr Menschen in den Spitälern gestorben wären - doch es trat genau das Gegenteil ein.

Schon der 1939 verstorbene Zürcher Psychiater und ‚Schizophrenievater' Eugen Bleuler schrieb: "Man sollte zu erforschen suchen, ob überhaupt die Anwendung eines Mittels besser ist, als die Natur machen zu lassen."

Die Natur machen lassen bedeutet, der Regenerationskraft des eigenen Körpers zu vertrauen. Deshalb wenden sich immer mehr Menschen den Naturheilverfahren zu, wo Krankheitssymptome "als aktive Funktionsäußerungen des Organismus gedeutet werden, die gelingend oder mißlingend auf Selbstheilung zielen" (Zitat des Robert Koch Instituts). "Dieser Trend ist wichtig, aber wir dürfen nicht den gleichen Fehler wie bei der Schulmedizin machen, indem wir die Heilung nun einfach von pflanzlichen Mitteln erwarten", mahnt Sven Peter Moritz. Der Arzt fordert von seinen Patienten, daß sie mit ihrem Körper eine aktive Partnerschaft eingehen. "Wir sollten mit unserem Körper zusammen bewußt den Weg zur Gesundheit beschreiten. Wir müssen nicht unbedingt etwas für ihn tun - denn der Körper weiß genau, was er braucht -, sondern wir müssen es gemeinsam mit ihm tun", betont Sven Peter Moritz. "Unser Gesundheitssystem und unsere Gesellschaft schieben sich trennend zwischen diesen Kontakt des Menschen zu seinem Körper; das ist das grundlegende Problem."

Mens sana in corpore sano

Wer mit seinem Körper in Freundschaft und Partnerschaft lebt, kann diesen bei seiner Selbstheilung aktiv unterstützen. Unser Bewußtsein besitzt nämlich nicht nur die Macht, unseren Körper zu schwächen, sondern auch, ihn zu stärken.

Besonders deutlich wird dies bei den Placebos: Knapp ein Drittel aller Patienten, die an vergleichenden klinischen Studien teilnehmen, sprechen auf Scheinpräparate ohne Wirkstoff an. Über die Wirkmechanismen dieser Placebo-Effekte kann die Medizin bis heute nur spekulieren. Eines aber ist klar: Die Wirksamkeit der Placebos ist abhängig vom Glauben des Patienten und der Hoffnung gebenden Zuwendung des Arztes.

Wie Die Welt in einem am 29. September 2003 publizierten Artikel mitteilte, haben neue Untersuchungen an der Universität Hamburg und am Berliner Uni-Klinikum Charité die Kraft der heilsamen Psychologie verdeutlicht. "Der Placebo-Effekt kann demnach sogar durch Lernexperimente, die so genannte klassische Konditionierung, systematisch aufgebaut werden", steht in der Welt. Laut der Psychologin Regine Klinger spielen positive Erfahrungen, die ein Patient mit einem Medikament bereits gemacht hat, bei der Wirkung von Placebos eine große Rolle. Konkret: Placebos wirken stärker und länger, je häufiger der Patient erfolgreich mit dem Scheinpräparat behandelt wurde.

Aber was genau wird denn durch Placebos gestärkt? Allein der Glaube. Und dieser wachsende Glaube gibt dem Körper die Kraft, sich immer besser zu regenerieren. Was uns zur Frage bringt, wer denn nun gesünder ist - der Optimist oder der Pessimist? Amerikanische Forscher haben hierfür die offensichtliche Antwort gefunden: Richard Davidson und sein Team von der Universität von Wisconsin wiesen im letzten Jahr nach, daß optimistische Senioren ein deutlich stärkeres Immunsystem besitzen als ihre griesgrämigen Altersgenossen.

Ob jemand eine halbgefüllte Flasche als halbvoll oder halbleer betrachtet, läßt sich auch im Gehirn nachmessen: Schöne Gedanken und Erinnerungen aktivieren den linken präfontalen Cortex, negative Emotionen stimulieren den rechten präfontalen Cortex. Dabei wird bei vielen Testpersonen auch eine längerfristige Bevorzugung einer der beiden Gemütsstimmungen deutlich: Bei den Pessimisten übertrifft die Reaktion des aktiven, rechten Präfontalcortex auf negative Emotionen jene des linken auf positive deutlich - bei den Optimisten ist dies umgekehrt. Also findet auch hier eine Art klassischer Konditionierung statt.

Die Industriegesellschaft konditioniert uns leider häufig auf Pessimismus. Das spiegelt sich auch in unserem Verhältnis zur Gesundheit wider. Als 14- bis 25jährige Westdeutsche zum Stichwort ‚Gesundheit' befragt wurden, waren sechs der elf häufigsten Assoziationen negativ belegt, nämlich: Arzt, Krankheit, Schmerzen, Arznei, Krankenhaus, Medizin. Positive Assoziationen waren: Bewegung, Vitamine, Leben, Ernährung, Sport.

Gleichaltrige junge Menschen auf den Philippinen verbanden mit dem Wort ‚Gesundheit' in ihren elf häufigsten Assoziationen hingegen ausnahmslos positive Begriffe: Körper, stark, gesund, Glück, gut, Seele/Geist, Ernährung, Energie, Sauberkeit, Pflege, jung.

Gesundes Selbstvertrauen, so eine medizinische Fachzeitschrift, ist das wohl billigste Lebenselixier. Im British Medical Journal stand zu lesen: "Wer selbstbewußt ist, lebt gesünder und länger als der Selbstzweifler. Zu diesem Ergebnis kommt der britische Forscher Sir Michael Marmot. Menschen mit geringem Selbstbewußtsein treiben weniger Sport, achten weniger auf gute Ernährung und haben daher ein höheres Risiko für Übergewicht und Herzkrankheiten. Marmot verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie, der zufolge Oscar-Preisträger im Schnitt vier Jahre länger leben als Nominierte, die die begehrte Trophäe nicht erhielten."

Wenn positive Gefühle den Körper stärken, so müssen ihn negative Gefühle schwächen. Auch das ist wissenschaftlich bewiesen. So kam eine im Dezember 2003 veröffentlichte Studie von der Rush Universität in Chicago zum Schluß, daß seelische Not wie Depressionen oder Angst das Alzheimerrisiko verdoppelt.

Angst löst in unserem Körper und Gehirn biologische Überlebensreflexe aus, setzt sie gleichsam unter Strom. Angst zwingt den Körper, alles aufzubieten, um einen Ausweg aus der bedrohlichen Situation zu finden, er wird zu Höchstleistungen angespornt. So arbeitet das Gehirn bei Menschen, die unter regelmäßigen Angstzuständen leiden, sehr viel rascher als bei Menschen, die nicht ängstlich sind.

Ökonomisch betrachtet sind ängstliche Menschen also im Interesse des Arbeitgebers (wie zynisch!). Angst vor Jobverlust und mangelndes Selbstvertrauen stimuliert nämlich die Arbeitsleistung. So machen die ungefähr acht Prozent der Männer und 14 Prozent aller Frauen, die unter regelmäßigen Angstzuständen leiden, vergleichbar rascher Karriere als ihre Kollegen, die keine Angst kennen.

Doch Angst setzt den Körper unter Streß, was das Immunsystem schwächt. Wie heißt es doch so treffend: Erst verlieren die Menschen ihre Gesundheit, weil sie dem Geld nachjagen. Und dann verlieren sie ihr Geld, weil sie ihrer Gesundheit nachjagen müssen.